2022 bei Ursella Verlag Ursellen 21 3510 Konolfingen
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ISBN 978-3-03818-431-7
Gewidmet allen Mitwirkenden der beiden Inszenierungen (1981/83) «Und dazwischen ein Schafott».
Und all jenen, denen ich im Laufe der Zeit aus der «Agentur» und dem «Traumgiesser» vorgelesen habe. Insbesondere auch in Gedenken an die Theaterleitung 1230, Regina Christen und Peter Schneider, die viel zu früh aus ihrer Schaffenszeit herausgerissen wurden.
Mein herzlicher Dank geht an meinen Freund Peter Balsiger, der den Text lektoriert hat. Dankbar bin ich auch Manuela Boss für die grafische Gestaltung und Danila Rikas für das Korrekturlesen.
INHALTSVERZEICHNIS
Zu «Alles nur Theater» 7
Und dazwischen ein Schafott 13
Die Agentur 75
Der Traumgiesser 157 Zum Autor 249 Literaturverzeichnis 251
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ZU «ALLES NUR THEATER»
Matthias Steinmanns frühe Bühnenstücke: Eine faszinierende Bilanz seiner ersten Lebenshälfte
Von Peter Balsiger, München
Bereits als 13-Jähriger begann Matthias Steinmann, an seinem ersten Roman «Ein Internat» zu schreiben: Eine Sturm und Drang-Verdichtung, welche die Pubertät eines Jugendlichen der Rock’n’Roll-Generation der 50er-Jahre widerspiegelt. In dem Roman, dessen Sprache an den deutschen Schriftsteller Wolfgang Borchert («Draussen vor der Tür») erinnert, rechnet er mit dem tyrannischen Zwang seiner frömmlerischen Engadiner Lehranstalt ab, er thematisierte die Brutalität der Mitschüler, die ihre Einsamkeit und ihr Heimweh oft mit einer zynischen Attitüde kaschierten. Der Roman wurde nie veröffentlicht. Aber er zeigte den wenigen Lesern des Manuskripts, dass der junge Steinmann unbestreitbar eine literarische Begabung war. Die «Alles nur Theater»-Trilogie seiner frühen Bühnenstücke spiegelt die Essenz seines damaligen Lebens bis zur ersten Lebenshälfte wider. Es sind «leidenschaftliche Ausbrüche gestauter Gefühle», wie er schreibt. So wie er wortgewaltig die traumatischen Erlebnisse seiner Jugend, die ersten Erfahrungen mit Rebellion, Verliebtheit und Sexualität sezierte und Religion und Gott in Frage stellte, trieb er das in seinen drei Bühnenstücken – beginnend mit 17 Jahren bis zur ersten Lebenshälfte – weiter. Seine Erzählkunst stellte er damit auch in den drei Theatern unter Beweis, die in diesem Band zum ersten Mal zusammengefasst sind und veröffentlicht werden. Bereits im Internat vollendete er das erste Theaterstück, das später mit grossem Erfolg vom Theater 1230 in der Berner Altstadt aufgeführt wurde: «Und dazwischen ein Schafott …». Der Einakter war das Resultat eines Autorenwettstreits unter drei begabten Schülern des Internats, die ähnlich wie im Film «Der Club der toten Dichter» einen literarischen Zirkel gegründet hatten.
Das Thema lag von vornherein fest: Zwei Angeklagte – «Einer» und «Nocheiner» – sind mit einer Guillotine in einer Zelle eingesperrt. Nur einer von ihnen kann der Schuldige sein, obwohl sich beide schuldig bekennen. Ihre Schuld? «Einer» hat sich an der Liebe vergangen und «Nocheiner» hat die Macht missbraucht. Da die Aussenstehenden nicht in der Lage sind, ein Urteil zu fällen, sollen die beiden Angeklagten dies selbst tun – und das Todesurteil gleich vollstrecken. Seine beiden Mitschüler wählten die Prosa und die Gedichtform, Steinmann entschied sich für das Schauspiel. Das Stück wurde im Internat nie aufgeführt. Aber Steinmann reichte es später, zu Beginn seines Volkswirtschaftsstudiums in Bern, unter einem Pseudonym bei einem Dramenwettbewerb des Germanistischen Instituts der Universität Zürich ein. Er war zufällig am Anschlagbrett in seiner Uni auf die Ankündigung des Wettbewerbs gestossen. Einige Monate später erhielt er ein Schreiben des Instituts, wonach das «Schafott» mit dem zweiten Platz ausgezeichnet worden sei.
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«Die Agentur» ist ein Stück über Macht und Machtmissbrauch, es enthüllt eine bizarre Welt aus Gier, Aggression, Dekadenz und Zynismus
In der «Agentur» – seinem zweiten Bühnenstück, geschrieben zum OrwellJahr 1984 – brachte Matthias Steinmann seine späteren Erfahrungen als Werbe- und Marketingspezialist sowie als Leiter der psychologischen Abwehr der Schweizer Armee im Range eines Majors ein.
Es ist ein Stück über Macht und Machtmissbrauch, es enthüllt eine bizarre Welt aus Gier, Aggression, Dekadenz und Zynismus. Steinmann: «Das Prinzip der Agentur ist einfach: Sie arbeitet ohne jeden Vorbehalt für jeden Auftraggeber, sofern das Honorar stimmt. Sie verwendet sämtliche Mittel für ihre Zwecke, das heisst vor allem jene der schrankenlosen psychologischen Kriegsführung». Die Umgangssprache in dem Stück ist brutal, menschenverachtend und gelegentlich obszön. «Die Agentur» zeigt, fast wie ein praktischer Leitfaden, wie man einen Politiker «fertigmacht» und wie man eine Marke zerstört.
Wie das aktuelle Beispiel Ukraine zeigt, wird die psychologische Kriegsführung in einem modernen Krieg immer wichtiger. Es sind nicht mehr nur die Soldaten, Panzer und Raketen, die Kriege entscheiden, sondern es geht darum, wer die öffentliche Meinung am besten beeinflussen kann. Nahezu alle Staaten der Welt rüsten zurzeit im Bereich der psychologischen Kriegsführung auf. Es geht um den Kampf um Umfragewerte, die Manipulation der Presse und der sozialen Medien, um PR- und Propaganda-Kampagnen, um die Macht der Bilder, es geht um die Köpfe und Herzen der Bevölkerung. Und um dieses Kriegsziel zu erreichen, zählt meist nicht die Wahrheit, sondern die Kunst der wirksamen Wahrheitsbeugung, der Desinformation, der Manipulation oder der Lüge. Das ist das Schlachtfeld der Moderne, und Matthias Steinmann hat die Instrumente dieser Kriegsführung, die er in der Armee studiert hat, überzeugend in diesem Lehrstück eingesetzt.
Der «Traumgiesser» ist eine schonungslose Analyse von Steinmanns erster Lebenshälfte – mit all ihren Siegen und Niederlagen, ihren Träumen und Visionen
Zwischen 1959 und 1989 schrieb Steinmann permanent am «Traumgiesser», ein Theaterstück, von dem bisher nur Wenige Kenntnis hatten. Es ist der dritte Teil der Trilogie, die mit dem «Schafott» und «Der Agentur» ihren Anfang nahm. Es ist eine Bilanz seiner ersten Lebenshälfte mit all ihren Siegen und Niederlagen, ein Midlife Crisis-Report, transportiert über einen Phantasiedialog zwischen dem «Traumgiesser» und einem Psychiater, der dessen Leben analysiert. Es ist eine schonungslose Analyse der eigenen Traum- und Visionswelt.
Matthias Steinmann über das Stück: «Der ‹Traumgiesser› ist ein Mann, dem als Knabe prophezeit wurde, dass er eine besondere Fähigkeit entfalten würde: nämlich bestimmte Träume so intensiv zu träumen, dass sie sich dann auch realisieren. Er kann auch die masslosesten Träume auf diese Weise Gestalt werden lassen. Aber das Erleben eines solchen Traums ist nur sehr
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kurz. Kaum ist er wahr geworden, erstarrt der Traum in Eisen und bleibt kalt, gegenständlich und tot».
Alle wichtigen Phasen seiner ersten 45 Jahre tauchen als geträumte Realitäten nochmals aus der Erinnerung auf, werden psychologisch gedeutet, teils poetisch verklärt in der Magie der Worte: die Verletzungen der Kindheit, die Internats- und Militärzeit, die Ekstase, die zerstörerische Abhängigkeit und Sucht seiner Affären, die bürgerliche Ehe, das Ende von Beziehungen, die gestern noch von Dauer erschienen. Es sind Fragmente, denn der Autor ist sich sehr wohl bewusst, dass erinnerte Vergangenheit Illusion ist. Die Endfassung schrieb er nach seiner ersten Scheidung, nachts, wenn er oft allein in seinem Schlösschen sass, gequält von Existenzängsten.
Das Theater in Steinmanns Schloss Ursellen wurde zu einer Institution: Treffpunkt von Künstlern, Politikern, Medienund Filmleuten, Werbern und Militärs
Das Theater 1230, in einem düster-muffigen Keller an der Kramgasse 4 in der Berner Altstadt gelegen, spielte damals eine wichtige Rolle in seinem Leben. Steinmann hatte eine Vorstellung des Theaters gesehen und war beeindruckt. Eine verrückte Truppe, die sich auch nicht scheute, sich auf der Bühne auszuziehen, was sogleich die Berner Sittenpolizei auf den Plan rief. Im prüden Bern der 1980er-Jahre war diese Freizügigkeit zumindest kulturell grenzwertig. Aber Steinmann ahnte, dass dieses Ensemble genau richtig war, um seine «Agentur» aufzuführen.
Er lud also die Schauspieler auf sein Schloss ein, las ihnen aus dem Stück vor und zeigte ihnen auch ein Video seines anderen Theaterstücks («Und dazwischen ein Schafott …»), das er 1981 während eines Workshops mit Freunden seiner Kinder aufgenommen hatte. Den Dachboden des Schlosses hatte er für diesen Zweck zum Theater umgebaut und er liess eine Guillotine bauen, die er prominent auf der Bühne platzierte.
Die Leitung des Theaters 1230 war beeindruckt. Nicht von der «Agentur», sondern vom «Schafott». Dieses Stück wollten sie aufführen. Es kam 1983 auf den Spielplan des Theaters, die Aufführungen waren jedes Mal ausverkauft und die Spielzeit musste mehrfach verlängert werden. Dies, obwohl der Theaterkritiker der «Berner Zeitung» nach der Premiere herumgemäkelt hatte, die Inszenierung wirke «überladen bis zum Schwulst». Als Autor des Stücks wurde übrigens ein gewisser This Sidi genannt – Steinmanns literarisches Pseudonym.
Der Plan des Theaters, «Die Agentur» später ins Repertoire aufzunehmen, wurde nie umgesetzt. Das lag daran, dass der erfahrene Regisseur Peter Schneider, der schon beim «Schafott» Regie geführt hatte, meinte: «Das Stück ist ebenso brillant wie schwer aufführbar.»
Das Theater in Steinmanns Schloss Ursellen wurde damals zu einer Institution in Bern, Treffpunkt von Künstlern, Politikern, Medien- und Filmleuten, Werbern und Militärs. Ein gesellschaftliches Ereignis waren die Theatertage, die ab 1984 regelmässig in Ursellen stattfanden. Das Theater 1230 spielte dort jahrelang die berühmten Gotthelf-Dramen und später auch Stücke von
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Friedrich Dürrenmatt. Die Aufführungen fanden jeweils von Mittwoch bis Sonntag statt, und an jedem Tag war ein ganz spezielles Publikum geladen. Mittwoch und Donnerstag waren reserviert für seinen Förderverein, der rund 500 Mitglieder zählte. Der Freitag war für die Medienleute und die Werber unter Steinmanns Freunden bestimmt. Am Samstag war «Krawattentag» – im Zuschauerraum sass die Prominenz, darunter auch der spätere Deutschbänker Josef Ackermann oder Generalstabschef Jörg Zumstein, der SRG-Generaldirektor Antonio Riva oder Achille Casanova, der Vizekanzler und Sprecher des Bundesrats.
Die Inszenierungen der zeitkritisch arrangierten Gotthelf-Dramen waren meist provokativ, die Auftritte spektakulär. Die Theater-Truppe verstand es, das Publikum zu involvieren – und zu schockieren. Da wurde auf der Bühne auch schon mal gekreuzigt und guillotiniert, es floss Theaterblut und es wurde heftig geprügelt. Oder die Schauspieler warfen Münzen unter die Zuschauer, um so die Gier der Menschen anzuprangern.
Die Sonntagsvorstellung war für die Bewohner von Ursellen reserviert. Der Zug der Bauern – im besten schwarzen Sonntagsanzug – und ihrer Frauen formierte sich auf dem Dorfplatz und zog dann über die schmale Zufahrtsstrasse zum Schloss. Für die Bewohner war es ein Highlight des Jahres. Später folgten weitere Romane und Theaterstücke. Die NZZ stellte sein 1993 erschienenes Frühwerk «Nachtfahrt», ein psychologischer Thriller, der jetzt unter dem Titel «Die Todesanzeige» neu aufgelegt wurde, prominent vor. Das ist in der Kulturszene wie ein Ritterschlag. Und das ZDF prüfte sogar, den Roman als Koproduktion mit der SRG zu verfilmen.
Jetzt, im Alter, schließt sich der literarische Kreis wieder. 14 Bücher hat Matthias Steinmann in den letzten Jahren veröffentlicht. Darunter 2019 den Roman «Ellen & This», der seine erste grosse Liebe im Internat von Samaden dokumentiert. Er beschreibt die glückseligen Momente einer Jugendliebe, über der bald ein Hauch von Wehmut und bittersüsser Tragik liegt.
Der Held seiner drei Jakobsweg-Thriller ist ein «einsamer Wolf», ein Mann mit Vergangenheit und mit einem ganz eigenen moralischen Kompass
Ausserdem hat der leidenschaftliche Pilger eine Jakobsweg-Trilogie verfasst. Steinmann über diese Krimi-Serie: «Ich denke mir während dem tagelangen und oft monotonen Gehen Geschichten aus, die eben nicht so fromm, spirituell und mainstreamig sind, wie sie sich in der reichlichen Literatur und den Online-Foren zum Thema Jakobsweg finden».
Die Serie umfasst drei fesselnde Psychothriller über die grossen Themen Freundschaft und Loyalität, Gier und Betrug, Liebe und Verrat.
Der Held ist ein einsamer Wolf, ein Mann mit Vergangenheit – einst Fremdenlegionär und später erfolgreicher Werber – und mit einem ganz eigenen moralischen Kompass. Auf der legendären Pilgerroute nach Santiago de Compostela, auf der üblicherweise Ich-Sucher und spirituelle Touristen unterwegs sind, erlebt dieser Held zahlreiche spannende Abenteuer, die in einer schnellen und schnörkellosen Sprache erzählt werden.
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2021 hatte Matthias Steinmann die Familiensaga «Emmentaler & Nostrano» beendet. Die Chronik, die die Schicksale der beiden Familien Steinmann und Galli über mehrere Generationen hinweg umspannt, umfasst 859 Seiten –und wiegt 1,8 Kilo.
Neu aufgelegt wurde auch sein Roman «Die Pferdfrau», ein Krimi aus der Medienszene, der eigentlich bereits 1996 erscheinen sollte. Aber das Werk war brisant, es war ein Schlüsselroman aus dem Umfeld der SRG, und die Hauptfigur, die «Pferdfrau», war für Insider klar identifizierbar. Der Verlagsprospekt war bereits gedruckt, Steinmann stoppte jedoch die Veröffentlichung, weil er zu diesem Zeitpunkt als Kandidat für den Posten des SRG-Generaldirektors nominiert worden war. Ausserdem drohte die Hauptfigur, die von der Veröffentlichung Kenntnis erhalten hatte, mit rechtlichen Folgen.
Fünf Jahre später erschien eine überarbeitete Version des Romans unter dem Titel «Die Weynzeichen-Recherche». Die «Weltwoche» deckte damals in einer grösseren Story mit der Headline «Eine Abrechnung im Milieu» die tatsächlichen Hintergründe des Schlüsselromans auf und nannte auch die unter Pseudonym auftretenden Akteure beim wahren Namen. Der Roman spielt in jenem Milieu, das Steinmann bestens kennt: Im Machtgefüge der großen internationalen Radio- und Fernsehwelt, in der wie überall, wo es um Big Business geht, auch Krieg herrscht – Krieg um Einfluss und Herrschaft, eine Welt, in der Karrieren gemacht und zerstört werden, in der Intrigen und Verschwörungen, Ehrgeiz und Machtgelüste, Erpressung und mafiöse Verwicklungen nicht selten zum Tagesgeschäft gehören. Sein Insiderwissen und seine Erfahrungen als Akteur in dieser Welt der mächtigen Meinungsmacher verleihen dem fiktionalen Dokument eine beklemmende Authentizität.
2020 wurde der Roman, diesmal unter dem Titel «Die Pferdfrau», neu aufgelegt. Die ganze Bandbreite seiner literarischen Arbeit dokumentiert Matthias Steinmann zudem mit zwei Kinderbüchern: «Flieg, Jorim flieg!» und «Emma und Noah in Italien».
Sein Leben weist jenseits der Versuchungen von Ruhm, Macht und Geld noch viele Facetten auf, die sich noch einmal zu einem großen Roman zusammenfügen lassen.
Sein vorläufig letztes Buch «Der Gehenkte zu Schloss Wyl» ist eine halbwahre Geister-Geschichte, ein Thriller, der vorwiegend auf seinem Schloss Wyl spielt. Matthias Steinmann entdeckt darin wieder seine Lust zur Provokation. Im Klappentext heißt es: «Der Text ist gewürzt mit zynischen, lässig-coolen und sarkastischen Sprüchen, die allerdings nicht immer den Anspruch von ‹Political Correctness› erheben». Und Steinmann warnt ganz offen die leserbriefschreibenden Oberlehrer und die Bildungsbürger vor der Lektüre des Buchs.
Werden noch weitere Bücher folgen? Wenn er manchmal auf seinen Wanderungen den Stoff seines Lebens vorbeiziehen lässt, dann weiss er, dass sein Leben jenseits der Versuchungen von Ruhm, Macht und Geld noch viele Facetten aufweist, die sich noch einmal zu einem großen Roman zusammenfügen lassen.
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UND DAZWISCHEN EIN SCHAFOTT (1960)
Pathetisches Kurzspiel über Liebe, Eigensucht und Schuld
von Matthias F. Steinmann
UND DAZWISCHEN EIN SCHAFOTT
Pathetisches Kurzspiel über Liebe, Eigensucht und Schuld von einem jugendlichen Autor
Zeit: 1960
Personen: – Autor: 17 Jahre alt – Schafott: 268 Jahre alt – Einer: 23 Jahre alt – Nocheiner: 40 Jahre alt – Sie (Ellen): 20 Jahre alt – Jüngling: 18 Jahre alt – Sechs Henker und ein Oberhenker, zugleich sieben Richter, zugleich sieben Minister (in unterschiedlichen Masken unbestimmten Alters)
Ort: Der Einakter hat drei Schauplätze.
Der erste und Hauptschauplatz ist eine Gefängniszelle mit einem Schafott bzw. Guillotine darauf. Den Hintergrund bilden die stets anwesenden Henker in Henkerskapuzen und -gewändern.
Der zweite Schauplatz (Rückblende) wird durch ein Bett angedeutet. Bei der ersten Rückblende sitzen Einer und Ellen auf dem Bettrand. Bei der zweiten Rückblende liegen sie im Bett.
Der dritte Schauplatz stellt ein Ministerkabinett dar (wieder eine Rückblende). Langer Tisch, hohe Lehnstühle, im Hintergrund ein Fenster, durch den Fensterausschnitt wird angedeutet, dass sich der Raum im 3. oder 4. Stock eines Gebäudes befindet.
Bemerkungen: Das Schafott bzw. die Guillotine versteht sich als Person. Hierfür gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder wird ein Lautsprecher sichtbar am Blutgerüst angebracht, oder der Spielleiter spielt das Schafott; doch muss dem Zuschauer klar werden, dass der Spielleiter die Seele des auf der Bühne befindlichen Schafotts dar stellt.
Der Chor der Henker soll an einen Totentanz erinnern. Henker, Richter und Minister müssen von denselben Personen gespielt werden.
Für die Begleitmusik eignet sich (1960) am besten Modern Jazz, zum Beispiel: Modern Jazz Quartett, und zwar insbesondere Odds Against Tomorrow als Hauptthema.
Die Szenenwechsel werden durch Verdunkeln angedeutet.
Der Autor 1960
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SCHNITT 1
(Musik, leiser werdend)
Schafott:
Es liegt an mir, dem Schafott, das Kurzspiel zu Liebe, Eigen(in Pausen, etwas zerstreut) sucht und Schuld zu eröffnen. Das ist gut so. Für mich jedenfalls. Ich geniesse sie, voll und ganz koste ich sie aus, die Eröffnungsworte. Denn bisher verpflichtete mich mein Körper zum letzten Wort und niemals zum ersten. Überhaupt. Letzte Worte!
In meinen wilden Kinderjahren, als sich noch bis zu 45 Kunden pro Stunde auf mir blutig auspulsten – ich machte gerade Geschichte und die Franzosen mit mir – habe ich letzte Worte gesammelt. Meine lieben Kunden. Wie ulkig zum Teil meine Kunden waren! Und trotzdem war es immer gleiches Blut, das mein Gerüst befleckte. Dunkelbis hellrot, und etwas klebrig.
Ihr habt es längst entdeckt, ich bin alt, sehr alt sogar und weiche dauernd vom Thema ab.
Wie gesagt – ich hatte die Gewohnheit, letzte Worte meiner Kunden zu sammeln. Auffallend war, dass damals ein jeder meiner Kunden für irgend etwas sein Leben verlieren wollte. Sie starben für Vaterländer, für Könige, grosse Leute und hin und wieder für Gott, aber hauptsächlich für Ideen. Immer wieder Ideen, obschon sie durchaus schon wussten, dass der Geist im Kopfe haust, den ich ihnen vom Körper schnitt. Doch nicht deshalb erzähle ich das. Denn die Ideen habe ich natürlich schon längst vergessen.
Der andere Fall ist bemerkenswert.
Selten, sehr selten sogar, verschloss der Mund dem letzten Gedanken den Weg in diese Welt. Eigentlich schade –denn viele dieser harten Kunden, die stur ihre Augen, zwar glänzenden Augen, auf die Bohlen der Blutstätte richteten, nicht sprachen, nur blickten, einzig blickten, mit inniger Aufmerksamkeit ihre Lippen zerfaserten, hätten vielleicht dieser Welt, in der der Tod das Mass des Lebens ist, noch Wichtiges zu sagen gehabt. Aber nein, – nein – sie schwiegen, vielleicht, dass die Kraft ihres Gedankens sie selbst erdrückte und nur ich ihnen Erlösung sein konnte. – Ja, mir scheint, Erinnerung an Schweigen ist oft wacher als Erinnerung an Worte.
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Um es übrigens genau zu nehmen, ich bin nicht das Schafott, sondern die daraufstehende Guillotine, die da spricht. Obwohl also wesentlich jünger, wäre – nach Ansicht des jugendlichen Autors – so viel Leben durch mich in den letzten 268 Jahren bildlich beschnitten und so viel Geist und Seele aus zuckenden Körpern auf mir entäussert worden, dass ich nicht anders gekonnt hätte, als aus diesem grossen Sterben selbst Leben, Geist und Seele zu gewinnen. Allerdings – so meint er – nur langsam und stetig. Eine Art Seinswerdung über Jahrhunderte sozusagen.
Dr. Ignaz Guillotin und dem Konvent sei Dank dafür – kam keiner früher auf diese glorreiche Idee. Es wäre da sicher oft etwas zu sagen gewesen. Doch heute – ich verstaube so vor mich hin und das grosse Vergessen legt sich dumpf auf mancherlei, auf Lautes, Brüllendes, Blitzendes, auf Weinen und stolzes Schreien; doch was mir bleibt ist nur das Gefühl des pulsierenden und klebenden Blutes. Das vergisst man nicht.
Aber lassen wir das. –
Man braucht mich nicht mehr. –
Geschichte wird heute nur noch mit Geld und Armeen geschrieben und was da auf dem elektrischen Stuhl- mit Gas, mit Kalaschnikows oder M-1 gewerkelt wird, sind bestenfalls Geschichten.
Nun denn:
Der Autor – 17 Lenze jung – gibt mir eine Gelegenheit, am Anfang zu stehen und zu leben, so wie er sich das denkt. Verzeiht es ihm: Denn Jugend kann Alter nicht ermessen, sie sieht den Zustand und kaum den Weg dahin.
Ich meine auch – und das möchte ich unterstreichen –seine Sprache, sein Stil, vor allem sein Pathos sind sicher Zeichen einer ihm zuletzt bewussten Unschuld und fehlender Anpassung an den schriftstellerischen Zeitgeist.
Dies zu verzeihen bitte ich Sie allerdings nicht. Nicht er, sondern wir Alten und Uralten müssen uns befreien, um zu verstehen.
Weshalb erzähle ich das alles? Ich werde alt … Langweile ich Sie? Wie gesagt, ich empfinde das Gefühl, am Anfang zu stehen, als neu. Mir ist, als ob im grossen Spiel ein wenig gemogelt würde und man mir eine längst ausgespielte Karte zugeschoben hätte. So werde ich sie eben ausspielen.
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Pause Nun denn: Obwohl sich aber mein Erinnern mit dem Blutgeruch verflüchtigt hat, gibt es doch einen Gedanken, einen greifbaren Gedanken sogar, der meiner Arbeit entsprang. Doch ihr werdet sehen.
Chor der Henker: Wir sind die Henker, Henkersknechte Erkoren zu den Hütern aller Rechte die Ewigkeit und Welt verbinden Dort, wo sich alle Wege finden Dort ist’s in unsere Händ gegeben zu erfüllen, zu beenden, dieses Leben. Wir dürfen würgen, dürfen morden Sie sterben jetzt in hellen Horden Wir dürfen töten und tun es auch Und Leben vergeht zu schalem Rauch der als Erinnerung nur fade haftet. Doch junges Blut, das spritzt und saftet Wäscht auch sie und wird zu ihr Denn am Ende jeder Lebensgier stehen, stehen – stehen wir Die Henker, Henkersknechte hier.
Schafott: (träumerisch) Habt ihr sie auch gehört? Habt ihr ihre Stimmen vernommen? So lebensnah und lebensweit zugleich boten sie die Grenzen meiner Kunden dar. Lieben sie nicht Worte, die durch ihr Gewicht Kiefer ausrenken, Löcher in die Bretter dieser Stätte schlagen, Worte, die mich zum Herrscher wählen? Doch halt – ihr da – Henker, was wollen die zwei?
Oberhenker: Dich.
Schafott: Mich?
Oberhenker: Zwar wird es nur einer von beiden sein.
Schafott: So, einer? Welcher? Der mit den Seidenhaaren, der träumt, oder das Bündel Kraft, das nur schläft?
Henker I: Wir wissen es nicht.
Henker II: Noch nicht.
Henker III: Bald werden wir es erfahren.
Henker IV: Das wird ein Schauspiel geben.
Henker V: Ein pathetisches.
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Henker IV: Dann wissen wir’s.
Schafott: Ruhe! Dummes Geschwätz! Henker, wer ist’s? Wer ist der Glückliche? Oder Unglückliche?
Henker VI: (leise) Ich ahne nur, was Glück vom Unglück scheidet, doch wird es die Bewegung sein, die der Welle ähnlich, bald hoch, bald tief, sich nur durch Raum erkennen lässt.
Schafott: (schroff) Schönschwätzer, so sagt’s endlich!
Henker VI: So leid es mir tut, ich kann Dir keine Auskunft geben. Es ist noch nicht bestimmt. Doch – mit Goethe – Dein Wanderstab, der Disteln köpft dem lächelnden Jungen gleich, der seine Lehmfiguren enthauptet, wird seine Forderung mit Blut genug bezahlt werden.
Schafott: (spöttisch) Aha, auch ein Henker mit Kultur. Gibt’s das immer noch? Trotzdem, ich begreife nicht. Wie Menschen leben, so verurteilen sie oft und richten doch selten. Es bleibt sich’s gleich, die Schuld verknüpft.
(laut) Zum Robespierre! Ich will die Richter sehen.
(Die Henker formieren sich zu einem Gericht)
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SCHNITT 2
Alle als Richter
Oberhenker: Ruhe im Gerichtssaal! Bevor wir zum Urteil gehen, werden wir noch einmal den Fall erörtern.
Henker I: Um sechs Uhr, als der Hahn krähte …
Henker II: lag sie tot.
Henker III: Tot,
Henker IV: einfach tot.
Henker I: Und um sechs Uhr, als der Hahn krähte, entdeckte sie der Milchmann.
(sehr schnell)
Henker II: Ermordet.
Henker III: So brauchte sie auch keine Milch mehr.
Henker I: Um sechs Uhr fünfzehn kam die Polizei und verhaftete die Mörder.
Schafott: Die Mörder?
Oberhenker: Genug, genug. Ein jeder der beiden gestand die Tat. Nur leider einer zuviel. Denn beide beanspruchten sie für sich und bestritten sie einander gegenseitig.
Gut – wir werden ihnen kein Urteil fällen, aber ihr Urteil wird sie fällen.
Henker VI: (sehr impulsiv) Ist das gerecht? Sind wir Götter, die Söhne verstossen dürfen? Sind wir befugt, der Göttersöhne Schicksal zu weben? Wer masst sich in diesem Raume an, Gott zu sein?
Oberhenker: Mein Lieber, wir kennen Dich und Deine pathetischen Marotten. Du bist überholt. Abgewrackt. Auf dem Abstellgleis oder im Museum.
Henker VI: (leise) Ach, wer sind denn wir?
Oberhenker: Ich bitte um Ruhe im Gericht. Das Urteil lautet Tod durch die Guillotine. Mit der Einschränkung, dass nur einer die Strafe erleiden muss, kann. Wer, das ist die Frage.
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(zu Henker VI gewandt)
Vielleicht werden es Deine Götter entscheiden, nicht?
Doch die Tatsache bleibt die: Beide werden in eine Zelle gesperrt, mit ihnen das Schafott.
Die Schuldfrage wird den beiden überlassen. Einer aber muss drauf, … der andere wird frei.
(Sie verwandeln sich sofort wieder in Henker)
Chor der Henker: Einer muss drauf, muss drauf, Die Münze ist das Leben, Und einer wird sie geben, Seine Schuld wird er bezahlen Und die Zeit wird weitermahlen. Einer muss drauf, muss drauf Und alles, alles kostet dieser Kauf.
Schafott: So, jetzt wissen wir’s.
Nach dieser Einleitung der Richter, der eigentlichen Exposition des Kurzspiels über Liebe, Eigensucht und Schuld, wird uns wohl ein kurzer Exkurs ins Lyrische die Hauptdarsteller näher bringen.
Im übrigen seien die beiden noch kurz vorgestellt: Zur Rechten: Einer; Zur Linken: Nocheiner.
Ihr seht, es ist hin und wieder der Autor, der mich als Sprachrohr nutzt. Unter uns gesagt: Beachtet ihn und seine Worte nicht allzu sehr. Eine Revolutionserfahrung meinerseits: Nicht jeder Kopf, der spricht, denkt auch. Überhaupt, die Sprache, in die er uns zwingt. Scheint sie nicht ein Bastard aus Altem und Neuem zu sein?
Eine Mischung von nicht gesetzter Gymnasialliteratur und atemlosem Sturm und Drang? Nicht? Und dann, der Inhalt, das Motiv.
Doch eben … ich rede zuviel. Und es gehört sich nicht für eine Figur des Stückes, den Verfasser zu kritisieren.
Andere werden das kompetenter tun.
Wie gesagt, jetzt zum lyrischen Teil der Exposition.
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SCHNITT 3
(leise Musik)
Henker VI: Einer träumt und unaufhörlich ziehen Bilder von ihm weg, und wieder zurück. Soll ich euch die Bilder erzählen? Ja … gut.
Schafott: Halt, mein Lieber. Das Folgende wurde vom Autor gekürzt. Du, Einer, beginne Du mit des Säufers Gebet. Ihr müsst wissen: Einer trinkt nämlich.
Einer: Schnaps, bleib mir treu Du wärmst. Ersticke, ersticke alle Reu Du wärmst.
Schnaps, nimm mich mit Du verzauberst leise. Schnaps, preise überfliessend, Entrücke das Sein von mir. Die Tiefe erschliessend Entrücke das Sein von mir.
Nocheiner: (zynisch) Kleines schwarzes Pünktchen in der toten Weite, was badest Du in der Kälte, Kleines
Schafott: (unterbricht) Auch das wurde gekürzt. Einer, fahr fort.
Einer: Schnaps, erfülle diese Leere Schenk mir die Rosen! Ich ertrinke in diesem Meere Schenk mir die Rosen!
Chor der Henker: Wie Du forderst, wirst Du leiden, zwar wirst Du aus dem Leben scheiden. Drum sei erfüllt, Dein gross Begehren Und Leben quillt sich zu vermehren Aus dem Füllhorn Deiner Zeit Deiner kleinen lächerlichen Vergangenheit.
Henker VI: Da – ein neues Bild – im fetten Rasen treibt ein leiser Wind sein warmes Spiel …
Schafott: Ich hab Dir doch gesagt, Du seist gekürzt.
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Einer: Was soll das? Nein … Nein … Traum, Traum der Tage, entschwinde! Du greifst nur nutzlos das Gold der Sonne. (schreit) Verschwinde!
Henker VI: Und er entschwand. Der Traum im Traum.
Schafott: Psst: endlich!
Einer: Schnaps, willst Du Tage deuten Wer bist Du? Willst Du die Glocken der Ferne läuten? Wer bist Du? Wer bist Du, Schnaps?
(kurzes Verdunkeln)
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SCHNITT 4
(Dunkel)
Schafott: Endlich. Ich konnte es kaum mehr erwarten, das Ende des Lyrischen. Mir scheint, es tut sich auch zu wenig. Wir wollen Handlung, Spannung, Kampf und Leidenschaft, nicht Lyrisches, das sich nicht begreift. Symbole, Bilder, Gleichnisse, weshalb? Aha, dort geschieht etwas.
Nocheiner: (erwacht) Scheine geschlafen zu haben. (richtet sich auf) Geschlafen zu haben? (springt auf) Ich kann noch schlafen. (eilt zu Einer) Da schläft Einer. Auch er scheint den Mut aufzubringen, bedingungslos die Augen zu schliessen, zu vergessen, einfach zu entgleiten und seinen Körper wie ein Möbel im Raum zurück zu lassen. Wo wird er sein?
Aber wir beide können noch schlafen. Trotz … trotz. Nein, das Wörtchen heisst: dank. Wir können wir? Nein ich … ich.
Ich kann noch schlafen, dank einer Schuld, die das Wachsein nicht erträgt. Ein Wachsein, das zwar die Träume vergisst. – Dieser Einer da bildet sich die Schuld ein, sie durchgeistert ihn, wie ein Wahn. Narr, der Du bist, Narr.
(geht aufs Schafott zu) Ich muss, ich muss, es wird so am besten sein. Für diesen da wird sich der Konflikt im Schlafe lösen.
(lacht) Den Seinen gibts der Herr im Schlafe.
(er legt sich aufs Schafott) Dann gute Nacht, Einer. Henker! Henker!
Chor der Henker: Den Tod willst Du Oder nur ein wenig Ruh.
Nocheiner: Schweigt, romantische Idioten. Tut Eure Pflicht, lächerliche Sprücheklopfer. Habt ihr Henker euch je gefragt, weshalb ihr dieses Amt bekleidet? Habt ihr? Die Zeiten, die Gesetze, die Richter wechseln – doch ihr seid immer dieselben. Was kümmert’s euch.
Chor der Henker: Wir, wir alle …
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Nocheiner: (unterbrechend) Schweigt, dämliche Schemen. Wer von euch hätte den Mut, Richter zu sein. Henker sein … ach wie lächerlich … und doch glaubt ihr, es berechtige euch, moralisch zu sein. Sprüchedrescher, billige, ihr!
Tut eure Pflicht! Pflicht und ihr Bewusstsein! Verantwortung und ihr Bewusstsein!
Das wird wohl alles sein, was euch Inhalt geben kann. Ihr pfiffigen, ihr pfiffigen Beamtenseelen. Inhalt wird es euch wohl geben, doch … (schreit zum Publikum das gibt euch noch lange kein Recht zur Selbstgerechtigkeit. im Saal) Spiesser! (zu den Henkern) So, ihr ewig Pflichtbewussten, so tut sie denn, eure Pflicht. (Die Henker beginnen ihn festzuschnallen)
Einer: (erwacht) Mir hat komisch geträumt. – Wo ist Nocheiner? (übersieht die Situation, Nein, nein! Hört auf. Seid ihr wahnsinnig! fährt auf) Er ist doch unschuldig. Ich bin es, ich. Ich war der Mörder. Ich bin der Mörder. (wirft sich zwischen Mich tötet. Mich! die Henker)
Nocheiner: Fährt fort. Pflicht, Pflicht. Tut sie. Er spinnt.
Einer: Nicht wahr! Er verstellt sich nur. Ich bin’s. Schwein. (weint fast vor Wut) Weg den Hund, Kusch, kusch. Ich bin’s. Leute wollt ihr hören. Affen, Affen.
Nocheiner: Schweig. Quasselweib.
Einer: Affen … (schlägt einen Henker nieder)
Nocheiner: Willst Du Arzt spielen, der Leiden verlängern will, um human zu sein. Kleiner, dreckiger Selbstmörder.
Einer: Selbstmörder. (Einer wird von zwei Was hält ihr mich, lasst mich los. Ich will drauf, drauf will Henkern gehalten) ich.
Nocheiner: Hoppe, hoppe Reiter, kleiner, dreckiger Selbstmörder. Verkriech Dich in deinen Kinderschlaf. Lulle dich mit Deinen süssen Kinderträumen ein und lass Dir den Nektar …
Einer: Lächerlich. Affen … Affen.
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Nocheiner: Den Nektar der Illusion einschenken. (brüllt) Aber nicht hier.
Einer: Richtet nicht den Unschuldigen.
Nocheiner: Sie richten nicht, sie tun nur ihre heilige Pflicht.
(inzwischen stehen die Henker unschlüssig herum)
Einer: (leise) Ich habe getötet. Bin Mörder. Mörder. Soll frei sein? Mörder. Soll frei gehen, mit dem Lachen der gebüssten Schuld im Nacken, gebüsst durch einen Andern? … Dann doppelte Schuld!
Wahnsinnige … tötet mich!
Nocheiner: Tut wie Euch geboten. Hört dem Narren nicht zu.
Oberhenker: Ich bin unschlüssig, wie wir handeln sollen. Uns wurde gesagt, dass wir den Schuldigen töten sollen, und zwar den von euch selbst als schuldig befundenen.
Einer: Das bin ich
Nocheiner: … nein ich!
Oberhenker: Mir scheint aber, dass Ihr euch noch nicht geeinigt habt. Und deshalb ziehen wir uns zurück. Schaut, dass ihr bald mit der Schuldfrage zurecht kommt.
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SCHNITT 5
(Stille)
Nocheiner: Jetzt hast Du Dein Ziel erreicht. Und bist Du dadurch weiter gekommen? Hä? Nein, alles ist, wie es war. Ja, jetzt würde mein Kopf, dieser Kopf, vom Rumpfe getrennt, dort im Sägemehl liegen … weg, weg die Schuld. Wenn nicht Du …
Einer: Bist Du ein Mörder?
Nocheiner: Ja.
Einer: Du willst der Mörder dieser Dirne sein, wo wir uns zum ersten Mal trafen? Du willst der Mörder dieser blutigen Hure sein, bei der unsere Wege zu einem Weg wurden, und der in diese Zelle führte?
Nocheiner: Nein, natürlich nicht.
(Stille)
Einer: Ich habe es längst gewusst.
Nocheiner: Und Du, bist Du der Mörder?
Einer: Zum Mörder gestempelt, verflucht, von sich selbst verfolgt, (leidenschaftlich) leben heisst ewig sterben. Du willst davonrennen, fliehen, vor dem Schatten Deiner Tat, der dich sucht, dich immer wieder findet. Du wirfst dich in den Trubel der Lust, tauchst unter im Lärm der Fröhlichkeit. An den Zitzen der Brüste des gemeinen Lebens willst du dich berauschen, trunken sein, Dionysos, vivat Bacchus schreien. Ach Mensch … treib nicht Unzucht mit Dir selbst. Denn jeder Blick über die Schulter lässt auch kochendes Blut erschauern. Ein jeder Blick zurück versichert: Nein, Brüderchen, nein, hier bin ich. Du entrinnst mir nicht. Ob ich ein Mörder bin, frägst Du? Ob ich ein Mörder bin?
Nocheiner: Ja, … den Mörder in Dir glaube ich. Doch der Mörder der Dirne bist Du nicht.
Einer: Ich bin es nicht. Aber …
Nocheiner: Auch ich habe das längst gewusst.
Einer: Wessen Mörder bist Du denn?
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