Tödliche Begierden, Jürg Mosimann (Kurzvorschau)

Page 1

JÜRG MOSIMANN

TÖDLICHE

BEGIERDEN
MANCINI ÜBERNIMMT

JÜRG MOSIMANN

TÖDLICHE BEGIERDEN

MANCINI ÜBERNIMMT

IMPRESSUM

Alle Angaben in diesem Buch wurden vom Autor nach bestem Wissen und Gewissen erstellt und von ihm und dem Verlag mit Sorgfalt geprüft. Inhaltli che Fehler sind dennoch nicht auszuschliessen. Daher erfolgen alle Angaben ohne Gewähr. Weder Autor noch Verlag übernehmen Verantwortung für etwaige Unstimmigkeiten.

Alle Rechte vorbehalten, einschliesslich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe.

© 2022 Weber Verlag AG, CH-3645 Thun / Gwatt

IDEE UND TEXT

Jürg Mosimann, CH-3072 Ostermundigen

GESTALTUNG / SATZ

Celine Lanz, Weber Verlag AG

UMSCHLAGGESTALTUNG

Sonja Berger, Weber Verlag AG

LEKTORAT

Madeleine Hadorn, Weber Verlag AG

KORREKTORAT

Heinz Zürcher, Steffisburg

Der Weber Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.

ISBN 978-3-03818-142-2

www.weberverlag.ch

neutral Drucksache No. 01-12-409142 – www.myclimate.org © myclimate – The Climate Protection Partnership

Wenn Martina Mancini ungestört sein wollte, setzte sie sich auf die Terrasse ihrer kleinen Dachwohnung oder begab sich in den Schadaupark. Die herrliche Anlage am unteren Ende des Thunersees mit dem denkmalgeschützten, märchenhaften Schloss, dem alten Baumbestand, den zahlreichen Blumen- und Pflanzensorten und dem atemberaubenden Bergpanorama im Hintergrund war längst zu ihrem Kraftort geworden. Hier fand sie neue Energie. Hier erholte sie sich nötigenfalls von den teils schrecklichen Bildern des Verbrechens und von den vielen unschönen Ereignissen, die zum Polizeiberuf gehörten wie der Mönch zu Eiger und Jungfrau.

Verbrecher halten sich bekanntlich nicht an Grenzen und behördlich verordnete Zuständigkeiten. Sie richten sich weder zeitlich und örtlich und schon gar nicht nach den unmittelbaren personellen Verfügbarkeiten und Befind lichkeiten der polizeilichen Ermittler. War es dieses «Ich-weiss-nicht-wasmich-heute-erwartet-Gefühl», das Martina Mancini nach fünfzehn Dienstjahren – davon ein gutes halbes Dutzend bei der Kriminalpolizei – noch immer als fordernd und interessant empfand? In dieser kurzen, aber intensi ven Zeit hatte die 39-Jährige schon in einigen teils kniffligen Fällen mitgearbeitet und dabei manchen Gesetzesbrecher hinter Schloss und Riegel gebracht.

Martina war keine Teamplayerin. Das war sie auch nie gewesen. Schon als Kind spielte sie am liebsten allein. Streitereien beim Seilspringen, das Umsorgen von Puppen oder die häufigen Zwängereien über Mein und Dein im Sandkasten waren ihr ein Gräuel. Im Polizeidienst sind Sologänge hingegen verpönt. Trotzdem arbeitete sie lieber allein und nach ihren Methoden oder, wenn nötig, dann am liebsten mit ausgewählten Kolleginnen und Kollegen. Natürlich achtete sie bei ihren Ermittlungen stets darauf, die geltende Gesetz gebung zu respektieren – von einigen situativ begründeten Ausnahmen abgesehen. Der Erfolg hatte ihr bis jetzt recht gegeben. Kein Wunder also, dass Martina in ihrem beruflichen Umfeld den Ruf einer eigenwilligen, schlitzohrigen und hartnäckigen, aber gradlinigen Ermittlerin hatte. Diese Charaktereigenschaften und ihre Fahndungserfolge hatten dazu geführt, dass man ausgerechnet sie für die Besetzung einer Sonderstelle innerhalb der Kriminalabteilung ausgesucht hatte. Aus ihr wurde eine Art Springer, losgelöst von jeglicher Einbindung in ein spezielles Dezernat. Gemäss ihrem Stellen beschrieb war sie polyvalent einsetzbar und kam meist dort zum Einsatz, wo gerade Not am Mann oder an der Frau war. Ihre Aufträge bekam sie ausschliesslich von Alexander Baumberger, dem zuweilen leicht cholerischen, aber dennoch kompetenten Chef der Kriminalabteilung, der zugleich auch ihr direkter Vorgesetzter war.

Baumberger war es auch gewesen, der die Idee zur Schaffung dieser neuarti gen Stelle eingebracht und sich in der Chefetage zur Frage nach der personellen Besetzung für Martina Mancini stark gemacht hatte. Dies, weil er ihre Art zu arbeiten kannte, und weil er sie für charakterfest hielt, indem er ihr zutraute,

7

ohne ständige Beobachtung durch einen Vorgesetzten seriös und selbstständig einen guten Job zu machen. Vielleicht auch wegen ihrer Fähigkeit, gewisse Dinge notfalls auf recht unkonventionellem Weg anzugehen; quer zu denken. Er war es also, der den Entscheidungsträgern die Vorteile eines Springers oder eben einer Springerin am Beispiel der französischen Gendarmerie nationale1 vor Augen geführt hatte. Dort hat sich das Springermodell seit ein paar Jahren als feste Institution bewährt. Und so wurde diese Variante vor zwei Jahren –anfänglich als Pilotversuch – in Bern gestartet. Es war voraussehbar und nach vollziehbar gewesen, dass Neuerungen und gewagte Experimente wie dieses zu teils angeregten Diskussionen und zu Missgunst führen würden. Es war vor allem Fahndungschef Günter Pfahl, der Mancini ihren «Libero-Status», wie er es nannte, missgönnte. Er war es auch, der im Kollegenkreis fortan keine Mög lichkeit ausliess, Martinas Sonderstellung in Zweifel zu ziehen. Er wartete jeden Tag auf einen Fauxpas von ihr. Bisher allerdings vergeblich. Und Pfahl war es auch gewesen, der hinter dem neuartigen Experiment eine Liaison zwischen Kripochef Baumberger und Martina vermutete und diese gerüchteweise in die Welt setzte. Doch alles Schlechtmachen und in Zweifelziehen half ihm nichts: Das Springer-Modell hatte die Bewährungsprobe mit Bravour bestanden. Seit ihrer Einführung hatte Martina mehreren Dezernaten in unterschiedlich gela gerten Fällen und in fast allen Regionen des Kantons erfolgreiche Unterstüt zungsarbeit geleistet.

Mit der von ganz oben abgesegneten definitiven Beibehaltung dieses Ein satzmoduls hatte Martina auch ihren Wohn- und Arbeitsort gewechselt. Sie war aus Gründen, die sie nicht einmal ihrem Chef offenbarte, von Bern nach Thun gezogen. Ihr Büro befand sich im grossen Gebäudekomplex nahe der ehemaligen Partymeile auf dem Thuner Selveareal, wo nebst der Einsatz zentrale auch polizeifremde Verwaltungszweige untergebracht waren. Eine Etage unter Martinas Arbeitsplatz befand sich ein grosser Aufenthaltsraum mit einem Dutzend Tischen, einem Getränkeautomaten mit verschiedenen alkoholfreien Wässerchen und einem Verpflegungsautomat, gefüllt mit Snacks, Süsswaren und Sandwichs. Die grosse Kaffeemaschine gleich ne ben dem Eingang erwies sich nicht nur als meistbeanspruchtes Gerät, sondern auch als recht reparaturanfällig. Wie an allen Arbeitsplätzen war das Rauchen auch hier nicht erlaubt. Für Nikotinhörige war im Erdgeschoss ein mit einem wirkungsvollen Luftreinigungssystem ausgerüstetes Fumoir ein gerichtet worden.

1 Die Gendarmerie nationale ist eine Polizeitruppe in Frankreich. Seit ihrer Gründung war sie Teil der französischen Streitkräfte und daher im Unterschied zu den übrigen französischen Polizeikräften dem Verteidigungsministerium unterstellt.

Seit dem 1. Januar 2009 ist sie zugleich dem Innenministerium unterstellt. Die Gendarmerie übernimmt polizeiliche Aufgaben im ländlichen Raum, während die Police nationale für die Städte zuständig ist. Beide Wachkörper sind voneinander unabhängig.

8

Martinas Wunsch, eine Wohnung in der Thuner Altstadt beziehen zu können, war erst nach längerem Suchen in Erfüllung gegangen. In einem altehrwürdigen Haus in der Oberen Hauptgasse hatte sie eine kleine Dachwohnung gefunden. Eine in die Jahre gekommene, schon etwas ausgetretene Holztreppe führte hinauf zu ih rem kleinen Reich mit zwei Zimmern, Küche, Badezimmer und einer kleinen Dachterrasse. Im Erdgeschoss des im 13. Jahrhundert erbauten Hauses betrieb dessen Besitzer, der Juwelier Jakob Horovitz, ein Goldschmiedeatelier und ein kleines Ladenlokal. Er liess gerne durchblicken, dass er mit dem am 3. März 1910 in Frankfurt/Main verstorbenen Rabbiner Markus Horovitz, Mitbegründer der Wochenzeitschrift «Die Jüdische Presse», über sieben Ecken verwandt war. Über sei nem Ladengeschäft bewohnte Horovitz mit seiner Frau Johanna eine Vierzimmer wohnung. Die beiden hatten Martina kurz nach deren Einzug zu einem Glas Wein eingeladen und sie auf eine fast aristokratisch anmutende Art willkommen geheissen. Bei dieser Gelegenheit fragten sie Martina beiläufig, ob sie in einer Beziehung lebe. Eigentlich geht euch das einen feuchten Kehricht an, dachte Martina, liess sich aber nichts anmerken. Als sie die Frage des Ehepaars mit einem freundlichen Nein beantwortete, meinte sie einen fast synchron erfolgten Stossseufzer der Erleichterung von Herrn und Frau Juwelier zu hören. In diesem Augenblick war ihr einmal mehr bewusst geworden, dass sie schon seit längerer Zeit ohne feste Beziehung durchs Leben ging. Ihre Liaison mit einem Berufskollegen aus der Verkehrsabteilung hatte sie schon vor längerer Zeit aufgekündigt. Unregelmässiger Dienst, unterschiedliche Auffassungen in Sachen Arbeitsmoral und ungleiche Vorstellungen über Auf- und Abgaben in einem Zwei-Personen-Haushalt hatten immer wieder zu Meinungsverschiedenheiten und zu Streitereien geführt. Und als er sie mit einer temperamentvol len Schönheit betrog, zog Martina einen Schlussstrich. Sie liebte keine halben Sachen. Besser allein und zufrieden als unglücklich zu zweit, hatte sie sich damals gesagt und das Feld ohne grosses Herzweh ihrer Nachfolgerin überlassen. Die Beziehung zerbrach nach nicht einmal einem Jahr.

Nachdem die Beziehungsfrage geklärt war, gab Martina dem Vermieterpaar auf die entsprechende Frage zwar den Arbeitgeber, nicht aber ihre eigentliche Tätigkeit in der Kripo bekannt. Und da war er wieder gewesen, dieser synchrone Stossseufzer. Der Juwelier wirkte sichtlich erleichtert. Eine Mieterin im Haus zu haben, die bei der Polizei arbeitete, wertete Herr Horovitz angesichts seiner ge schäftlichen Tätigkeit offenbar als willkommenen und selbstverständlich unent-

9
«Zu Hause ist man da, wo man sich fallen lassen kann, wo das eine Herz das andere auffängt.»
Sylvia Tubbesing, deutsche Dichterin

geltlichen Schutz vor kriminellen Elementen. Vermutlich als Gegenleistung hat te er grosszügig erklärt, dass Martina jederzeit vorstellig werden dürfe, wenn etwas in der Wohnung nicht funktioniere oder wenn sie ein Bedürfnis auf diese oder jene Modernisierung – namentlich in der Küche – habe. Man sei sich be wusst, dass sie nicht mehr den aktuellsten Ansprüchen genüge. Andererseits sei der Mietzins entsprechend moderat. Tatsächlich war die Küche alles andere als modern. Doch das störte Martina nicht im Geringsten. Ihr neues Heim überzeugte mit sehr viel Cachet. Das gefiel ihr. Die Architektur der Wohnung mit den Sichtbalken an den Decken strahlte Geborgenheit und Wärme aus. Ein Zimmer diente ihr als Schlafraum, das andere als Wohnzimmer mit integriertem Büro. Sehr gerne sass Martina auf der kleinen Dachterrasse und las ein Buch oder schaute einfach nur in den Sternenhimmel. Für ihr Auto, einen Fiat 500 Rockstar in Gelato-Weiss, hatte sie im neuen Parkhaus im Schlossberg einen Standplatz in Dauermiete. Für dienstliche Fahrten stand ihr ein Dienstwagen, Typ BMW M4, zur Verfügung, der in der Einstellhalle im Bürogebäude seinen Platz hatte. Thun war ihr in kurzer Zeit ans Herz gewachsen. Auch ihr Bekanntenkreis konnte sich mittlerweile sehen lassen. Der Marktbesuch am Samstag im Bälliz gehörte schon fast zum festen Bestandteil von Martinas Wochenplanung. Die vielen kleinen Bars, Restaurants und Geschäfte hatten es ihr besonders ange tan; namentlich das «Piccola». Im kleinen, aber schmucken Laden für italieni sche Spezialitäten verweilte und kaufte sie regelmässig ein. Martinas Vorliebe für die südländische Küche und die italienischen Produkte kam nicht von ungefähr. Ihr Vater, Sohn einer kinderreichen Familie aus Ca tanzaro, der Hauptstadt Kalabriens, im südlichsten Teil Italiens, war zu Beginn der sechziger Jahre als italienischer Gastarbeiter in die Schweiz gekommen. Später hatte er eine Bernerin aus gutem Hause mit Sinn für Kultur und Sozia les kennen und lieben gelernt. In deren Familie war die Beziehung erwartungs gemäss auf wenig Begeisterung gestossen. Man hatte sich für die Tochter des Hauses einen standesgemässen Partner vorgestellt. Doch die Liebe zwischen den beiden trotzte dem Standesdünkel. In letzter Konsequenz waren die Eltern sogar versucht gewesen, ihre Tochter zu enterben, was allerdings rechtlich trotz ihrer gesellschaftlichen Stellung und versuchter, finanziell motivierter Überzeugungsarbeit beim Notar nicht möglich gewesen war. Heute schätzt sich Martina glücklich, einer filmreifen Romanze zwischen ei nem bescheidenen Bauarbeiter aus Kalabrien und einer hochwohlgeborenen Bernerin zu entstammen. Dass sie so nebenbei auch die italienische Sprache vermittelt bekam, hatte sich im Berufsleben schon oft als Vorteil erwiesen. Aber noch fast etwas mehr freute sie sich darüber, dass trotz ihres unschweize risch klingenden Namens fast niemand über ihre ursprüngliche Herkunft Bescheid wusste. Und es gefiel ihr, dass der italienische Einfluss auf die Alltags kultur in der Schweiz im Laufe der Jahre in vielen Bereichen sicht- und erkennbar geworden war. Der Bruder von Martinas Vater, Lorenzo, hatte sich vor vielen Jahren in Modena niedergelassen, wo er sich im Lauf der Jahre als

10

Weinbauer und Produzent von Aceto Balsamico Tradizionale (ABT) einen Na men gemacht hat. Noch heute schickte er Martina jedes Jahr zu Weihnachten ein Fläschchen seines kostbaren Gutes. Etwas, das sie stets zu schätzen wusste. Dafür hätte sie im Handel für die über 25 Jahre in Holzfässern aus Eiche, Edel kastanie, Vogelkirsche, Esche und Maulbeere gereifte Sorte aus Modena über hundert Franken bezahlen müssen – für einen Deziliter, versteht sich.

William Hazlitt (1778–1830), englischer Essayist

Martina war zur Erledigung ihrer besonderen Aufgaben nicht auf sich allein gestellt. Zur Unterstützung und zur Erledigung administrativer Arbeiten hatte ihr der Kripochef Fritz Fischer zugeteilt. Diesen Kollegen hatte sich Martina ganz bewusst ausgewählt und ihrem Vorgesetzten als Wunschkandi daten schmackhaft gemacht. Deshalb berührte es sie auch nicht im Gerings ten, wenn Kolleginnen und Kollegen in ihrer Gegenwart über Fischers zu rückhaltende, ja manchmal fast unbeholfen wirkende Wesensart Sprüche klopften. Sie hatte schon mehrmals mit ihm zu tun gehabt und ihn als fried fertigen, loyalen, einsatzfreudigen und vertrauensvollen Kollegen kennenge lernt. Klar, Fischer hatte so seine Macken, beispielsweise sein Faible für ein ausgefallenes Outfit. Seine farbigen Jacken, uni oder gemustert, seine oftmals grellbunten Hemden, die extravaganten Schuhe oder die mehrfarbigen Socken hatten anfänglich für Gesprächsstoff gesorgt. Manche Kollegen glaubten zu wissen, dass Fritz dadurch fehlendes Selbstvertrauen kompensieren müsste. Doch all diejenigen, die schon mit Fischer zu tun gehabt hatten, wurden eines Besseren belehrt. Nein, Fritz war kein höllischer Draufgänger. Keiner, der weder Tod noch Teufel fürchtete. Er war das, was man landläufig einen guten und hilfsbereiten Kollegen nennt. Einen, auf dessen Wort man sich verlassen konnte. Mit seinen IT-Kenntnissen hatte er sich im Kollegen kreis Respekt verschafft. Er liebte knifflige Onlinerecherchen, zum Beispiel über das Vor- und Privatleben von Tatverdächtigen, über alles. Dabei forderte er die Suchmaschinen und speziellen Programme im Polizeicomputer bis an die Grenzen ihrer Möglichkeiten. «Gott weiss alles, der Computer weiss mehr», war Fischers Devise.

Zu denjenigen Menschen in Martinas beruflichem Umfeld, die mehr konnten und wussten, als man vermuten könnte, gehörte auch Judith Laroche. Die routinierte Mittfünfzigerin war der Dreh- und Angelpunkt im Kripose kretariat in Bern. Sie hatte zwar den Ruf einer zuverlässig arbeitenden Kol legin, wurde aber hinter vorgehaltener Hand despektierlich als «alternde

11
«Das Vorurteil ist das Kind der Unwissenheit.»

Vorzimmertippse» betitelt. Einige Kollegen bezeichneten sie sogar als un nahbar, gefühlskalt und humorlos. Doch Judith Laroche stand über all die sen Vorurteilen. Für Martina schien sie mehr übrig zu haben als für viele andere. Vielleicht, weil die Mancini eine ähnliche Wesensart verkörperte. Martina hatte von Judith vernommen, dass die Kripoleitung beabsichtigte, sie als unterstützende Kraft in einem noch ungelösten Gewaltverbrechen beizuziehen. Dabei gehe es in erster Linie darum, einen flüchtigen Mörder endlich dingfest zu machen. Der Mann wurde verdächtigt, vor zwei Wochen die 73-jährige, alleinste hende, sehr vermögende Lilou Girard-Moreau in ihrem Haus in Muri bei Bern ermordet zu haben. Die gebürtige Französin war als engagierte Tierliebhaberin bekannt gewesen. In der Bevölkerung der Berner Agglomerationsgemeinde war die Nachricht vom gewaltsamen Tod der Frau mit grosser Betroffenheit aufge nommen worden. Der aktuelle Ermittlungsstand liess den Schluss zu, dass die Tat mutmasslich von zwei Männern ausgeübt worden war. Einer von ihnen war kurz nach der Tat festgenommen worden; er hatte zwischenzeitlich ein vollumfängli ches Geständnis abgelegt. Von seinem Komplizen fehlte trotz intensiver Ermitt lungen seitens der Fahndung und der Kollegen im Dezernat Leib und Leben jede Spur. Es war nicht auszuschliessen, dass er sich ins Ausland abgesetzt hatte. Der inhaftierte Mittäter hatte ausgesagt, er habe die Frau lediglich unter einem Vor wand aus dem Haus gelockt, damit sein Komplize, von dem er nur wisse, dass er Chris heisse, ins Haus eindringen und Geld stehlen konnte. Die Frau sei aber zu früh zurück ins Haus gekommen. Dort habe dieser Chris die Frau getötet. All das hatte Martina vorerst von Judith Laroche vernommen. Von offizieller Seite war man noch nicht an sie herangetreten. Doch Martina hatte wiederum von Judith erfahren, dass der altgediente und höchst erfahrene Chef im Dezernat Leib und Leben, Ernst Wüthrich, aus gesundheitlichen Gründen etwas kürzertreten musste und nun Fahndungschef Pfahl für die Leitung und Koordination der Er mittlungen zuständig war. Bisher habe aber nichts Zählbares herausgeschaut. Deshalb sei Kripochef Baumberger auf die Idee gekommen, die «Springerin aus dem Oberland», wie er Martina scherzhaft auch zu betiteln pflegte, beizuziehen.

«Polizeistunde. Warum nach Hause gehen, wenn man sich hier daheim fühlt?»

Heute Freitag wollte Martina etwas früher Feierabend machen und sich in ihrer Lieblingsbeiz am Mühleplatz einen Aperitif genehmigen. Seit Anfang der Neun zigerjahre galt der Platz, direkt an der Aare zwischen dem Bälliz und der Thuner Altstadt gelegen, als der Treffpunkt schlechthin. Zahlreiche Cafés und Restau rants, die Abtreppungen gegen das Aareufer hin und eine Skulptur des am

12
Walter Ludin (*1945), Schweizer Journalist, Redakteur, Aphoristiker und Buchautor

14. Juni 2021 verstorbenen Solothurner Künstlers Schang Hutter gaben dem Platz sein unverwechselbares Gesicht. Auf Martinas Weg klingelte ihr Handy: Ihr Chef wollte sie offenbar noch so kurz vor dem Wochenende sprechen. Man soll den Tag erst nach dem mutmasslich letzten Handyanruf verfluchen, ging es ihr durch den Kopf und sie stellte sich etwas abseits der vielen Leute, die hier zirkulierten. «Grüss Gott, Chef. Was verschafft mir die Ehre?», witzelte Martina. «Guten Abend Martina. Ich hoffe nicht, dass ich störe. Ich habe nämlich ver nommen, dass du freitags meist ein bisschen früher den Laden dichtzumachen pflegst und dich ins Apéro begibst – was ich übrigens als vorbildlichen Akt zur Förderung der Lebensqualität zu bezeichnen pflege. Aber du weisst ja, dass es Mitarbeitende gibt, die sich mit deinem Sonderstatus immer noch ein bisschen schwertun», sagte Baumberger.

«Erstens mache ich mir wegen meines Status’ und der dummen Anmerkungen namentlich eines frustrierten Kollegen längst keine Gedanken mehr. Und zweitens gehe ich nicht nur freitags ins Apéro», antwortete Martina. «Sollte aber dennoch jemand versuchen, ernsthaft an meinem Stuhl zu sägen, wirst du als mein Förderer bestimmt wissen, was du zu tun hast – oder etwa nicht?» Martina hörte lediglich ein leichtes Hüsteln und Räuspern. Sie sah Baumberger buchstäblich vor sich. Sein unentwegtes Lächeln liess ihn sehr sympathisch wirken. Das konnte sich aber schlagartig ändern, wenn es die Situation erfor derte. Vor allem dann, wenn falsch gespielt oder mangelhaft gearbeitet wurde. Sie ahnte, dass Baumbergers Anruf nicht ihren Gepflogenheiten nach Feier abend, sondern dem Tötungsdelikt in Muri geschuldet war. Baumberger liebte es, seine «Springerin aus dem Oberland» mit attraktiven Aufträgen bei Laune zu halten. «Auf was darf ich mich heute freuen?», fragte sie trotzdem schalk haft. «Du wirst mich doch nicht angerufen haben, um mit mir über meine Gewohnheiten am Freitagabend zu plaudern.» Baumberger räusperte sich und sagte: «Nur indirekt, meine Liebe, nur indirekt. Ich habe dir per Mail ein kleines Dossier geschickt, das du dir beim Aperitif zu Gemüte führen kannst. Schau es dir an und lass mich Anfang nächster Woche wissen, was du davon hältst. Nutze das Wochenende und erhol dich gut.» Martina fiel ein Stein vom Herzen. «Bis anfangs nächster Woche», hatte er gesagt. Ihr Freitags-Apéro war zwar nicht infrage gestellt. Dennoch begab sie sich zurück ins Büro. Dort war Kollege Fischer gerade daran, sein Pult aufzu räumen und den Laden dichtzumachen. «Gibt es noch Arbeit?», fragte er er staunt. «Ich habe gehofft, dich in deiner Stammbeiz anzutreffen, damit wir auf das wohlverdiente Wochenende anstossen können.»

«Aufgehoben ist nicht … na, ja … du weisst schon», lachte sie und informierte ihn über den Anruf von Baumberger. Die Mail des Kripochefs enthielt eine rudimentäre Zusammenfassung der bisherigen Ermittlungsergebnisse zum Tö tungsdelikt an der Frau in Muri und zwei Protokolle zu den Einvernahmen des inhaftierten Mittäters namens Alfred Hügli. Martina druckte die Unterlagen aus und legte sie in die Schreibtischschublade. «Das hat Zeit bis Montag», be -

13

stimmte sie lächelnd, klopfte ihrem Kollegen freundschaftlich auf die Schulter und sagte in gespieltem Befehlston: «So … los! … auf! … Ab ins Apéro!» Auf dem Weg dorthin schilderte sie Fischer in groben Zügen den Fall der ermordeten Frau in Muri und machte ihm klar, dass ab Montag die Fahndung nach dem flüchtigen Täter für ihn oberste Priorität haben würde. «Für mich? Wieso für mich? Du hast doch …», stotterte Fischer. Er wirkte sichtlich überfordert und schlug vor, die Sache am Montag im Büro in aller Ruhe zu bereden. Martina quittierte seinen Vorschlag mit einem knappen «Mhm».

Matteo begrüsste Fischer, der dieses Lokal zum ersten Mal besuchte, mit einem freundlichen «Ciao», Martina hingegen mit einem unüberhörbaren «Ciao cara mia, sei la più bella di tutte le belle persone. Come stai?». Die überschwängliche Begrüssung veranlasste viele italienisch sprechende Gäste dazu, neugierig die Köpfe zu drehen, um die angeblich Schönste aller Schönen zu bestaunen. Martinas Antwort auf Matteos Frage, wie es ihr gehe, ging im Küsschen-links-Küsschen-rechts-Ritual völlig unter. Dass er sie mit «Mein Liebling» ansprach, störte sie nicht. Matteo und Martina unterhielten sich zeitweilig gerne auf Italienisch. Einerseits aus Freude an der Sprache, andererseits oftmals auch dann, wenn ihr Gespräch nicht für andere Ohren bestimmt war. Matteo wandte sich an Martinas Begleiter und fragte scherzhaft: «Sei il nuovo fidanzato di Martina?» Fischer hatte die südländische Begrüssungszeremonie mit leichtem Schmunzeln verfolgt, verstand aber nichts von dem, was der Wirt ihn gefragt hatte. «No, è il mio collega di lavoro», antwortete Martina. Der ahnte, was sie gesagt hatte, und bestätigte ihre Antwort mit einem verlegenen Lächeln.

Martinas Lieblingstisch direkt vor dem Tresen war frei, allerdings nicht ganz zufällig. Sie lächelte, entfernte das Täfelchen mit der Aufschrift «Riservato» und setzte sich. Als Fritz ihr gegenüber Platz nehmen wollte, empfahl sie ihm, sich neben sie zu setzen. So konnten beide nicht nur einen Grossteil des Lokals überblicken, sie hatten auch gute Sicht auf das Geschehen vor dem Lokal. «Einmal Polizist, immer Polizist», resümierte Fischer lächelnd.

Max Frisch (15. Mai 1911–4. April 1991), Schweizer Schriftsteller und Architekt

Als die Römer im Jahr 181 vor Christus den weissen Marmor entdeckten, entstand neben der Hafenstadt Luni die heutige Stadt Carrara, Matteos Geburtsstadt. Inzwischen gibt es in der Region gegen 200 und in der apuanischen Alpenkette im Nordwesten der Toskana rund 300 Marmor-Steinbrüche. Dort wird heute noch Schwerstarbeit verrichtet, der die Italiener mit Ehrfurcht begegnen. Seine heutige Berühmtheit verdankt der weisse Marmor von Carrara dem Renaissance-Bildhau-

14
«Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen.»

er Michelangelo. In einem dieser Steinbrüche hatte Matteos Vater in jungen Jahren einst gearbeitet, bevor er Mitte der Fünfzigerjahre in die Schweiz kam, wo er in Bern als Saisonnier auf dem Bau arbeitete. Später durfte er Frau und Kind nachkommen lassen. Matteo war damals gerade drei Jahre alt. Schon früh schwärmte er von einem eigenen Restaurant. Die Kochlehre, die er mit «Sehr gut» abschloss, war die logische Folge davon. Danach arbeitete Matteo in verschiedenen Betrieben in der Schweiz, darunter in einem Nobelhotel in St. Moritz und natürlich auch im Tessin. Mit der bestandenen Wirteprüfung rückte sein Traum in greifbare Nähe. Er übernahm in Bern ein eigenes Lokal, ausgerichtet auf italienische Spezialitäten. Nicht so planmässig und reibungslos wie seine berufliche Karriere verlief seine Ehe mit einer Schweizerin. Matteos Frau war den Anforderungen eines Gastge werbebetriebes auf die Dauer nicht gewachsen. Vor drei Jahren hatten die beiden vor dem Scheidungsrichter einen Schlussstrich hinter ihre Ehe gezogen. Kurz da nach übernahm Matteo das Lokal am Mühleplatz in Thun und gab ihm den Namen «Incontro», was so viel wie «Treffen» bedeutet. Das Ambiente war südlän disch und angenehm unperfekt. Von den knapp zehn Tischen sah kaum einer gleich aus wie der andere. Aber das konnten sie ja auch gar nicht. Matteo hatte Teile seines Mobiliars in verschiedenen Brockenstuben günstig erstanden. Und obwohl kaum ein Stuhl dem anderen glich, fühlten sich die Gäste auf jedem ein zelnen wohl. Die teils handgeschriebene Speisekarte war einfach gestaltet, enthielt alle gängigen italienischen Gerichte. Soweit Martina das beurteilen konnte, hatte Matteos Restaurant bei den Freunden der italienischen Küche einen guten Ruf. Schon fast legendär war sein Weinkeller. Dort lagerten ganz edle Tropfen.

Fischer verspürte plötzlich eine unbändige Lust auf ein Stück Fleisch. Ohne auf den Preis zu achten, bestellte er ein Filetto di Manzo con patate arroste und einen grünen Salat. Martina entschied sich für eine Portion Spaghetti al Pesto. Zum Barbera d’Asti Superiore aus dem Piemont liess sie sich von Fischer gern einladen. Schliesslich hatte sie ja nur von einem Apéro gesprochen.

Steffen Kirchner (*1981), Profisport-Mentalcoach, heute Buchautor und Motivationsexperte

Als Martina am Montagmorgen ins Büro kam, traute sie ihren Augen nicht. Fischer war soeben dabei, unter ihrem Schreibtisch Ordnung in das Kabelwirr warr zu bringen. «Wenn du hier fertig bist», sagte sich lachend, «möchte ich mit dir über unser Vorgehen im Fall des Tötungsdelikts in Muri reden. Ich habe übers Wochenende das Dossier studiert.»

15
«Menschen, die miteinander arbeiten, addieren ihre Potenziale. Menschen, die füreinander arbeiten, multiplizieren ihre Potenziale!»

Fischer kroch rückwärts unter dem Schreibtisch hervor, klopfte sich den Staub von der Kleidung, die heute so gar nicht zu seinem sonst üblichen Outfit pas sen wollte. Vermutlich hatte er es der momentanen Wetterlage angepasst –Grau in Grau. Graue Hose, grau und schwarz gemustertes Hemd und als Kon trast giftgrüne Socken. Auf Fischers Schreibtisch herrschte wie gewohnt penible Ordnung. Rechts neben der Schreibunterlage lagen sein Notizblock und ein Kugelschreiber, links davon sechs unterschiedlich farbige Markierstifte. Seitlich an der Wand hing ein kleiner Wimpel des FC Thun, und am äusse ren linken Rand stand ein Bild seiner Freundin Livia. Fischers Bemühungen und Überredungskünste, die Zahnarztgehilfin endlich vor den Traualtar führen zu können, waren bisher fehlgeschlagen. Die hübsche Seeländerin aus dem Winzerstädtchen Twann am Bielersee hatte bereits eine gescheiterte Ehe hinter sich. Ein zweites Mal wollte sie auf Nummer sicher gehen. Für diese Haltung hatte Martina volles Verständnis. Darum hatte sie Fischer davor gewarnt, Livia mit Heiratsabsichten unter Druck zu setzen. Wie es schien, hatte er ihren Rat bisher befolgt. «Was hältst du davon, wenn ich dich im Fall des Tötungsdelikts an der vermögenden Frau in Muri zum Sachbearbeiter ernenne?», fragte Martina. Fischer fuhr sich mit beiden Händen durch sein kurzes Haar, rieb sich kurz ein Auge und starrte Martina ungläubig an.

«Du willst wirklich … ich … Sachbearbeiter in einem Tötungsdelikt?», fragte er.

«Die Gesamtleitung wird zwar weiterhin Günther Pfahl haben. Aber wir wer den ihm unter deiner Leitung den Mörder präsentieren. Eine gewagte Prognose, zugegeben», bemerkte Martina und fügte an: «… aber keineswegs nur Wunschdenken.» Es war die selbstbewusste Art, die Fischer an seiner Kollegin so sehr schätzte. Selbst in schwierigen Lagen wusste sie Optimismus zu verbreiten. Al lerdings hatte er den Eindruck, als würde sie jetzt doch etwas zu viel Enthusiasmus versprühen.

«Wie meinst du das? … den Mörder präsentieren?»

«So, wie ich es gerade gesagt habe.»

«Bitte entschuldige, aber das kommt mir alles doch ziemlich überraschend. Ich werde dich bestimmt nicht enttäuschen», versicherte er.

«Du darfst nicht mich nicht enttäuschen, Fritz … Du darfst uns nicht enttäu schen. Wir sind ein Team, wir arbeiten als Team, wir verkraften Niederlagen als Team und wir feiern Erfolge als Team», schärfte sie ihm ein. «Ich helfe dir natürlich dabei», fügte sie an und bat ihn, sich kurz neben sie zu setzen. Dank optimaler Vernetzung und ausgeklügeltem Rapportsystem war es ihnen mög lich, die Akten zu diesem Fall, dem jemand in memoriam der ermordeten Tierliebhaberin den internen Arbeitstitel «Aktion Animal» gegeben hatte, auf den Bildschirm zu holen. Gemäss den Schilderungen der Kollegen Hubacher und Santschi von der Fahndung war die 73 Jahre alte Frau in ihrem Haus durch mehrere Messerstiche tödlich verletzt worden.

16

Das Spurenbild, namentlich im Wohnzimmer, liess den Schluss zu, dass sich zum Zeitpunkt der Tat nebst dem Opfer noch zwei weitere Personen am Tatort aufgehalten haben mussten. Fingerspuren mit Blutanhaftung von zwei verschiedenen Personen hatten zu dieser Erkenntnis geführt. Nach den daktyloskopi schen Untersuchungen konnte ein Fingerabdruck auf der Oberfläche des Salon tisches dem 28-jährigen polizeibekannten Alfred Hügli zugeordnet werden. Weitere Prints mit Blutanhaftung waren an der Tür zum Wohnzimmer, an der stilvollen Wohnwand und an der Haustüre gesichert worden. Allerdings waren diese Spuren nirgends registriert, stammten auch nicht von Hügli. Wenige Tage nach der Tat war er in der Berner Innenstadt festgenommen und später durch das Zwangsmassnahmengericht in Untersuchungshaft versetzt worden. Dem Befragungsprotokoll konnte Martina entnehmen, dass er seine Anwesenheit am Tatort bereits in der ersten Befragung zugegeben hatte. Der unumstössliche Spurenbeweis hätte ohnehin jeden Versuch, die Anwesenheit abzustreiten, bereits im Keim erstickt. Allerdings bestritt Hügli vehement, die Frau getötet zu haben. Seinen Aussagen zufolge hatte sein Komplize die Frau umgebracht. Hüglis Aussagen zufolge hatte er seinen Kumpel vor einiger Zeit im Restaurant Per tutti in Bern kennengelernt. Dieser habe sich als Chris vorgestellt. Später habe er von ihm erfahren, dass sein Vater Engländer sei und mit Familiennamen Brown heisse. Deshalb trage er einen englischen Vor- und Nachnamen. Ob das der Wahrheit entsprochen habe, konnte Hügli nicht sagen. Ein Berner sei Chris jedenfalls nicht gewesen. Er habe «so etwas zwischen Züridütsch und Hoch dütsch» gesprochen, hatte Hügli zu Protokoll gegeben. Bei einer ihrer Begegnungen im «Per tutti» habe ihm Chris von der Tierlieb haberin in Muri erzählt, die ziemlich vermögend sei und zu Hause stets beträchtliche Summen an Bargeld aufbewahre, an das man leicht herankommen könne. Woher er das gewusst hatte, konnte Hügli nicht sagen. Chris habe ihm tausend Franken versprochen, wenn er ihm helfe, die Dame finanziell etwas zu erleichtern. Er habe nichts anderes tun müssen, als die Frau unter einem Vorwand aus dem Haus zu locken, damit der andere drinnen freie Bahn hatte. Weil er selber stets knapp bei Kasse sei, habe er zugestimmt und Chris seine Handynummer gegeben, damit er ihn erreichen könne, wenn es losgehen sollte. An welchem Tag der Anruf von Chris gekommen war, hatte Hügli nicht mehr genau sagen kön nen. Immerhin konnte in Erfahrung gebracht werden, dass die Handynummer, unter welcher der Anruf an Hügli ausgeführt worden war, auf eine Frau namens Chantal Wagner, wohnhaft in Bern-Bethlehem, registriert war. Bei der späteren Befragung konnte sich Frau Wagner daran erinnern, dass sie vor geraumer Zeit im «Per tutti» in Bern von einem Unbekannten angespro chen worden war. Der Typ habe sie gefragt, ob er kurz ihr Mobiltelefon benutzen dürfe. Es sei offenbar um einen wichtigen Anruf gegangen. Zum Dank habe ihr der Unbekannte ein Bier bezahlt. Bei der anschliessenden Überprü fung dieser Aussagen hatte sich herausgestellt, dass Frau Wagner die Wahrheit gesagt hatte. Dank einer richterlichen Verfügung hatte der Telefonanbieter

17

von Chantal Wagner die Verbindungsliste ihres Handys am Tag des Tötungs delikts zur Einsicht freigegeben. Der Anruf des Unbekannten, der sich Chris nannte, war auf Hüglis Handy erfolgt und hatte nur gerade 48 Sekunden gedauert. Nach diesem Anruf habe er sich mit Chris erneut im «Per tutti» getrof fen, hatte Hügli ausgesagt. Dort hätten sie je zwei Stangen Bier getrunken. Danach seien sie mit dem ÖV ins Murifeld zum Haus dieser Frau gefahren. Das sei etwa um 22 Uhr gewesen, genau könne er es nicht mehr sagen. Chris habe sich im Garten versteckt, während Hügli an der Haustür geläutet habe. Die Frau sei herausgekommen und habe ihn gefragt, was er um diese Zeit von ihr wolle. Er habe ihr gesagt, jemand habe vermutlich ein totes Tier in die Büsche in ihren Garten geworfen und sei weggerannt. Die Frau habe ihn mit grossen Augen angeschaut und ihn gebeten, mit ihr in den Büschen nachzu schauen. In dieser Zeit sei Chris unbemerkt ins Haus gelangt. Weil es in den Büschen gar keinen Kadaver gab, seien sie trotz minutenlanger Suche logischerweise auch nicht fündig geworden. Trotzdem habe sich die Frau bei ihm bedankt und gesagt, sie wolle bei Tageslicht dann noch einmal nachschauen. Danach sei sie wieder zum Haus zurückgegangen und er habe beim Gartentor auf Chris gewartet.

Als dieser nach zehn Minuten nicht herausgekommen sei, sei er nachschauen gegangen. Weil die Haustüre abgeschlossen war, habe er sich zur Terrasse be geben. Durch die offene Verandatür habe er sich ins Wohnzimmer begeben, wo die Frau am Boden gelegen habe. Sie sei komisch da gelegen – «irgendwie verkrümmt», hatte Hügli die Fundsituation geschildert. Alles sei voller Blut gewesen. Chris sei mit einem blutverschmierten Messer in der Hand neben der Toten gestanden und habe geflucht. Woher er den Hegu 2 gehabt habe, wisse er nicht, vielleicht aus der Brotschublade in der Küche, hatte Hügli vermutet. Auf die Frage der Fahnder, was er und sein Kumpel nach der Tat gemacht hätten, hatte er geantwortet: «Chris stand wie belämmert neben der Toten. Er hat mich ziemlich blöd angeschaut und immer wieder gesagt: ‹Scheisse, sie ist zu früh zurückgekommen. Was hätte ich machen sollen? Sie ist mir ins Messer gelau fen. Aber was solls – immerhin haben wir die Kohle.›» Danach seien sie so schnell wie möglich abgehauen. Wieviel Geld Chris eingesteckt habe, hatte Hügli nicht beantworten können. Er wisse es schlicht und ein fach nicht. Seine tausend Franken habe er jedenfalls bekommen. Das sei das Einzige, was für ihn gezählt habe. Wo sich dieser Chris jetzt aufhalten könnte, wisse er auch nicht. Die Fahnder glaubten ihm. Zwischenzeitliche polizeiliche Nachforschungen auf der Einwohnerkontrolle, beim kantonalen Strassenver kehrs- und Schifffahrtsamt sowie bei den bekannten Mobilfunkanbietern nach einem Chris Brown waren erfolglos geblieben. Auf diesen Namen war niemand registriert, auch polizeilich nicht. Selbst die sichergestellte DNA auf der Tatwaffe ergab keine Übereinstimmung mit den im Informationssystem des Bundes ge

18
2 Berndeutscher
Ausdruck für Messer

speicherten Profilen. Für Martinas Fahnderkollegium in Bern war somit klar, dass der Flüchtige seinen Kumpel zum Narren gehalten und ihm einen falschen Namen angegeben hatte.

Das Tötungsdelikt an der vermögenden Frau in Muri kam für Georg Glauser, seines Zeichens Bundesstadt-Korrespondent der ältesten Boulevardzeitung der Schweiz, gerade richtig. Er hatte schon länger keine gute Story mehr im Blatt gehabt. Glauser liebte es, hartnäckig zu recherchieren. Nach Tötungsdelikten pflegen Polizei und Justiz bekanntlich der Öffentlichkeit nur gerade das Allernötigste mitzuteilen. Die Öffentlichkeit bekommt zu hören, was den Untersu chungsbehörden nützt. Wie etwa ein Signalement oder die Aufforderung, verdächtige Beobachtungen zu melden. Die Zurückhaltung in Sachen Öffent lichkeitsinformation wird vielfach mit dem Schutz des Verfahrens begründet. Oft wird auch aus ermittlungstaktischen Gründen mit Infos hinter dem Berg gehalten. Das mag ja zweifellos seine Richtigkeit haben. Die amtliche Informa tion über das Verbrechen in Muri enthielt jedoch erstaunlicherweise einige bri sante und interessante und reizvolle Aspekte, die eine Geschichte erst so richtig zur Topstory machen: Tierliebhaberin, alleinstehend, vermögend, ein Täter ge fasst, sein Komplize auf der Flucht – Herz, was willst du mehr, dachte Glauser. Er gab sich mit diesen Informationen allerdings nicht zufrieden. Er wollte immer mehr wissen als die Konkurrenz. Zu diesem Zweck hatte er sich im Laufe der Jahre ein recht grosses Netz an Informantinnen und Informanten verschie denster sozialer Herkunft, unterschiedlicher Berufsgattungen und politischer Couleur aufgebaut. Und diese Gewährsleute liessen ihn einmal mehr nicht im Stich. So kam es, dass der Blick als erstes Medium über die tatsächliche Fundsituation im Haus und zum Tathergang berichtete. Zum Ärger der Konkurrenz und einmal mehr auch zum Missbehagen von Martina und Fritz. Sie hatten sich schon mehrmals vorgenommen, mit diesem Glauser ein Wörtchen zu reden und ihm vor Augen zu führen, wie und warum seine Veröffentlichungen die Ermittlungsarbeit erschwerten. Martina war überzeugt, dass die illegalen Informationsquellen irgendwo in den Strukturen der Polizei oder gar der Justiz sprudelten. Welcher Art die Gegenleistungen für solche Vertrauensbrüche waren, konnte nur ver mutet werden. Einen finsteren Verdacht hatte Martina zwar, wagte ihn aber nicht auszusprechen, weil er nicht zu beweisen war.

19
«Manche Journalisten scheinen ihre Aufgabe darin zu erblicken, anderen zu erklären, was sie selber nicht verstehen.»
Markus M. Ronner (*1938), Schweizer Theologe, Autor und Aphoristiker

Zwei Tage nach der Mitteilung zum Tötungsdelikt an der vermögenden Tier närrin in Muri erhielt Glauser eine weitere, sehr interessante Medienmittei lung von Justiz und Polizei. Diesmal war von einem Leichenfund im Oberland die Rede. Dem gewohnt bescheidenen Kommuniqué der Strafverfolgungs behörden war immerhin zu entnehmen, dass von einem Passanten auf einer mit Stacheldraht umzäunten Weide in Steghalten, unweit von Thun, eine Frau tot aufgefunden worden sei. Gemäss der Medienmitteilung gehe die Polizei von einem Gewaltverbrechen aus. Beim Opfer handle es sich um eine 35-jäh rige Frau aus der Region Thun. Allerdings verloren die Untersuchungsbehör den kein Wort darüber, wie die Frau getötet worden war. Zudem sei auf der Steghaltenstrasse, etwas oberhalb der Fundstelle, ein auf ihren Namen einge löstes grünes Auto der Marke VW Golf abgestellt worden. Im untersten Text abschnitt baten die Untersuchungsbehörden die Öffentlichkeit um Hinweise, die mit der Straftat in Verbindung stehen könnten. Damit hofften sie, in Erfahrung bringen zu können, ob, wo und wann jemand den grünen VW gesehen habe. Nebst der Marke und der Farbe des Autos gaben die Ermittler auch das vollständige Kontrollschild bekannt. Das verwunderte sogar den routinierten Blick-Reporter Glauser. Bisher wurden in solchen Fällen nur die ersten drei Zahlen publik gemacht, um zu verhindern, dass die Medien und die Öffent lichkeit den Namen des Halters oder der Halterin des Fahrzeugs in Erfahrung bringen konnten. Am Schluss der Medienmitteilung folgte die Telefonnummer der Einsatzzentrale.

Gina Kaus (1893–1985) österreichische Schriftstellerin, Übersetzerin und Drehbuchautorin

Das Thermometer auf ihrer Dachterrasse hatte an diesem frühen Aprilmorgen kühle 8 Grad Celsius angezeigt. Ein grauer Nebelschleier lag über dem Land. Die Stockhornkette verbarg sich teilweise hinter dicken Wolken. Trotz des ty pischen Aprilwetters hatte sich Martina schon früh auf den Weg ins «Incontro» gemacht, das für Frühaufsteher bereits ab sechs Uhr geöffnet hatte. Der aus östlicher Richtung wehende Biswind blies Martina kalte und trockene Luft ins Gesicht. In den Gassen und Strassen wurden Papierfetzen herumgewirbelt. Achtlos weggeworfene Getränkedosen schepperten über den Asphalt. Gemäss den Wettervorhersagen dürfte der Wind im Laufe des Tages nachlassen und die Temperaturen sollten ein wenig ansteigen. Beim Betreten des «Incontro» warf Martina einen raschen Blick in den Spiegel bei der Garderobe und stellte zu frieden fest, dass der Wind ihrer Kurzhaarfrisur nichts hatte anhaben können.

20
«Jeder Mensch begegnet einmal dem Menschen seines Lebens, aber nur wenige erkennen ihn rechtzeitig.»

Matteo hatte das Tellerchen mit dem Cornetto bereits auf den Tisch vor dem Tresen mit dem Schildchen «Riservato» gestellt, als er Martina hereinkommen sah. Sie liebte dieses typisch italienische Frühstückgebäck über alles. Cornetti schmecken nach Vanille und sind zudem weniger buttrig als die französischen Croissants. Cornetti werden mit der Lievito Madre, der italienischen Mutter hefe, gebacken, die über einen lieblichen Geschmack verfügt und dem Gebäck die italienische Eleganz verleiht, die Martina so sehr schätzte. Matteo servierte ihr das nicht gefüllte Cornetto und den Cappuccino gerade auf einem Tablett, als sie eine SMS erhielt. «Geh ins Büro. Der Chef wird dich demnächst anru fen. Gruss Judith» stand da. Kurz und knapp. Typisch Laroche. «Maledetto!», entfuhr es Martina. Sie trank ihren Cappuccino nur zur Hälfte aus, packte das angebissene Cornetto in eine Serviette, stopfte es in ihre kleine Handtasche, legte Matteo eine Zehnernote aufs Tablett, ergriff ihr Handy und verliess nach einem knappen «Ciao» hastig das «Incontro». Ihr überhasteter Aufbruch zahlte sich – zumindest zeitmässig – nicht aus. Vor dem Eingang prallte sie nämlich ziemlich heftig mit einem Mann zusammen, der ebenfalls ziemlich eilig unterwegs war. Durch den Zusammenstoss fiel ihr die Handtasche aus der Hand. «Minghiata!», entfuhr es Martina, was so viel wie Bull shit bedeutete. Der Inhalt ihrer Tasche lag verstreut auf dem Asphalt – inklu sive ihr angebissenes Cornetto. Ein Fettstift gegen spröde Lippen, eine Nagelfeile, einige ihrer Visitenkarten, ein Päckchen Papiertaschentücher, ein Pfefferspray, ein Schlüsselbund und ihr Portemonnaie lagen verstreut auf dem Boden oder kullerten teils unter die Tische und Stühle vor dem Lokal.

«Shit! – Sorry», rief der Mann aus, während sich Martina erschrocken über ihren wenig damenhaften Ausdruck die Hand vor den Mund hielt. Reaktionsschnell bückte sich der Fremde nach dem Cornetto. Weil Martina gleichzeitig denselben Gedanken hatte, prallten sie auch noch mit den Köpfen ziemlich unsanft zusam men. Für einen Moment standen sich die beiden irgendwie ratlos gegenüber und rieben ihre Köpfe. Dabei stieg Martina der herbe Duft von Sternanis, Bergamot te und Zedernholz in die Nase. Der junge Mann erholte sich zuerst vom Schock: «Tut mir leid. Sind Sie verletzt?», fragte er. Seine Stimme klang leicht belegt, während er Martina aus rehbraunen Augen besorgt und mitfühlend anschaute. Obwohl ihre Stirn noch etwas schmerzte, schüttelte sie den Kopf. «Kopfschütteln ist keine rechtsverbindliche Form der Verneinung, bestenfalls eine höfliche Ab sichtserklärung», sagte er und lächelte trotz des Missgeschicks leicht verhalten. Schnösel, vermutlich Jus-Student, ging es Martina durch den Kopf, während sie ihren Tascheninhalt wieder aufsammelte. Der junge Mann half ihr dabei. Nach dem der «Unfallplatz» wieder geräumt war, sagte er: «Ich bitte inständig um Entschuldigung. Ich hoffe, Sie sind mir nicht allzu böse.» Martina schenkte dem Mann ein gequältes Lächeln und erwiderte: «Zusammenstösse sind auch eine Variante, fremde Leute kennenzulernen.» Eine intelligentere Erwiderung war ihr auf die Schnelle nicht eingefallen. Anders der fremde Mann. Schlagfertig sagte er: «Stimmt. Darum würde es mich sehr freuen, wenn wir uns unter weni-

21

ger schmerzlichen Voraussetzungen wieder sehen könnten.» Ein Blick in seine Augen verriet, dass er das Gesagte auch tatsächlich ernst meinte. Martina muss te sich eingestehen, dass ihr der Typ nicht unsympathisch war. Gross, sportliche Statur, modisch kurz geschnittene dunkelbraune Haare, sympathische Gesichts züge. Trotzdem: Sollte sie hier und jetzt ein Date aushandeln? Nein, das war nicht ihre Art. Sie liebte Spontaneität, aber das kam ihr wirklich zu plötzlich. Darum schlug sie ihm vor, eine weitere Begegnung dem Zufall zu überlassen. «Okay.» Der junge Mann war damit einverstanden. Er reichte ihr die Hand und entschuldigte sich noch einmal: «Was bin ich für ein unhöflicher Mensch! Ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt: Mein Name ist Dario – Dario Spescha. Ich bin Jurist und arbeite in einem Anwaltsbüro hier in Thun.» «So etwas habe ich mir gedacht», verriet Martina. «Dein … äh, ich meine, Ihr Spruch über die rechtsverbindliche Form der Bejahung oder Verneinung hätte wohl kaum von einem Bauhandwerker stammen können. Zudem wäre der um diese Zeit schon längst auf der Baustelle.» Mit diesem kleinen Scherz hoffte Martina zu ver hindern, dass er nach ihrer beruflichen Tätigkeit fragen würde – mit Erfolg. Heute schien für Martina der Tag der Begegnungen zu sein. Auf ihrem Weg ins Büro begegnete sie auf dem Rathausplatz ihrer Kollegin Luzia. Die Mittdreis sigerin betrieb in der Unteren Hauptgasse eine kleine Modeboutique mit dem sinnigen Namen «ParcPlace», welche sie mit sehr viel Herzblut betrieb. Luzia war eine herzensgute Person, konnte zuweilen aber zu einer ermüdenden Nervensäge werden. In Gesellschaft verstand sie es immer wieder, das Gespräch auf ihr geschäftliches Kleinod zu lenken und dabei ihre «aktuellsten Kleider modelle im ganzen Berner Oberland» zu propagieren. Was man auch von ihr hielt, Martina musste neidlos anerkennen, dass sie ihren bestimmt nicht immer einfachen Kundinnen tatsächlich ein erlesenes Sortiment an qualitativ hoch wertigen, geschickt kombinierbaren Damenkleidern und Accessoires anbot. Martina und Luzia hatten sich vor geraumer Zeit zufällig im «Incontro» kennengelernt. Anfänglich waren ihre Treffs eher zufällig, später trafen sie sich öfters um die mehr oder weniger gleiche Zeit bei Matteo zum Morgenkaffee oder gelegent lich zu einem Mittagslunch. Über Martina wusste Luzia lediglich, dass sie Polizis tin war und allein in der Oberen Hauptgasse wohnte. Und das war gut so. Martina sprach nämlich ziemlich ungern über ihr Privatleben. Und wenn, dann nur mit ganz guten Bekannten. Dazu gehörte Luzia zumindest noch nicht. Diese wieder um sah in Martina so etwas wie eine Respektsperson mit Lebenserfahrung. Luzia bewunderte Martina auch, weil sie es bisher trotz ihrer unerfüllten Herzensangelegenheit fertiggebracht hatte, in keine Depression oder Lebenskrise zu verfallen. Das mochte vermutlich mit ein Grund sein, weshalb Luzia bei ihr schon mehrmals ihr Herz ausgeschüttet oder sie um Rat gefragt hatte. In letzter Zeit war es vorwiegend um Liebe, Hoffnung und Enttäuschung gegangen – Luzia schien bei der Wahl ihrer Liebhaber ein unglückliches Händchen zu haben. Ob allerdings alle ihre Männer untreue und charakterlose Wesen waren, wie sie stets behauptete, war zumindest fraglich. Auch Luzia konnte manchmal ziemlich anstrengend sein.

22

«Kaffee?», fragte Luzia. «Tut mir leid, heute nicht», entgegnete Martina mit einem Blick auf ihre Armbanduhr: «Ich bin auf dem Sprung. Im Büro wartet eine Menge Arbeit auf mich.»

«Okay, dann halt bis zum nächsten Mal», sagte Luzia und rief Martina hinter her, dass die neue Herbstkollektion soeben eingetroffen sei und dass es sich lohne, bei ihr vorbeizuschauen. Ohne sich umzudrehen, streckte Martina zum Zeichen, dass sie verstanden hatte, einen Arm in die Höhe.

Als sie ins Büro kam, sass Fritz bereits hinter dem Schreibtisch und las die aktuellen Journaleinträge. «Gibt es etwas Neues zum Tötungsdelikt in der Steghalten?», fragte Martina, während sie ihre Jacke über die Rückenlehne ihres Bürostuhls hängte.

«Was ist mit dir?», fragte Fritz. «Du wirkst irgendwie fahrig heute. Hast du schlecht geschlafen?» Martina verzichtete darauf, ihrem Kollegen vom Zusammenstoss mit dem Juristen und der Begegnung mit Luzia zu erzählen. Ohne auf seine Bemerkung einzugehen, sagte sie: «Der Baumberger wird mich …» Wei ter kam sie nicht. Auf ihrem Schreibtisch klingelte das Telefon. «Das wird die Laroche sein», sagte sie, ergriff den Hörer und schaltete den Lautsprecher ein. Wie vermutet, war Judith Laroche am Apparat. «Hallo Martina. Der Chef will dich sprechen … ich stelle durch.»

Judith war bekannt für ihre knappe und zackige Art. Dennoch musste Martina ihrem Tonfall entnehmen, dass in Bern bezüglich Arbeitsklima kaum Schön wetterlage herrschte. Das bedeutete, dass aus irgendeinem Grund irgendwo Feuer im Dach war. Manchmal berichtete ihr Judith auch von den aktuellsten Geschehnissen innerhalb der Kripo, bevor sie zum eigentlichen Anlass ihres Anrufs kam. Heute war dem nicht so.

«Mit deinem Anruf habe ich gerechnet», begrüsste Martina ihren Vorgesetz ten. Aber diesmal verzichtete der Kripochef auf die gewohnten Begrüssungsfloskeln und Neckereien. Er kam sofort zur Sache: «Du kannst dir wahrscheinlich vorstellen, weshalb ich dich anrufe. Es gibt doch da bei euch oben den Kuhweidefall, oder?»

«Damit spielst du vermutlich auf den Leichenfund auf der Weide neben der Steghaltenstrasse an. Ja, das ist hier in der Nähe. Warum? … was ist damit?», fragte sie und ahnte bereits, was nun folgen würde. «Das ist ab sofort euer Fall. Damit habt ihr sozusagen ein Heimspiel. Judith wird dir auch diese Akten per Mail zu kommen lassen. Ihnen kannst du entnehmen, was bisher unternommen und abge-

23
«Jede Gemeinschaft macht, irgendwie, irgendwo, irgendwann — ‹gemein›.»
Friedrich Wilhelm Nietzsche (1844–1900), deutscher Philosoph, Essayist, Lyriker und Schriftsteller

klärt … oder besser gesagt, was nicht gemacht oder nicht abgeklärt wurde. Wenn du zusätzliche Leute brauchst, dann lass es mich wissen.» «Und was ist …» «… mit der ermordeten Frau in Muri, wolltest du fragen. Vergiss diesen Fall, er wird wieder von Bern aus bearbeitet. Einer der Täter sitzt ja bekanntlich im Knast und der Flüchtige wird uns früher oder später hoffentlich ebenfalls ins Netz ge hen. Bei Pfahls Arbeitsweise vermutlich eher später. Seit ich ihm gestern meinen Entscheid, den Fall von der Kuhweide euch zu übertragen, kundgetan habe, ist er am Boden zerstört. ‹Ich muss nur immer den Scheissdreck von anderen aufwi schen und Fälle übernehmen, die andere nicht lösen können. Oberländer Rosinen pickerei nennt man das›, hat er sich beklagt und ist wie eine beleidigte Leberwurst aus meinem Büro gestürmt. Martina hatte zwar auch nicht viel übrig für die Arbeitsweise von Fahndungschef Pfahl, für seine Angewohnheit, Erfolge sei ner Mitarbeitenden unter schwellig stets als die seinen zu werten oder für seine umständliche Art, eine Lage zu analysieren. Weshalb er klare und verständliche Aufträge an seine Leute stets mit zusätzlichen ausschweifenden, ja meist unnötigen Kommentaren versah, wusste vermutlich nicht einmal er selber. Aber ob die Beurteilung des Kripochefs, wonach der gesuchte Mörder bei Pfahls Arbeitsweise «vermutlich eher später als früher» gefasst werden könne, dem ohne hin schon ramponierten Arbeitsklima im Fahndungsbereich dienlich war, wagte Martina ernsthaft zu bezweifeln. Mit seinen zuweilen cholerischen Ausbrüchen und gelegentlichen Zick-Zack-Entscheiden vermochte Baumberger auch nicht gerade für die nötige Gelassenheit im Arbeitsalltag zu sorgen – im Gegenteil. Aber das sagte sie ihm jetzt nicht. Als hätte Baumberger ihre Gedanken erraten, unter liess er es, weiterhin über Günthers Qualifikationen zu sprechen. Vermutlich wohl wissend, dass die Ernennung Pfahls zum Fahndungschef ja auf seiner Teppichetage erfolgt und als klares Eigentor zu werten war. Darum klang es plötzlich sehr sachlich, als er sagte: «Wenn du im Fall der Tiernärrin per Zufall doch noch etwas herausfinden solltest, dann sag es Günther. Ich wünsche euch einen guten Tag.»

«Mörder gibt es nicht deswegen, weil die Welt schlecht ist, sondern weil Mörder schlecht sind.»

Gregor Brand (*1957), deutscher Schriftsteller, Lyriker und Verleger

Kurz nach dem Gespräch mit Baumberger erhielt Martina die angekündigte E-Mail mit den Akten zum Leichenfund an der Steghaltenstrasse. Postwendend leitete sie die Nachricht an Fritz weiter. Den Berichten und Protokollen war zu entnehmen, dass gestern, also am Mittwoch, 15. April, um 07.46 Uhr Landwirt Markus Holzer, wohnhaft in Thierachern, mit seinem Mobiltelefon die Einsatzzentrale angerufen und mitgeteilt hatte, dass in einer Weide an der

24

Steghaltenstrasse vermutlich eine tote Person liege. Zudem sei auf der Strasse ein grüner VW Golf abgestellt. Die Person in der Weide habe auf seine Zurufe nicht reagiert, darum gehe er davon aus, dass sie tot sei. Gemäss Bericht hatte der Disponent in der Zentrale den Anrufer gebeten, dort auf die Patrouille zu warten, die Weide nicht zu betreten und nichts zu verändern.

Eine Viertelstunde nach dem Anruf von Holzer war eine Patrouille der Kantonspolizei vor Ort gewesen. «Uns war sofort und ohne nähere Betrachtung klar, dass für die auf dem Bauch liegende Person – es handelte sich um eine Frau – jede Hilfe zu spät kam», hatten die Kollegen der Mobilen Polizei in ih rem Rapport festgehalten.

Nach Durchsicht aller bisherigen Berichte stand für Martina und Fischer fest, dass der grüne VW Golf auf eine Iris Balzli, 35 Jahre alt, wohnhaft am Zoll hausweg 12 in Thun, eingelöst war. Das Foto auf dem Führerausweis lasse diesen Schluss zu, war im Bericht zu lesen. Eine rechtsverbindliche Identifika tion sei allerdings erst nach den Untersuchungen im Institut für Rechtsmedizin (IRM) möglich.

Während Martina sich Notizen machte, telefonierte Fritz mit den Einwohnerdiensten der Stadt Thun. Dank seinen guten Beziehungen zu dieser Amtsstelle erhielt er bereitwillig telefonische Auskunft. Er erfuhr, dass Iris Balzli mit ei nem Tunesier namens Samir Gharbi verehelicht war, aber trotz Heirat ihren Mädchennamen behalten hatte. Frau Balzli arbeite als kaufmännische Angestellte bei der Versicherung SecuraLive in Bern. Er griff zum Telefon, wählte die Versicherungsagentur an und erkundigte sich nach Iris Balzli. «Ach ja? … Wann genau? … Was! … Wieso nach Italien!?», fragte Fischer verwundert, bedankte sich aber für die prompte Auskunft, beendete das Gespräch und lehn te sich mit einem lauten Seufzer in seinem Stuhl zurück. «Ich glaube das nicht. Ehrlich, ich glaube, ich spinne», murmelte er vor sich hin. «Was ist los?», fragte Martina. «Komm, lass dir nicht die Würmer aus der Nase ziehen.» «Das war die Chefin von Frau Balzli. Sie sagte mir, Frau Balzli habe ihren Ar beitsplatz am Vortag, also am Dienstag, 14. April, wie gewöhnlich um 17 Uhr verlassen. Seither sei sie nicht mehr zur Arbeit erschienen. Das sei überhaupt nicht ihre Art. Frau Balzli sei die Zuverlässigkeit in Person. Die Chefin kann sich das unentschuldigte Fernbleiben nicht erklären. Sie macht sich wirklich grosse Sorgen. Vor allem auch, weil sich der Ehemann von Frau Balzli am Mittwoch gegen 10.30 Uhr telefonisch nach dem Verbleib seiner Frau erkundigt hatte. Er habe gewünscht, dass man seiner Frau – für den Fall, dass sie noch auftauchen sollte – mitteilen soll, dass er sich wie abgemacht für ein paar Tage zu seinem Bruder nach Pallanza in der italienischen Gemeinde Verbania begeben werde.»

Fischer verstand die Welt nicht mehr, griff sich mit beiden Händen an den Kopf. «Gharbi fährt nach Italien, während er seine Frau vermisst … angeblich! Was ist das für ein Mensch? Was führen die für eine Ehe? Und dann fährt der erst noch nach Pallanza!», entrüstete er sich.

25

«Hast du etwas gegen Pallanza?», fragte Martina irritiert. «Nein!», antwortete Fischer. «Wieso sollte ich etwas gegen Pallanza haben? Im Gegenteil! Ich liebe diesen Ort. Immer, wenn ich Pallanza höre, sehe ich mich durch die Giardini Botanici am westlichen Ufer des Lago streifen – ein unvergessliches Erlebnis», schwärmte er. Vor ein paar Jahren hatte er während seiner Ferien die 16 Hektar grosse, prachtvolle Anlage besucht und die vielen herrlich blühenden Azaleen, Ahorne und die von Kamelien gesäumten Wege bestaunt. Der Dahliengarten mit über 300 verschiedenen Arten war ihm ebenso unvergesslich wie die Ter rassengärten mit ihren Wasserfällen, die naturbelassenen Schwimmbecken, Seerosenbassins und der Lotusblumenteich. Aber auch die Zierspringbrunnen und die Wasserspiele hatten Fischer nachhaltig beeindruckt. Mit Interesse hat te er vor seinem Besuch die Geschichte der Giardini gelesen und erfahren, dass der botanische Bestand etwa 1000 nicht autochthone Pflanzen und über 20 000 Arten und Gattungen von bedeutender botanischer Wichtigkeit umfasst. Die wunderschöne Anlage verdanken die Italiener dem schottischen Kapitän Neil Boyd McEacharn, der das Grundstück La Crocetta samt Villa der Marquise von Sant’Elia 1931 abkaufte und die Gärten anlegen liess. Nach der Vollendung benannte er seinen Garten Villa Taranto. Um den Fortbestand seiner Schöp fung zu sichern, übertrug McEacharn seine Besitztümer grosszügig und in Form einer Schenkung dem italienischen Staat. Seit 1952 sind die Gärten öf fentlich zugänglich und saisonal von April bis Oktober geöffnet.

Obwohl es bereits Mitte April war und die Frühlingsblumen in den Gärten blühten, war es an diesem Vormittag noch ziemlich kühl. Die Bise sorgte ein mal mehr für Temperaturen, die lediglich knapp den zweistelligen Bereich erreichten. Die Vorhersagen prophezeiten allerdings steigende Tendenzen. Fi scher wollte sich heute vergewissern, ob der Ehemann des Opfers tatsächlich abgereist war. Er fuhr mit dem neuen Dienstwagen zum Domizil von Samir Gharbi und Iris Balzli. Das Gebäude am Zollhausweg in Thun/Gwatt gehörte zu einer grösseren Überbauung. Vor dem Eingang zur Nummer 12 spielten drei kleine Mädchen. Kichernd hüpften sie durch auf dem Teerboden mit Strassen kreide aufgezeichnete Felder. Fischer konstatierte, dass das alte Hüpfspiel bei Kindern offenbar immer noch populär war. Unüberhörbar grüsste er die Mäd chen, welche seinen Gruss freundlich erwiderten. «Bist du vom Zirkus?», frag te eines der Mädchen mit blondem Pferdeschwanz. «Wie kommst du darauf», fragte Fischer erstaunt. «Wegen deiner Hose», kicherte das Mädchen und hielt

26
«Um zu begreifen, dass der Himmel überall blau ist, braucht man nicht um die Welt zu reisen.»
Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832)

sich beide Hände vor den Mund. Offenbar wollte sie damit andeuten, dass sie das nicht hätte sagen sollen, weil das vielleicht frech war. Erwachsenen gegen über dürfe man nicht frech sein, hatten ihr die Eltern eingeschärft. «Wegen meiner Hose?» Fritz schaute überrascht an sich hinunter und musste lachen. Seine dunkelrote Hose mit den feinen blauen Karos hätte einem Clown tatsäch lich als Beinkleid dienen können. «Nein, ich bin kein Clown, ich bin von der Polizei», sagte Fischer. «Von der Polizei?», fragte die Kleine und schaute ihn verwundert an. «Polizisten haben doch nicht solche Hosen, die haben eine Uni form und eine Pistole», meinte ein anderes Mädchen mit dunklem Haar. «Und eine Mütze», ergänzte das dritte Mädchen. «Ich bin von der Kriminalpolizei. Kriminalpolizisten tragen keine Uniform, sonst würden Verbrecher sofort se hen, dass ich Polizist bin, und flüchten, wenn ich sie verhaften will», sagte Fi scher.

«Willst du jetzt auch jemanden verhaften?», fragte das Mädchen mit dem Pferde schwanz.

«Nein, ich will nur jemand besuchen», schwindelte Fischer und studierte die vielen Namensschilder. Neben dem silberfarbigen Schildchen mit den eingravierten Namen S. Gharbi und I. Balzli drückte er auf den Klin gelknopf und wartete vergeblich darauf, dass von oben der Türöffner betä tigt wurde.

«Zu wem willst du?», fragte das blonde Mädchen wiederum. «Zu Herrn Gharbi», antwortete Fischer wahrheitsgemäss.

«Der ist nicht da. Der ist in die Ferien gefahren», sagte das dunkelhaarige Mäd chen. «Ach so … in die Ferien», sagte Fischer und fügte lächelnd an: «So schön möchte ich es auch mal haben.»

Von den Mädchen erfuhr er, dass Gharbi gestern mit einem schwarzen Roll koffer aus dem Haus gekommen, Richtung Bushaltestelle gegangen und ver mutlich in die Ferien gegangen war. Fischer bedankte sich bei den Mädchen für die Auskunft und fuhr zurück ins Büro. Während seiner Abwesenheit hatte Martina das weitere Vorgehen geplant und ein paar Telefonate getätigt. Bevor sie Fischer über ihre Pläne ins Bild setzen konnte, schlug dieser vor, die Wohnung von Gharbi durchsuchen zu lassen. «Mein Bauchgefühl sagt mir, dass da etwas nicht stimmt. Man reist doch nicht in die Ferien, wenn gleichzeitig die eigene Frau vermisst wird.» Martina musste ihm recht geben. Sie unterstützte seinen Vorschlag zur Hausdurchsuchung und versprach ihm, Staatsanwalt Robert Frei zu kontaktieren und ihn um einen Durchsuchungsbefehl zu ersuchen. Sie war sich si cher, dass sie von ihm die mündliche Zustimmung sofort erhalten wird. Tat sächlich versprach Frei, ihr die schriftliche Anordnung so rasch wie möglich per E-Mail zuzustellen.

«Du übernimmst ab sofort die Koordination der Durchsuchung des Domizils von Gharbi», wies sie Fischer an. «Ich will, dass alles, was mit der Ehe der beiden und mit dem Tötungsdelikt zu tun haben könnte, sichergestellt wird. Ich

27

denke dabei auch an Korrespondenzen, Bankunterlagen, PC oder Laptop und so weiter – du weisst schon. Zudem will ich, dass alle in der Überbauung ste henden Container durchsucht werden. Mit ‹alle› meine ich alle Kehricht- und Papiercontainer, inklusive die Behältnisse für die Grünabfuhr! Die offizielle Leerung innerhalb der Überbauung hätte morgen Donnerstag stattfinden sol len. Das habe ich bereits gestoppt und in Absprache mit den technischen Betrieben im städtischen Tiefbauamt bis auf Widerruf vertagt. Im Weiteren soll ein Detachement der uniformierten Kolleginnen und Kollegen den Waldstrei fen absuchen, der an den Fundort der Leiche grenzt. Vielleicht hat der Täter ja etwas im Wald entsorgt oder vergraben. Das wär’s für den Moment. Hast du noch Fragen?»

«Nein. … Doch, … eine Frage habe ich noch – was machst du, während ich mich als Hausdurchsucher und als Müllmann betätige?», fragte Fischer. «Mit dieser Frage habe ich gerechnet. Ich gönne mir ein paar lockere Tage am Lago Maggiore, genauer in Verbania. Ich fahre heute Mittag.»

Fischers Gesichtszüge widerspiegelten Zweifel, Scherzhaftigkeit und Überra schung zugleich. Martina schaute ihren Kollegen mit gespielter Ernsthaftigkeit an.

«Hallo … Fritz … bist du noch da?», fragte sie und betonte bewusst jedes Wort einzeln.

«Ja … ich bin … leicht irritiert. Du kompensierst deine Überstunden in Italien, während ich hier im Dreck wühle? Hast du gerade Märchenstunde?» Martina musste lachen. «Nein, habe ich nicht. Ich mache auch keine Witze.

Das war im wahrsten Sinn des Wortes todernst gemeint. Ich werde in Verbania an unserem Fall arbeiten. Kurt Grossen und Nik Niederhäuser vom De zernat Enzian werden mich begleiten. Ich habe in deiner Abwesenheit den kurzen Dienstweg gewählt und mit meinem alten Kumpel Stefano Bianchi von der örtlichen Polizia di Stato in Verbania telefoniert. Ich habe ihm den Fall geschildert und um die sofortige Anhaltung und Inhaftierung von Samir Gharbi gebeten, der bei seinem Bruder Adnan zu Besuch sei. Ich habe ihm versichert, dass wir vermutlich noch heute bei ihm eintreffen werden. Auf sein ‹Va bene› hin habe ich mit Staatsanwalt Frei gesprochen und ihm die Situation dargelegt. Der internationale Haftbefehl ist vor gut einer Stunde per Fax hier eingetroffen. Ich habe ihn unverzüglich an Stefano weitergeleitet. Vor ein paar Minuten hat er zurückgerufen und mir mitgeteilt, Gharbi befinde sich in Polizeigewahrsam – allerdings nicht für ewig. Auch wenn man in Italien sei, müsse man sich an die gesetzlichen Vorgaben halten. Zudem müs se Gharbi vor der Auslieferung noch ärztlich untersucht werden. Das hat mich dazu veranlasst, Rechtsmediziner Rolf Zimmerer aufzubieten und mit zunehmen.»

Fritz hatte aufmerksam zugehört. Was Martina da innert kurzer Zeit auf die Beine gestellt und organisiert hatte, war eine echte Meisterleistung.

28

Während der Fahrt Richtung Süden hatte Martina über die Freisprechanlage mehrere Gespräche in italienischer Sprache geführt. Nicht, weil sie verhindern wollte, dass ihre Begleiter mithören können. Nein, sie sprach Italienisch, weil ihre Gesprächspartner kein, oder wenn, dann nur schlecht Deutsch verstanden. Nach fast vierstündiger Fahrt bog Martina kurz vor 17 Uhr in die Via Lussem burgo in Pallanza ein. Vor dem Polizeigebäude gab es um diese Zeit genügend Parkplätze. Die beiden Kollegen der Sondereinheit und Rechtsmediziner Zim merer waren sichtlich froh, nach der langen Fahrt aus dem Auto steigen und sich die Füsse vertreten zu können.

Die gut 31 000 Einwohner zählende Stadt am Lago Maggiore begrüsste die Ankommenden mit ihrem typisch südländischen Charme. Vor und in den Restaurants herrschte rege Geschäftigkeit, auf der Hauptstrasse rollte ziem lich starker Verkehr. Der Rechtsmediziner zündete sich eine Zigarette an, während die beiden Kollegen der Sondereinheit zum Seeufer schlenderten. Und Martina? Sie lehnte am Auto und schaute den Passanten nach, die dem Quai entlang bummelten. Warum kam ihr gerade jetzt und hier die Begeg nung mit dem jungen Mann vor dem «Incontro» in den Sinn? War es der nahende lauwarme Frühlingsabend, der amouröse Empfindungen in ihr weckte? Spielte die südliche Atmosphäre mit ihren Gefühlen? Martina versuchte, solche Sinnesreize zu verdrängen. Schliesslich war sie in einer Missi on unterwegs, in der Gedanken an romantische Zweisamkeiten nicht vorgese hen waren. Sie gab sich einen Ruck und holte sich gedanklich in die Gegenwart zurück, angelte ihr Handy aus der Gesässtasche, wählte eine Nummer und führte ein mehrminütiges Gespräch in italienischer Sprache. Dann rief sie Ste fano Bianchi an und teilte ihm ihre Ankunft mit. «Ciao Stefano, sono Martina di Berna. Noi siamo qui.» Stefano hiess sie herzlich willkommen und fragte, ob sie wisse, wo er sein Büro habe. «Sì, so dove», gab sie ihm zur Antwort. Martina war schon früher einmal da gewesen und kannte die Questura. Einzig mit der hiesigen Hotellerie war sie nicht so vertraut. Darum hatte sie ihn vor ihrer Abreise gebeten, in einem Hotel drei Doppelzimmer zu reservieren. Vorsichtshalber erkundigte sie sich bei Stefano, ob das mit der Zimmerreservation geklappt habe. Seine Ant wort war knapp und verständlich. «Si, all’Hotel Europalace in centro.»

Wer sich Stefano als einen schlaksigen, eleganten Italiener vorgestellt hatte, sah sich arg getäuscht. Vor dem Schweizer Kollegium stand ein stämmiger, durchtrainierter Mittfünfziger, der spielend ein Körpergewicht von hundert Kilogramm auf die Waage brachte. Sein Kopf sass fast ohne Hals auf den

29
«Chi dorme, non piglia pesci. Wer schläft, fängt keine Fische.»
Italienisches Sprichwort

Schultern. Die waren so breit, dass er schmalere Pforten nur quer durchschrei ten konnte.

«Benvenuto nella nostra casa», sagte er und begrüsste seine Gäste aus der Schweiz mit einem kräftigen Händedruck. «Non parlo molto bene il tedesco, ma Martina sa tradurre.» Damit legte Stefano auch gleich die Rahmenbedin gungen der sachdienlichen Kommunikation fest. Dass er nicht gut deutsch sprach und Martina übersetzen konnte, hatten auch ihre Begleiter verstanden und auch nichts anderes erwartet.

Weil der inhaftierte Tunesier die deutsche Sprache beherrsche, erübrige sich ein Dolmetscher, sagte Stefano. Dabei packte er Martina am Oberarm und zog sie zur Seite. Mit erstaunlich gedämpfter Stimme fragte er, ob sie eigentlich sicher sei, dass Gharbi der Mörder seiner Frau sei. Ebenso leise gestand Martina: «Non sono sicuro.» Aber sie hätten viele und erdrückende Indizien, die für ihn als Täter sprechen würden. Martina zählte zwei, drei Beweise auf und verschwieg Stefano auch nicht, dass zum Beispiel Aussagen von mehreren Zeugen vorlie gen würden, die Gharbis Behauptung, er habe die Wohnung seit dem Tag, als seine Frau zur Arbeit gefahren sei, nicht mehr verlassen, mit konkreten Angaben widerlegen. Sie gab ihm die Aussage des Arbeitgebers von Iris Balzli zur Kenntnis, wonach Gharbi am Telefon gesagt habe, man solle seiner Frau – wenn sie wieder auftauchen sollte – mitteilen, er habe mit seinem Bruder abgemacht, dass er für ein paar Tage zu ihm nach Pallanza in der italienischen Gemeinde Verbania kommen werde. Martina gestand Stefano auch, dass sie unmittelbar nach ihrer Ankunft hier in Verbania kurz mit dem Bruder telefoniert habe mit dem Ziel, Gharbis Aussage zu verifizieren. Der Bruder hatte allerdings nichts vom Verschwinden seiner Schwägerin gewusst. Zudem bestritt er vehement, dass ihn sein Bruder wegen des Besuchs kontaktiert hatte. Samir sei völlig un erwartet bei ihm aufgetaucht. Er habe das Verschwinden seiner Frau mit keinem Wort erwähnt.

«Die Aussagen des Bruders klangen für mich sehr glaubwürdig», versicherte Martina. Stefano hatte interessiert zugehört. Nach einer kurzen Pause fragte er: «È tutto?» Nein, das war noch nicht alles. Martina berichtete ihm, dass der zuständige Schweizer Staatsanwalt von Gharbis Telefonanbieter Einsicht in die Verbindungen von seinem Handy und seinem Festnetz während der vergange nen sechs Monate verlangen werde.

Stefano nickte, atmete tief ein und ebenso ausgiebig wieder aus. Martinas So loläufe bereiteten ihm Sorgen. Und er sagte ihr das auch in seiner Muttersprache: «Du bist gut, sehr gut sogar. Aber du bist unbelehrbar, Mädchen. Deshalb nehme ich an, dass du dir auch im Klaren darüber bist, dass du die Aussagen des Bruders im Verfahren nicht verwenden darfst. Deine italienischen Wurzeln geben dir nämlich immer noch nicht das Recht, hier bei uns polizeiliche Befra gungen durchzuführen.»

Stefano erzählte Martina damit nichts wirklich Neues. Ob das allerdings noch Gültigkeit hatte, wagte sie zu bezweifeln, vermied jedoch ein längeres Kompe -

30

tenzgerangel. Martina wusste, dass auf der Grundlage eines Abkommens zwi schen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Italienischen Republik über die Zusammenarbeit der Polizei- und Zollbehörden das sogenannte Centro di Cooperazione di Polizia e Dogana (CCPD) in Chiasso gegründet worden war. Dies mit dem Ziel, die grenzüberschreitende Polizei- und Zollzusammen arbeit sowie den Austausch von Informationen zwischen den beiden Staaten zu erleichtern und zu beschleunigen. Zu den zentralen Aufgaben des CCPD ge hörten unter anderem die Bekämpfung von strafbaren Handlungen gegen Leib und Leben, Vermögensdelikten, Drogen- und Menschenhandel, Wirtschafts kriminalität sowie die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität. Im CCPD waren auf schweizerischer Seite die Kantonspolizei Tessin, andere Kan tonspolizeien, das Bundesamt für Zoll und Grenzsicherheit (BAZG) 3 sowie das Staatssekretariat für Migration tätig. Die italienischen Behörden sind in Chias so durch die Polizia di Stato, die Carabinieri, die Guardia di Finanza und die Autorità doganali e monopoli vertreten. Ob die Befragung des Bruders von Gharbi legal war oder nicht, war für Martina unwichtig. Zumindest im Moment. Von grösserer Bedeutung war für sie die Erkenntnis, dass der Tatverdächtige log. Beweiskräftig log. Und er würde ver mutlich noch weiter lügen und alles abstreiten, wenn man ihm den Mord an seiner Frau nicht zweifelsfrei würde nachweisen können. Martina wollte vor Gericht kein Urteil nach dem Grundsatz in dubio pro reo 4. Aus ihrer Sicht konnten die Erkenntnisse aus den bisherigen Ermittlungen und Zeugenbefragungen den erdrückenden Tatverdacht gegen Gharbi nicht entkräften – im Gegenteil, die Indizienkette wurde immer länger. Aber eben, Martina gab sich mit Indizi en nicht zufrieden. Sie wollte keinen Indizienprozess. Also mussten Beweise her – unumstössliche, handfeste Beweise.

Mit einem unüberhörbaren «Venire!» zog Stefano unverhofft die Aufmerk samkeit der Anwesenden auf sich. Mit einer unmissverständlichen Armbewegung forderte er sie zum Gehen auf, machte auf dem Absatz kehrt und führte seine Gäste durch zwei lange Korridore in den hinteren Bereich des Gebäude trakts. Eine Treppe führte ins Untergeschoss. Mehrere Türen beidseits eines weiteren Korridors liessen auf Befragungsräume schliessen. Vor einem dieser Eingänge stand ein Polizist in Uniform, der den ankommenden Gästen knapp, aber freundlich salutierte. In seiner Linken baumelte ein grosser Schlüssel

3

Im Rahmen der Transformation der Eidgenössischen Zollverwaltung (EZV) zum neuen Bundesamt für Zoll und Grenzsicherheit (BAZG) wurde das Grenzwachtkorps per 1. Januar 2021 mit der bisherigen Organisationseinheit «Zoll» im neuen Direktionsbereich «Operationen» zusammengeführt. Der Begriff «Grenzwachtkorps» wird somit nicht mehr verwendet.

4 Der Grundsatz «in dubio pro reo» (lat. «Im Zweifel für den Angeklagten»), kurz Zweifelssatz, ist ein schlagwortartiger Ausdruck dafür, dass im Strafprozess ein Angeklagter nicht verurteilt werden darf, wenn dem Gericht berechtigte Zweifel an seiner Schuld ver bleiben (Wikipedia).

31

Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.