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Alle Angaben in diesem Buch wurden vom Autor nach bestem Wissen und Gewissen erstellt und von ihm und dem Verlag mit Sorgfalt geprüft. Inhaltliche Fehler sind dennoch nicht auszuschliessen. Daher erfolgen alle Angaben ohne Gewähr. Weder Autor noch Verlag über nehmen Verantwortung für etwaige Unstimmigkeiten.
Alle Rechte vorbehalten, einschliesslich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe.
© 2023 Weber Verlag AG, 3645 Thun/Gwatt
Idee und Texte: Beat Hugi
Illustrationen: Karin Widmer
Gestaltung: Karin Widmer, Beat Hugi
Weber Verlag AG
Satz: Cornelia Wyssen
Bildbearbeitung: Dominic Fischer
Lektorat: Madeleine Hadorn
Korrektorat: David Heinen
Der Weber Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.
ISBN 978-3-03818-446-1
www.weberverlag.ch
Der kleine Aletschfloh wohnt immer noch auf dem Grossen Aletschgletscher hoch oben in den Schweizer Alpen. Auch wenn er im letzten, heissen Sommer mehrmals umziehen musste. Die Sonne hat das Eis des Gletschers geschmolzen. Immer wieder spülte das Wasser die Wohnungen des kleinen Aletschflohs und anderer Gletscher floh-Familien unter dem Eis weg. Die Gletscherflöhe mussten sich an die Oberfläche retten. Dort fühlen sie sich ganz und gar nicht wohl. Sie leben im Eis, nicht auf dem Eis.
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Das erzählt der kleine Aletschfloh seinem Freund, dem Distelfalter. Der besucht ihn ab und zu und fragt nach seinem Wohlbefinden.
Der kleine Aletschfloh sorgt sich aber nicht nur um seinen Lebensraum, er sorgt sich auch um die anderen Gletscherflöhe auf den kleineren und immer kleiner werdenden Gletschern rund um den Grossen Aletschgletscher. Der Distelfalter weiss nur zu gut, dass sich Gletscherflöhe nur in der eisigen Kälte der Gletscher wohlfühlen.
«Lieber Distelfalter», sagt der kleine Aletschfloh, «ich kann zwar als kleiner Gletscherfloh grosse Sprünge machen, aber bis zu den anderen Gletschern schaffe ich es in hundert Jahren nicht. Du aber kannst ja fliegen. Willst du dich für mich auf die Suche nach anderen Gletscherflöhen machen und schauen, ob es ihnen gut geht? Schön wäre es, wenn du wenigstens den kleinen Challifloh auf dem Oberen Grindelwaldgletscher finden könntest. Ich habe ihn zwar nie getroffen oder gesehen. Aber ich habe schon mehrmals von ihm geträumt.»
Der Distelfalter hört dem kleinen Aletschfloh still zu. Dann flattert er mit seinen beiden bunten Flügeln und nickt. «Ich will es gerne versuchen», sagt er, «obwohl auch ich bei dieser heiklen Aufgabe auf die Hilfe anderer Tiere angewiesen bin. Nur so kann es gelingen. In der Gegend, wo du den Challifloh vermutest, leben keine Distelfalter wie ich, aber sicher andere Schmetterlinge, wie ich sie schon gesehen habe, wenn ich im Herbst aus dem Norden Richtung
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Aletschgletscher fliege. Ob es dort aber Artgenossen unserer Freunde hier gibt, will ich gleich nachfragen, bevor ich abfliege.»
Der Distelfalter verspricht dem kleinen Aletschfloh, ihm nach seiner Rückkehr von seiner Reise zu berichten.
Es dauert nicht lange, da hat der Distelfalter ein paar seiner besten Freunde zu einem Treffen versammelt. Die Gämse, das Murmeltier, den Hirsch, das Alpenschneehuhn und den Steinbock. Der Distelfalter setzt sich auf eines der Hörner des Steinbocks, um die Übersicht zu haben. Zusammen mit der Smaragdeidechse und dem Schwarznasenschaf hatten sie alle früher schon herausfinden wollen, warum der Grosse Aletschgletscher und damit die Heimat des kleinen Aletschflohs schmilzt. Warum der Fels unter den Füssen von Steinbock und Gämse immer mehr abbröckelt. Warum das Murmeltier im Sommer weniger Zeit hat, sich den nötigen Vorrat für seinen Winterschlaf anzufressen. Sie haben herausgefunden, dass die Menschen mit all dem viel zu tun haben.
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«Das wird wohl auch in der Gegend, wo der Challifloh leben soll, nicht anders sein», beginnt der Distelfalter seine Rede an seine Freunde. Er erzählt ihnen, dass er sich im Auftrag des kleinen Aletschflohs auf die Suche nach dem Challifloh machen wird.
«Da der Weg weit ist, werdet ihr mich leider nicht begleiten und mir nicht helfen können.»
«Doch!», sagt der Steinbock unter ihm etwas trotzig. Und die anderen rufen wild durcheinander: «Doch, doch!»
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Das Murmeltier will es dem Distelfalter erklären: «So wie es auf dem anderen Gletscher kleine Lebewesen wie den Aletschfloh gibt, so leben auch dort Tiere wie wir: Murmeltier, Hirsch, Gämse, Alpenschneehuhn oder Steinbock. Die werden dir bestimmt helfen können.»
«Ganz bestimmt!», rufen die andern. Das Murmeltier pfeift. Der Hirsch röhrt. Die Gämse scharrt mit einem ihrer Hufe.
«Gut zu wissen!», freut sich der Distelfalter. «Ich danke euch. Ich mache mich nun auf den Weg. Haltet mir die Daumen, oder eure Zehen, Hufen und Krallen. Erzählt bitte der Smaragdeidechse und dem Schwarznasenschaf von meiner neusten Mission.»
«Mega cool!», pfeift das Murmeltier dem Distelfalter nach. Dieses «Mega cool» hat es kürzlich von Menschen aufgeschnappt, die das Murmeltier am Rande des Wanderwegs gesichtet hatten.
Auf seinem Flug über die Berge am Rande des Aletschgletschers trifft der Distelfalter als Erstes wie erhofft auf einen anderen Schmetterling. Die beiden umflattern sich stumm, als wäre es ein Schmetterlingstanz.
«Hallo, schöner Schmetterling, ich bin der Distelfalter», ruft der Distelfalter seinem Artgenossen zu. «Ich bin der Sudeten-Mohrenfalter», antwortet der andere. Er fragt verwundert und neugierig: «Du bist nicht von hier. Hast du dich verflogen? Oder warum fliegst du in unsere Gegend?»
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Er habe sich ganz und gar nicht verflogen, antwortet der Distelfalter. Und er sei sehr froh, mit dem Sudeten-Mohrenfalter hier in der für ihn fremden Jungfrauregion einen neuen Freund gefunden zu haben: «Ich bin im Auftrag des kleinen Aletschflohs auf der Suche nach dem kleinen Challifloh. Er soll hier irgendwo auf dem Oberen Grindelwaldgletscher leben. So jedenfalls hat es der kleine Aletschfloh geträumt. Du kennst dich in deiner Heimat viel besser aus als ich. Magst du mich begleiten?»
Der Sudeten-Mohrenfalter flattert freudig. «Das trifft sich gut. So ein schöner und wahrer Traum des kleinen Aletschflohs. Ich habe hier bei uns auch schon von der Suche der Menschen nach dem Challifloh gehört. Sie machen sich wie dein kleiner Aletschfloh Sorgen wegen der Hitze im Sommer, der vielen trockenen Wochen ohne Regen und wegen der Winter mit immer weniger Schnee. Ich helfe dir gerne. Komm, flieg mir einfach nach.»
Die beiden Schmetterlinge lächeln sich zu. Freunde brauchen manchmal keine Worte, um Freunde zu werden. Ein Lächeln genügt.
Ob Schmetterlinge überhaupt lächeln können? Aber sicher!
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Natürlich kennt der Distelfalter die schwarzen Vögel mit dem gelben Schnabel dort am Himmel. Solche Alpendohlen gibt es ebenfalls auf seiner Seite der Berge, im Wallis. Auch wenn sie ihm und seinen Freunden bei ihrer früheren Suche nach den Ursachen für die schmelzenden Gletscher nicht geholfen haben. Hier aber könnten sie von Nutzen sein.
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Kaum hat der Distelfalter das gedacht, landet eine der Alpendohlen neben ihnen auf einem Stein. Sie schaut neugierig dem Tanz der beiden Schmetterlinge zu. Sie bewundert speziell die Schönheit des Distelfalters, den sie in dieser Gegend noch nie gesehen hat. Ganz anders den Sudeten-Mohrenfalter.
«Hallo, verehrte Alpendohle», ruft der Sudeten-Mohrenfalter höflich, «schön, dich einmal nicht nur im Vorbeiflug und beim Kreisen am Himmel zu sehen. Magst du uns helfen?
Du siehst aus deiner Höhe, die wir kaum je erreichen, viel mehr als wir. Wir sind auf der Suche nach dem kleinen Challifloh. Das heisst: nach dem Gletscher, auf dem er leben soll.»
Die Alpendohle erinnert sich, schon mal vom Challifloh gehört, ihn aber noch nie gesehen zu haben. Zumal sie Gletscherflöhe als Futter nicht interessieren. Was die beiden Falter beruhigt.
Früher habe diese Gegend hier unter einer dicken Decke aus Gletschereis gelegen, erzählt die Alpendohle. Früher, also bevor sie selbst geboren wurde. «Aber klar, ich helfe euch gerne, wo ich kann», verspricht sie den beiden Faltern.
Gut so! Der Distelfalter bittet die Alpendohle, ein paar andere Tiere der Gegend zusammenzutrommeln, um mit ihnen die weitere Suche zu organisieren. Denn gemeinsam sei man viel stärker und klüger.
Die Alpendohle nickt kurz. Blinzelt mit den Augen. Sagt: «Das will ich gerne tun.»
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