PhilippeLedermannDaniel BR
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Vorwort
Redensarten wie: ‹Das Schicksal meint es gut mit ihm›, ‹Er wurde vom Schicksal dazu bestimmt›, ‹Das Schicksal nahm seinen Lauf› oder ‹Sie war das Opfer eines Schicksalsschlages› zeigen, dass es sich beim Begriff Schicksal um Kräfte oder Energien handelt, die im scheinbar selbstbestimmten Bereich eines Individuums entscheidenden Einfluss haben.
Das menschliche Verhalten gegenüber dem Schicksal reicht von wehrloser Ergebenheit, raffinierten Strategien seiner Abwehr bis zu seiner Verleugnung durch übertriebenen Rationalismus. Alte Kulturen entwickelten mit viel Fantasie mythologische Darstellungen des Schicksals, indem sie den nicht fassbaren Begriff durch Gottheiten wie Fortuna, Nornen, Tyche, Moiren, Parzen und Namtaru personifizierten und somit Gestalten schufen, welche sowohl das individuelle Leben, als auch das ganze Weltgeschehen steuern konnten, aber auch dem einzelnen Menschen das ihm zustehende Schicksal schickten.
Den Glauben daran, man könne durch den eigenen Willen undefinierbare Mächte zum persönlichen Nutzen beeinflussen, findet man in Formulierungen wie: ‹Sein Schicksal meistern› oder ‹Sein Schicksal in die eigenen Hände nehmen›. Philosophisch ist die Auseinandersetzung mit dem Schicksal sehr ergiebig. Spannend sind die Erklärungsversuche zum Schicksalsund Vorsehungsglauben, sowie das Aufdecken der weltanschaulichen Verwurzelungen. Aber auch der Aufbau von Argumentationsketten, welche der Ablehnung des Unerklärlichen dienen.
Daraus entstehen paradoxe Zustände. Zwei Beispiele aus der Antike zeigen dies deutlich: Ödipus und Odysseus haben vollkommene Handlungsfreiheit. Sie unternehmen alles, um ihrem vom Orakel prophezeiten Schicksal zu entkommen. Ihr wehrhaftes Verhalten und ihr selbstständiger Geist sind es, die sie in Situationen führen, welche ihr vorbestimmtes Schicksal punktgenau erfüllen.
Rationalisten sind heute mehr denn je der Meinung, dass Planung und bewusste Unterdrückung von Emotionen alles Fremdbestimmte, also das, was man landläufig unter Schicksal versteht, zum Verschwinden bringt. Doch das wahre Wesen des Schicksals bleibt vermutlich für immer nebulös, da es an nichts Beweisbarem verankert werden kann.
Die Mutmassungen und Diskussionen über Begriffe wie Schicksal und Fügung bleiben für immer blutleer, wenn sie nicht, wie im vorliegenden Roman, anhand eines wahren Geschehens mit allen vom Leben durchdrungenen Details beschrieben werden.
Al’Leu
1«Der Mensch ist ein schicksalhaftes Konglomerat aus Zufälligkeiten, Erbanlagen und Umwelteinflüssen.»
Philippe Daniel LedermannAdamo Povero arbeitete seit zwei Jahren als Koch im kleinen italienischen Ristorante Con Gioachino Rossini in New York, kurz Rossini genannt. Dort machten alle, vom Chef bis zum Tellerwäscher, jede Arbeit, damit der Betrieb reibungslos lief. Eines Abends füllte Adamo nach Feierabend die Papierhandtücher auf der Herrentoilette nach. Da entdeckte er beim Leeren des Abfalleimers im Müll eine fast neue Brieftasche aus feinem Leder mit dem goldenen Monogramm BR. Die Brieftasche war leer bis auf eine geprägte Visitenkarte, auf welcher der Name Bill Rich und die Adresse des wahrscheinlichen Besitzers stand. In einem kleinen, versteckten Briefmarkenfach, einer Art Geheimfach, klebte zusammengefaltet ein weiteres Papier: ein Lottoschein. Noble Brieftasche mit Monogramm, Visitenkarte mit Adresse an vornehmer Wohnlage: Adamo war sofort klar, dass die Brieftasche etwas mit einem Diebstahl oder Überfall zu tun hatte. Er entschloss sich, den Fund am nächsten Tag nach dem Küchendienst am Mittag diesem Mister Rich abzugeben.
Am frühen Nachmittag stand er vor dem Haus, das mit der Adresse übereinstimmte. Es war ein altes, herrschaftliches Haus. Der einzige Briefkasten war mit einer bronzenen
Plakette angeschrieben: John & Bill & Virginia Rich. Nomen est omen, dachte er. Rich – da müssen reiche Leute wohnen. Er klingelte. Nach einer Ewigkeit drückte er ein zweites Mal auf die Klingel. Nichts. Meinetwegen, dachte er, drehte sich um und wollte gehen. Da öffnete sich die Tür. Das Hausmädchen, schwarz angezogen mit einer kleinen weissen Schürze um die Hüfte, fragte den Fremden nach seinem Wunsch. Adamo zog etwas irritiert die Brieftasche aus seiner Rocktasche und streckte sie der Hausangestellten zu.
«Ich habe diese Brieftasche gestern Abend gefunden und möchte sie dem Besitzer, Bill Rich, zurück…»
Adamo hatte seinen Satz noch nicht zu Ende gesprochen, als das Mädchen zu heulen anfing und ins Haus stürzte. Er hörte ihre widerhallende Stimme, die nach jemandem rief. Kurz danach erschien eine junge Dame und betrachtete mit traurigen Augen den fremden Mann mit der Brieftasche in der Hand. Die Frau kam ihm vor wie eine Madonna aus Marmor: ein sanftes Gesicht, wallendes Haar bis weit über die Schultern reichend, ein langes hautfarbenes Kleid. Eine Schönheit. Adamo war ganz benommen. Er vergass sich und betrachtete die Frau unverblümt, wie man ein schönes Gemälde ansieht. Ein Name geisterte ihm im Kopf herum; er dachte angestrengt nach, bis das Bild endlich wie ein Kolibri angeflogen kam: Venus – das Gemälde von Sandro Botticelli in den Uffizien in Florenz. Vor Jahren hatte er Die Geburt der Venus zusammen mit seiner Tante Raffaella bewundert. Jetzt stand diese Venus vor ihm, nicht in einer Muschel und nicht nackt, und sie sprach ihn an:
«Hallo – alles in Ordnung?»
Adamo schüttelte den Kopf, als müsste er den zauberhaften Kolibri verscheuchen.
«Sorry – ich … ich bin …»
«Das ist die Brieftasche meines Bruders – woher haben Sie die?», half die Venus dem Fremden aus seiner Verlegenheit. Adamo sah, wie sich die Augen der Frau beim Anblick der Brieftasche mit Tränen füllten.
«Treten Sie doch bitte näher», forderte sie ihn auf, «und erzählen Sie.»
Er trat ins Haus und erzählte, wie und wo er das Portefeuille gefunden hatte. Dabei wunderte er sich über die traurigen, verweinten Augen der Frau, als würde der Fund in seinen Händen Unheil bringen.
Die Frau tupfte sich die Tränen ab und fragte, weshalb er die Brieftasche zurückgebracht habe, sie sei ja leer und wertlos.
«Das stimmt nicht ganz. In einem kleinen Fach fand ich einen noch gültigen Lottoschein. Vielleicht bringt der einen grossen Gewinn, wer weiss? Ausserdem dachte ich, die Brieftasche könnte gestohlen worden sein – ein Corpus Delicti. Der Besitzer wirft kaum eine so teure und fast neue Brieftasche weg. Die hat der Dieb ausgeräumt und dann weggeworfen. Wenn sie wirklich gestohlen worden ist, wovon ich ausgehe, helfen mögliche Fingerabdrücke bei der Aufklärung des Diebstahls weiter. Sie sollten die Brieftasche der Polizei übergeben.»
Adamo schaute der hübschen jungen Dame in die Augen, zaghaft, fast wie ein schüchterner Konfirmand. Adamo errötete, was nun auch die Frau verunsicherte. Langsam bewegten sich ihre Lippen, als versuchten sie einen Satz zu formulieren, was ihr sichtlich schwerfiel. Dabei betrachtete sie abwechslungsweise den Lottoschein, dann die Brieftasche und die Visitenkarte und hauchte:
«Das ist alles, was von meinem lieben Bruder und diesem entsetzlichen Abend übrig geblieben ist. Er wurde niedergeschlagen und ausgeraubt. Letzte Woche ist er an den Folgen des schweren Schädelhirntraumas gestorben, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben.»
Adamo stand da wie ein geschlagener Hund. Er wusste nicht, was und ob er überhaupt etwas sagen sollte. Jetzt begriff er, warum sie und die Hausangestellte in Tränen ausgebrochen waren. Da er nichts mit der plötzlichen Stille anzufangen wusste, war er erlöst, als die Frau wieder zu sprechen anfing:
«Behalten Sie den Lottoschein als eine Art Finderlohn, lösen Sie ihn ein und behalten Sie den Gewinn, falls es denn einen gibt. Meinem Bruder nützt er nichts mehr. Vielleicht ist hier des einen Leid und des andern Freud. Fordern Sie das Schicksal heraus. So einem ehrlichen Mann, wie Sie einer sind, ist es bestimmt wohlgesinnt.»
«Kommt nicht infrage!», schoss es aus Adamos Mund wie aus einer Pistole. Die junge Frau erschrak. Sie staunte über die hitzige Reaktion des Fremden und meinte besänftigend, ihren Blick in die Ferne gerichtet, als sähe sie Palmen:
«Sie sehen aus wie ein Mann aus dem Süden.»
Adamo lächelte und plusterte sich ein wenig auf wie ein Vogel beim Baden.
«Ja, ich bin ursprünglich Italiener – in Pesaro geboren, das ist ei…»
«Ich weiss, ich weiss! Das ist die Stadt, in der Rossini geboren wurde – ich liebe Rossini und seinen ‚Barbier‘ und den ‚Moses‘, ‚La donna del lago‘, ‚Tancredi‘ …»
Da lachte Adamo, und seine schneeweissen Zähne blitzten. Ihre Begeisterung über Rossini steckte ihn an; es entzückte
ihn, wie sich nur ein Italiener freuen kann, wenn jemand so glühend von seiner Stadt und über italienische Opern sprach. Schon verfärbte sich der Himmel über Adamo ins Azurblaue, und auf einer riesigen Schleife, die von einem imaginären Flugzeug über die Wolkenkratzer von New York gezogen wurde, stand in goldenen Lettern: Le quattro glorie dell’arte musicale italiana. Adamo geriet ins Schwärmen:
«Vergessen Sie nicht die drei andern Grossen: Bellini, Donizetti und Verdi.»
Die junge Frau, die vor ein paar Wimpernschlägen noch geweint hatte, trist und mutlos schien, lachte nun verhalten und ihre Augen glitzerten mit einem Mal wie zwei Sterne am Himmel. Adamo lief erneut rot an, ja er glühte. Er senkte den Kopf. Zum Glück konnte die junge Schöne nicht in seinen Kopf hineinsehen. Dort hätte sie den Grund seiner Scham sehr wohl entdecken können. Er verglich nämlich plötzlich Julia, seine erste Liebe, derentwegen er fliehen musste, mit ihr. Sie schaute ihn sanft an, ihn, den unbekannten Italiener aus Pesaro, und meinte plötzlich zu seiner grossen Überraschung:
«Sie tun mir gut, Herr …? Wie war doch gleich Ihr Name? –Haben Sie Zeit für eine kleine Plauderei bei einem Kaffee?»
Kaum im Salon angekommen breitete Adamo in fast naiver Art und Weise der hübschen Lady sein Leben vor ihren Füssen aus wie einen seidenen Teppich und hätte am liebsten mit der Stimme des Almaviva gesungen:
«Ich heisse Adamo Povero, bin zweiundzwanzig Jahre alt, Koch im Ristorante Rossini hier in New York. Ich bin, wie Sie schon wissen, in Pesaro geboren, wo mein Papa das kleine Ristorante Del Barbiere hatte. Aus wirtschaftlichen Gründen bin ich in die Schweiz ausgewandert, wo ich das Kochen gelernt habe. Und jetzt bin ich hier in New York und stehe vor
Ihnen. Allora, nun wissen Sie alles über mich, mehr gibt es nicht zu erzählen.»
Doch Adamo erzählte weiterhin frei von der Leber weg, um die betrübte Frau etwas aufzuheitern. Es schien ihm gelungen zu sein, denn ihre traurigen Augen leuchteten schon bald, und wenig später huschte sogar ein richtiges Lachen über ihren schön geformten Mund.
Auf einmal schlug die Pendule im Salon fünfmal. Adamo sprang entsetzt auf.
«Dio … Dio … fünf Uhr! Ich habe mich total vergessen. Jetzt muss ich aber schleunigst in die Küche, sonst gibt es im Rossini heute Abend nichts zu essen, und dann stehe ich morgen ohne Arbeit auf der Strasse – das wollen Sie doch nicht, oder …?»
Die Hausherrin seufzte und fixierte den jungen Mann mit ihren klaren Augen. Er hielt ihrem Blick stand und lächelte.
«Schade, dass Sie schon gehen müssen», sagte sie. «Ich könnte Ihnen stundenlang zuhören. – Ich heisse übrigens Virginia, und Bill ist … war mein lieber Zwillingsbruder, übrigens gleich alt wie Sie. – Darf ich bei Gelegenheit mit meinem Vater in Ihr Ristorante essen kommen?»
«Sie könnten mir keine grössere Freude bereiten. Bitte kommen Sie aber wirklich! Versprochen?»
Adamo kramte überglücklich eine Karte des Rossini hervor und streckte sie der Lady hin. Diese packte mit der einen Hand die Karte und mit der andern noch eine Spur schneller seine Hand und hielt sie fest, als wollte sie diese gar nicht mehr loslassen.
Adamo ging in Gedanken versunken schnellen Schrittes zur Arbeit. Als Junge wäre er jetzt den ganzen Weg über gehüpft wie ein übermütiges Känguru. Er überlegte: Wenn der Zwillingsbruder zweiundzwanzig Jahre alt war, ist Virginia gleich alt wie ich. Adamos Herz pochte. Sein Gemüt war in Wallung geraten wie das Meer vor Pesaro bei einem aufgekommenen Sturm.
Eine Sehnsucht beschlich sein Herz, bemächtigte sich seiner Gedanken und verwirrte ihn derart, dass er sich aufführte, als hätte er Drogen genommen. Er sang. Er pfiff. Er grüsste und nickte den Passanten freundlich zu, wie es in seinem Dorf Lüglingen der Brauch war. Dort war der Gruss ein Gunstbeweis: Man kannte sich und zeigte seine Verbundenheit. Man grüsste auch Fremde. Wer nicht grüsste, war entweder von Haus aus arrogant oder lag mit jemandem im Streit oder war einfach sehr schlecht gelaunt.
Aber in der Millionenstadt New York traf das Gegenteil zu: Einer, der da einfach so grüsste, fiel auf. Je freundlicher dieser nickte und ein nettes Gesicht machte, desto mehr. Im Big Apple kannte sich keiner. Da hastete man an den Leuten vorüber, als trüge man Scheuklappen. Und nun kam da ein ungestümer junger Italiener daher, hopsend wie ein liebeskrankes Kaninchen und grüsste jeden mit freundlichen Augen. A fool! Die meisten hielten ihn für einen Spinner. Gelegentlich blieb einer stehen und überlegte kurz, ob er den Mann kannte. – War das nicht …? Und weg war der unbekannte Bekannte.
Ich und Virginia, dachte Adamo unentwegt, unmöglich! Er war gerne allein, las Bücher oder hörte Musik, wenn er nicht arbeitete, oder schlenderte durch die Strassen und staunte über die Wolkenkratzer, die plötzlich wie Geisterschiffe aus dem Nebel auftauchten. Menschen ging er, soweit es sein Beruf zuliess, aus dem Weg. Er hatte schlechte Erfahrungen mit ihnen gemacht und traute niemandem mehr, ausser seinem Chef im Rossini. Er war eher kritisch und argwöhnisch geworden. Er hatte Julias Vater, seinen Lehrmeister, fast wie einen Vater geliebt und wurde schändlich von ihm verraten. Und der Küchenchef Klaus Klauer? Ein Freund? Gewiss nicht. Klauer und seine Frau hatten ihn hintergangen – ein richtiges Ganovenpaar, neidisch und hinterhältig. Und Julia, seine erste grosse Liebe? Sie hatte ihn schmählich im Stich gelassen und abgrundtief enttäuscht.
Andere Freunde hatte Adamo nicht. Auch schon in seiner Schulzeit nicht. Kaum hatte er sich an seine Kameraden gewöhnt, zog der Vater mit ihm an einen neuen Ort. Im Berner Oberland, wo es dem Buben so gefiel, nahm er ihn nach dem Selbstmord seiner stark depressiven Mutter aus der vierten Klasse heraus, weg von seinen Schulkameraden und der lieb gewordenen Umgebung und zog nach Bern an den Obstberg, wo er keine Seele kannte. Endlich mit der neuen Schulklasse und dem Weg vertraut, zogen sie schon wenig später in ein anderes Viertel um. Dort verkam sein Vater zum Alkoholiker und starb rasch. Als Vollwaise kam Adamo schliesslich zur ledigen Schwester des Vaters, zu Tante Raffaella, in einen anderen Stadtteil und damit wieder in eine andere Schule mit neuen Gesichtern. Und als er in der Matte1 endlich einen Schulkameraden, den Hans, als Freund gefunden hatte, zog
die Tante mit ihm nach Lüglingen. Wieder eine neue Umgebung, wieder andere Menschen.
Er kam gar nie dazu, Wurzeln zu schlagen. Er wurde immer wieder umgetopft wie eine Pflanze. Als er am neuen Ort endlich zu Keimen anfing, im Landgasthof Zur Linde zu Lüglingen, pflanzte man ihn nicht mehr um, man riss ihn aus und warf ihn weg – auf den Mist! Aus diesem Mist kroch er mit letzter Kraft heraus und flüchtete nach Amerika. Und nun war er seit über zwei Jahren in New York, hatte Arbeit, eine kleine Wohnung und sprach perfekt Amerikanisch, wenn auch noch mit leichtem Akzent. Er lernte Fremdsprachen so schnell wie andere das Schwimmen, sprach Italienisch und Deutsch, Englisch in Wort und Schrift und vermochte sich auch auf Französisch recht gut zu unterhalten – in seinem Beruf als Koch ein Vorteil. Daneben hatte er sich in seiner Freizeit weitergebildet.
Seine geliebte Zia Raffaella hatte stets auf seine Manieren und seine Sprache geachtet. Als Italienischund Klavierlehrerin hatte sie ihn mit der Musik aus ihrem Heimatland bekannt gemacht, vor allem mit den Opern, aber auch mit der Malerei und der Literatur. Er beschäftigte sich unter anderem mit den philosophischen Werken von Dante, mit dem ihm Julia, die damals vor der Matura 2 stand, immer wieder in den Ohren lag. Ja, er hätte ursprünglich liebend gerne studiert: Betriebswissenschaft oder das Bankenwesen. Aber es fehlte das Geld.
In New York war es ihm wohl. Er hatte endlich Ruhe und Zuversicht gefunden und war sogar im Begriff, in der neuen Erde Wurzeln zu schlagen. Doch nun, seit der schicksalhaften Begegnung mit Virginia, fühlte er sich auf einmal wieder im luftleeren Raum. Alles war plötzlich anders. Alles war offen.
Was war mit ihm geschehen?
Sie hatte ihn verzaubert, vielmehr verhext! Liebe? Er kannte die Frau ja kaum. Was heisst kaum? Er kannte sie überhaupt nicht. Er sah wohl im und am noblen Haus der Schönen, dass da viel Geld vorhanden sein musste. Aber nicht Geld zum Protzen. Zu dieser bescheidenen Vornehmheit passte ihr ungekünsteltes Benehmen. Und wie sie ihn ansah, wie sie sprach und lachte oder auch, wie sie geweint hatte. Adamo war in diese einzigartige Frau verliebt, doch in Virginias Erde sah er keine Chance zu gedeihen. Es war eine Erde, die für Rosen und Orchideen bestimmt war und nicht für Unkraut. Virginia war eine fein duftende Blume, an der er nur von Weitem ein wenig riechen durfte. Mehr nicht.
Doch auch, wenn Adamo mit ihr zusammen keine Zukunft sah, hatte sie ihn zu Fantasien verführt, in welchen er jederzeit bei ihr sein konnte. Er hatte sich das Ziel gesteckt, sie jeden Tag mit einer Kleinigkeit seiner bescheidenen Möglichkeiten zu beschenken: mit einem zärtlichen Gedanken oder einem stillen Liebeswort.
Er mochte zwar weiterhin allein sein, aber er war nicht einsam. Virginia wohnte als ein Teil in seinem Herzen; sie war die Venus seiner Seele. Aber werde ich sie noch in meinem Herzen behalten, wenn sie einmal einen eleganten und reichen Amerikaner heiratet, einen Banker oder Unternehmer, einen Professor oder berühmten Anwalt?, fragte er sich. Ja! Er war sich sicher, dass kein Mann auf der Welt, und wäre der noch so schön und reich, seine Liebe zu Virginia zerstören konnte.
Adamo hatte sich verändert. Er liess auch die Köchin Diane, eine adrette Französin, kaum zwanzigjährig, nicht mehr an sich heran. Sie hatte schon länger ein Auge auf den jungen
Küchenchef geworfen. Ihr Vater besass in Paris ein Hotel mit Restaurant. Diane absolvierte im Rossini ein Praktikum, um einerseits die italienische Küche kennenzulernen und anderseits ihr Englisch aufzubessern. Sie mochte Adamo und wurde immer ein wenig rot in seiner Nähe. Sein neues, ungewohntes Verhalten trug ihm hinter vorgehaltener Hand Spott und Unverständnis ein, denn die Französin sah sehr gut aus und hätte ein flottes Erbe eingebracht. Man war sich einig, dass die beiden dereinst Richtung Paris davonsegeln würden. Doch von einem Tag auf den andern fiel der nötige Wind zusammen. Einfach so. Adamo war zwar weiterhin nett zu ihr, aber das war es auch schon. Man verstand den Küchenchef nicht. Diane war sehr attraktiv, durch und durch Mädchen, aber eben noch keine Frau, noch keine Venus wie Virginia.
An einem der nächsten Sonntage ging er wieder einmal zur Kirche, um für die Bekanntschaft mit Virginia zu danken. Der Souschef vom Rossini entdeckte ihn gerade, als er aus der Kirche trat, und erzählte dies in der Küche des Ristorante herum. Deswegen und wegen seines eigenartigen Verhaltens in der letzten Zeit begann sich das Personal zu fragen, ob Adamo in der Religion eine neue Liebe gefunden hatte. Auch Adamo selbst wurde plötzlich unsicher. Diese Liebe hatte keine Zukunft und würde ihn mit der Zeit auffressen, das spürte er jeden Tag ein bisschen mehr. Er begann mit sich zu hadern: Wenn ich diese blöde Brieftasche doch nur weggeschmissen hätte! Warum musste ausgerechnet ich sie finden?
Dienahe Turmuhr hatte eben sechsmal geschlagen. Im Rossini lagen schon die ersten Coupons auf der Theke: Spaghetti alle Vongole wurde verlangt. Dio, Dio! Die Muscheln waren alle. Er hatte doch noch schnell welche kaufen wollen. Total vergessen! Was Adamo immer schon verabscheute, waren nicht nur unehrliche, sondern auch unzuverlässige Menschen. Nun war er selbst so einer.
Was wollte ich eigentlich …?, fragte er sich. Ach ja, Vongole … aber es hat ja gar keine. Dann könnte ich vielleicht
…? Er suchte krampfhaft nach einem Ersatz. Ah! Ich könnte doch …
Er sprach mit den Pfannen und Töpfen auf dem Herd wie mit den Verkäuferinnen eines Feinkostladens. Doch sie begriffen überhaupt nicht, was er wollte. Auch sein Kopf begriff nichts, gehorchte ihm nicht mehr. Und schon flogen seine Gedanken wieder aus der Küche, flüchteten wie Vögel aus ihrem Käfig. Sie peilten ein unbekanntes Ziel an, folgten einem Duft oder Laut oder einer Schwingung in der Luft, die sie wie ein Sog anzog. Bei Adamo hatte dieser Sog den wohlklingenden Namen Virginia. Er flüsterte den Namen halblaut vor sich hin, und schon durchflutete ein wonniges Gefühl seinen Körper wie ein Wein erster Güte.
Eine persönliche Bestellung an Adamo Povero flatterte in die Küche: zweimal Tournedos Rossini. Adamo liebte dieses exklusive Gericht. Es war seine Spezialität, und er freute sich auf die Zubereitung, als wäre der Auftrag ein Geschenk von
seiner Geburtsstadt Pesaro für unbekannte Gäste, die etwas von hoher Küche verstanden. Mit seinem Tournedos Rossini hatte sich der junge italienisch-schweizerische Koch schon bald nach seinem Start im New Yorker Restaurant einen Namen gemacht. Nicht wenige Kenner sprachen von einem neuen Stern am Gastrohimmel.
Wenn einer seinen Beruf so liebt wie ich, ist er auch zu ausserordentlichen Leistungen imstande, sagte sich Adamo auf dem Weg hinunter in den Keller zur Kühlzelle, wo das Fleisch gelagert war. Vor der schweren Tür – er hatte schon den Griff in den Händen – kreuzte ihn sein Souschef, der an diesem Abend im Service einspringen musste, da der Cameriere auf dem Weg zur Arbeit durch einen dunklen Park von einem Hund gebissen worden war und nun ausfiel. Grinsend flüsterte ihm der Aushilfskellner zu:
«Tisch sechs verlangt nach dir: Eine gewisse Rosina und ein Herr Don Bartolo oder so ähnlich soll ich dir ausrichten. Aber nicht jetzt hingehen, erst nach dem Essen», witzelte der Souschef.
Adamo nickte verlegen und öffnete die Tür zur Kühlzelle. Da will mich doch jemand auf den Arm nehmen, dachte er. Bene, bene, dann kocht heute Abend eben Graf Almaviva persönlich für diese Rosina und ihren Vormund, Don Bartolo. Er kannte die berühmte Oper von Rossini auswendig und summte eine Arie leise vor sich hin.
Aufforderungen, zu einem Gast an den Tisch zu kommen, waren für einen Spitzenkoch, wie er einer war, nicht ungewohnt. Es war nicht nur eine nette Geste, sondern vor allem eine Anerkennung für seine Kochkünste. Hie und da steckte ihm ein Gast diskret einen Geldschein zu, den Adamo aber in die gemeinsame Trinkgeldkasse legte.
Nach dem letzten Abruf aus der Küche band er sich eine frische Schürze um und schlenderte in Richtung Tisch sechs –ein Vierertisch. Es war der beste Platz auf einem kleinen Podest mit Vorhangattrappen auf beiden Seiten und einem Bühnenbild aus Rossinis «Il barbiere» an der Wand. Zwei Personen sassen dort und unterhielten sich leise miteinander. Er vermochte nur Umrisse zu erkennen, da ihn die Deckenlampe blendete.
Beim Nähertreten wandte sich die Frau wie auf ein Zeichen eines unsichtbaren Dirigenten zu ihm. Im gleichen Moment begann Adamos Herz zu klopfen, als wäre er eine Stunde lang durch die Strassen New Yorks gerannt. Er glaubte, alle Gäste würden das laute Pochen seines Herzens hören. Errötend bis unter die Wurzeln seiner schwarzen Haare blieb er stehen, betäubt und unfähig, einen weiteren Schritt zu tun. Die Frau am Tisch erhob sich einer Prinzessin gleich, kam auf ihn zu und umarmte ihn, als wären sie alte Freunde, und gab ihm sogar einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Einige Gäste klatschten.
Nun wusste der geehrte Koch, für wen er an diesem Abend seine Spezialität zubereitet hatte: für Virginia. Aber schon drang eine bange Frage in sein Herz wie ein eiskalter Dolch: Wer ist dieser Mann? Als hätte sie die Frage erahnt, nahm sie Adamo an der Hand und führte ihn zum Tisch.
«Ich möchte dir, Adamo … ich meine Ihnen, Mister … –ach, was soll’s – dir gerne meinen Dad vorstellen, komm
Adamo, komm!»
Nun war er völlig aus dem Häuschen. Er sah nichts mehr, fühlte nichts mehr, hörte nur immer wieder:
«… komm Adamo … komm Adamo …!»
Sie hatte ihn beim Vornamen genannt, ihn an der Hand genommen. Sie hatte nicht gesagt: «Kommen Sie, Mister
Povero» und ihn mit einem Zeichen herangewinkt wie einen Kellner.
Adamo war wie benommen, trunken vor Glück und nicht imstande, etwas zu sagen. Der Besuch kam für ihn völlig überraschend. Eher hätte er an diesem Abend den Präsidenten der Vereinigten Staaten erwartet als Virginia. Aber wer war dieser Mann? Virginias Mann? Adamo stand stumm am Tisch und reichte dem Unbekannten zaghaft die Hand, die er vorher noch rasch an seiner Schürze abgetrocknet hatte. Der Italiener schwitzte wie im Hochsommer. Er hatte nur noch Augen für Virginia, sah einmal mehr, wie schön diese Frau war, etwas bleich zwar, aber mit einer Haut wie Milch, mit glänzenden schulterlangen Haaren und Augen wie schwarze Kirschen, schlank und smart. Er vergass sich komplett und starrte die Venus an wie einer, der mit den Augen isst und sich nicht sattsehen kann.
Virginia stiess den Schlafwandler leicht an.
«Bitte setzen Sie sich doch, Mister …»
Er hörte plötzlich «Mister», vorher war es noch «Adamo». –Was jetzt?, dachte er verwirrt. Mister oder Adamo? – Etwa wegen des feinen Herrn da? Ihr Mann? Dieser alte … Adamo hatte überhört, dass es sich bei diesem noblen alten Herrn um Virginias Vater handelte. Es musste ihm in seiner Verzücktheit in der Ohrmuschel stecken geblieben sein. Überlegend, wie er sie nun ansprechen solle, setzte er sich. Mister Rich streckte ihm ein Glas Wein zu:
«Dann also, cheers! Sie haben grossartig gekocht. Meine Tochter und ich haben es genossen. Gratulation!»
Virginia himmelte Adamo aus dem Augenwinkel heraus an, schaute zu ihrem Vater und der nickte diskret. Sie hatte seine lautlosen Worte verstanden: Okay, der Mann ist in Ordnung.
Adamo schwieg. Er lächelte verlegen, vernahm nur noch die Worte: «… meine Tochter und ich haben …, … meine Tochter und ich …»
«Sorry, Sorry, I beg your pardon Mister Rich. Sie haben mich so überrascht und glücklich gemacht!»
Mister Rich lächelte, seufzte und meinte:
«Ich bin froh, dass Sie etwas sagen. Ich habe schon befürchtet, Sie könnten womöglich gar nicht sprechen.»
Adamo begann sich zu entspannen, doch er konnte seine Augen nicht von Virginia lösen, als hätte er Angst, sie würde sich plötzlich in Luft auflösen wie eine Fee. Ihren Vater beachtete er kaum, als er begann, über sich selbst, über Pesaro, Bern und Lüglingen zu erzählen. Je nach Ort, über den er gerade sprach, veränderte sich das Licht seiner Sprache von düster bis zu leuchtend hellen Farben. Ein Wort zog das nächste nach sich. Seine Sätze sprudelten aus ihm heraus wie aus einem Geysir, und Virginia hing an seinen Lippen; sie trank die Worte, sog sie auf wie flüssigen Honig. Ihre Seele streckte ihm die Hand entgegen, um den Augenblick festzuhalten.
«Werden Sie nach Europa zurückkehren?», erkundigte sich Mister Rich, weniger aus Neugier, sondern um zu signalisieren, dass er auch noch am Tisch sass. Adamo bemerkte seinen Fauxpas und entschuldigte sich. Er hatte dem geduldigen Herrn fast die ganze Zeit über den Rücken zugekehrt. Er wandte sich augenblicklich Herrn Rich zu und stellte nun fest, dass dieser ein sehr sympathischer und gar nicht alter Herr war, und so würdevoll – unamerikanisch, eher wie ein italienischer Conte.
Adamo zögerte einen Augenblick und sagte:
«Vielleicht – ja, vielleicht gehe ich wieder nach Europa zurück. Aber sicher ist es noch nicht.»
Virginia erschrak, als wäre sie gestochen worden. Sie sagte nichts. Was hätte sie auch sagen sollen?
Am folgenden Wochenende speisten Vater und Tochter Rich erneut im Rossini am Tisch sechs und genossen Adamos berühmtes Tournedos. Aber dieses Mal tranken sie auf persönliche Empfehlung aus der Küche einen Amarone aus Italien und keinen amerikanischen Rotwein. Nach dem Essen baten sie Adamo wieder, an ihren Tisch zu kommen.
Mitternacht war längst vorüber, da meinte Mister Rich beim Abschied lächelnd zu Adamo:
«Machen Sie uns doch die Ehre und kommen Sie am Sonntag zu uns, Mister Povero – zum Mittagessen.»
«Oh, das darf ich nicht annehmen … ich könnte aber vielleicht …»
Mister Rich rettete ihn wieder einmal; er hatte doch die Hemmungen des bescheidenen jungen Mannes längst bemerkt:
«Okay, nicht einfach so. Wenn Sie wollen, dürfen Sie auch selbst kochen.»
Der Vater grinste. Virginia schupste ihn zärtlich-energisch in die Seite.
«Was soll das Daddy? Das kannst du doch nicht machen.»
«Doch, doch», warf Adamo ein, «das kann er – ich komme sehr gerne und koche etwas Feines. Was soll’s denn sein?»
Das Rossini war am Sonntag geschlossen, und Adamo hatte alle Zeit der Welt. Am späten Sonntagmorgen wurde er im Hause Rich herzlich empfangen und in den Salon geführt. Virginia stand vor dem Kamin und wartete sehnsüchtig auf ihn. Als er ihr in die Augen schaute, fragte er sich, wie oft er sie noch sehen würde und mit ihr ein paar unbeschwerte Stunden geniessen könne, bevor sie einen reichen Amerikaner kennenlernen und heiraten würde.
Piantala! – Hör auf damit!, befahl er sich innerlich. Aber die Frage flog immer wieder zu ihm zurück wie ein Bumerang. Wie lange noch?
In Sachen Liebe hatte Adamo noch nicht viel erlebt. Nichts Echtes und Wahres. Da gab es einmal ein flüchtiges Schnuppern an Julia. Ein gescheitertes Entdeckungsmanöver, mehr nicht. Im Versteckten einen Spaziergang machen, sich schüchtern berühren, flüchtig einen Kuss auf die Lippen drücken. Wie damals, als gerade in diesem Moment Alfred Gelter, sein Lehrmeister und Julias Vater, sie hinter dem Haus erwischte und ihn zum Teufel jagte wie einen räudigen Hund, was ihn letztlich nach Amerika trieb, in das unendlich grosse und weite Amerika, wo nichts unmöglich und alles möglich war. Vielleicht sogar die Liebe zwischen einem bettelarmen Koch und einer Prinzessin, ging ihm durch den Kopf.
Adamo schluckte leer und schalt sich, einen solchen Gedanken zugelassen zu haben. So etwas war auch in Amerika nicht möglich, nicht einmal dort. Da brauchte er sich nur im
Haus der Richs umzusehen: teure Bilder in ihren goldenen Stuckrahmen, seltene Möbel aus Paris, Uhren von erlesener Exklusivität aus der Schweiz, Perserteppiche aus Seide, Meissener Porzellan, Glas aus Murano, Silberbestecke aus England. Eine Pracht wie in einem Schloss in Frankreich. Auf jedem Quadratmeter ein Vermögen. Geld spielte da keine Rolle. Das besass man und sprach nicht darüber – kein Thema.
Eine unwirkliche Welt für Adamo. Was sollte er da mitten in diesem Glanz und Reichtum? Er, ein armer Schlucker mit einer himmeltraurigen Vergangenheit als angeblicher Dieb. Er hatte nichts, war nur ein anständiger Koch mit ehrlichem Charakter und einer guten Gesinnung. Er konnte problemlos für sich selbst sorgen, denn er arbeitete gerne. Aber um Virginias Welt aufrechtzuerhalten, hätte er zwanzig Hände benötigt. Und vielleicht hätte nicht einmal das genügt.
Aber als er nun mit Virginia und ihrem Vater am Tisch sass und sie ihn mit der Hand am Knie berührte, war es ihm, als hätte sich in seinem Herz plötzlich ein Fenster geöffnet und warmes Sonnenlicht wäre hineingeströmt. Virginia lächelte ihn an und verzauberte ihn von Neuem. Er wusste auch dieses Mal nicht, wie er reagieren sollte. Er wollte ja nichts falsch machen. Nur den Augenblick geniessen, ohne viel darüber nachzudenken.
Virginia nahm ihr Glas, quirlte den Champagner und sagte: «Lasst uns anstossen!»
Adamo griff zögernd nach dem Glas und hätte sich am liebsten von der Seele geredet, was er dachte. Aber er wollte kein Risiko eingehen und die junge Freundschaft mit Virginia nicht aufs Spiel setzen. Denn für ihn war nichts so klar wie die Vergänglichkeit dieser Vertrautheit, sobald der grosse Unbekannte käme, den er schon jetzt verabscheute, der nie
und nimmer gut genug sein konnte für diesen Engel. Er selbst, war Adamo überzeugt, war für Virginia einige Nummern zu klein oder sie einige Nummern zu gross für ihn. Und doch liess ihn die Fantasie auch in diesem Moment nicht im Stich. Schon immer war er ein Träumer und Fantast und konnte selbst im Rossini am Herd vom eigenen kleinen Betrieb träumen. Anderseits wusste er vom Vater, wie schwierig es wäre, so einen Betrieb aufzubauen ohne Anfangskapital, wenn einem nichts gehört und alles auf Kredit ist.
Virginia betrachtete sein ebenmässiges Profil. Dem Mann fehlte nur noch die Toga zum römischen Senator, dachte sie und lächelte geheimnisvoll. Oder dachte sie vielleicht an den David von Michelangelo? Sie hatte ihn auf ihrer Europareise mit ihrem Bruder Bill in Florenz bestaunt. Nun errötete Virginia. Es war ihr peinlich, sich Adamo nackt wie David vorzustellen …
Adamo erzählte nach dem Essen von seiner Tante Raffaella, der Schwester seines Vaters, und wie alle Welt sie für seine Mutter hielt. Wie sie ihm die Musik nähergebracht habe, aber auch Dante und Umberto Eco. Sie war zwar arm wie eine Kirchenmaus, hatte aber trotzdem noch etwas für sich auf die Seite legen können für später. Doch daraus wurde nichts. Dank ihrem kleinen Nachlass sass er jetzt hier in New York neben Virginia. Sie hatte Tränen in den Augen. Und auch Vater Rich hatte sich kurz weggedreht.
Virginia dachte anfänglich oft an ihren geliebten Bruder Bill, wenn Adamo bei ihr war. Dessen Brieftasche, ja dessen Ermordung war letztlich der makabere Grund dafür, dass sie Adamo überhaupt erst kennengelernt hatte. Doch diesen Umstand wollte sie nicht bewerten. Sie genoss es einfach, ihm zuzuhören, wusste doch dieser quirlige Adonis stets lustig
und spannend zu erzählen. Er konnte ihr etwas geben, was kein Mensch kaufen kann, mag er noch so reich sein: Wohlbehagen – Vergnügen und Behagen zugleich.
Der Abend wurde lang. Adamo spürte ihre Blicke; sie drangen in sein Herz wie der prickelnde Champagner in seinen Körper. Das exklusive Essen wurde kaum wahrgenommen – jedenfalls nicht von allen. Die feurigen Blicke gingen längst hin und her und hatten einen Flächenbrand ausgelöst. Als sich schliesslich Virginia von Adamo vor der Haustür verabschiedete, presste sie ihren zarten Körper fest gegen seinen. Da ging sein ganzes Wesen auf einmal wie eine Naturgewalt mit ihm durch. Sein Mund tat, was er längst tun wollte, sich aber nie getraut hatte. Er küsste Virginia auf den Mund, der sich ihm hingebungsvoll öffnete. Virginia schloss die Augen und hauchte:
«Endlich … mein liebster Adamo … endlich!»
Der Vater hatte im Vorbeigehen in der Eingangshalle die zärtliche Szene gesehen und lächelte.
Adamo ging nach Hause wie ein Schlafwandler: schwebend, überglücklich. Als er nach einer unruhigen Nacht am nächsten Morgen erwachte, glaubte er zunächst, den Abend im Hause Rich nur geträumt zu haben, bis ihm das zarte Parfum Virginias an seiner Hand in die Nase stieg.
Von da an verbrachten die beiden Verliebten jede freie Minute miteinander, und Adamo sagte nie mehr wieder, er wolle nach Europa zurückkehren. Er war angekommen, hatte seine Heimat gefunden. Sie hiess Virginia.
An einem der nächsten Abende schickte sich Adamo an, das Fleisch für den nächsten Tag aus dem Tiefkühlraum zu holen, wollte aber in einem andern Raum zuerst noch ein neues Bierfass anstechen. Da stiess er im Finstern mit dem Fuss an einen Körper. Er tastete suchend nach dem Schalter, knipste das Licht an und entdeckte auf dem kalten Boden liegend seinen Chef.
«Dio! Dio!»
Er erkannte sogleich, dass der Patron 3 tot war. Gleichwohl suchte er an dessen Hals nach dem Puls. Aber da war kein Leben mehr im Körper. Adamo erinnerte sich, dem Chef den ganzen Tag über nie begegnet zu sein. Sonst traf man ihn immer irgendwo im Rossini. Entweder im Ristorante, an der kleinen Bar, oder dann schaute er schnell in der Küche vorbei, wünschte allen einen guten Tag oder eine gute Nacht.
Adamo hetzte die Treppe hinauf an das Telefon im Büro und benachrichtigte die Polizei. Dann wählte er die Nummer des Rettungsdienstes. Dort zierte sich die Dame, sie müsse zuerst wissen, wo und wie und wann und tausend andere Sachen. Vor allem aber, ob der Körper des Mannes noch warm sei oder nicht. Wenn er kalt sei, brauche es zuerst die Polizei und die Gerichtsmedizin, es könne ja ein Verbrechen vorliegen. Adamo begann zu schwitzen. Er stand der wissbegierigen Dame Rede und Antwort und meinte schon nicht mehr so selbstsicher:
3 Chef, Inhaber
«Ich bin zwar kein Arzt, aber unser Chef scheint tot zu sein – er ist schon ganz kalt, allerdings ist dort unten im Keller auch nicht geheizt.»
Während er dies sagte, hörte er die Polizeisirene, sagte es der Dame und hängte ein. Wenig später kam richtig Leben auf im Rossini. Fremde Menschen gingen ein und aus: Uniformierte, Leute in Schutzanzügen, ein Arzt und ein Sanitäter. Die Polizei nahm Adamo in Beschlag und löcherte ihn, als ob er den Patron umgebracht hätte. Da erschien der Gerichtsmediziner und gab hinsichtlich eines Tötungsdelikts Entwarnung: Herzinfarkt. Fast im gleichen Moment tauchte mit verheulten Augen die Frau des Chefs auf und hielt sich sogleich an Adamos Arm fest.
«Er wollte für zwei Tage an eine Gastromesse nach Chicago und bei einem Freund übernachten. Ich dachte, er sei dort», stotterte sie.
Adamo, schon lange die rechte Hand des Chefs und Stütze des kleinen Betriebs, bat die Chefin um die Adresse des Freundes in Chicago, um ihn sogleich anzurufen. Nach ein paar Minuten sagte er zur Witwe:
«Ihr Mann ist dort gestern Nachmittag erwartet worden, aber nicht eingetroffen. Sein Freund hat sich zwar gewundert, dachte aber, es würde sich dann schon klären.»
Der Chef, auch Italiener, war weit über siebzig geworden. Es war ein anständiger Patron, einer, der für seinen Betrieb da war, und nicht der Betrieb für ihn. Adamo hatte den Alten gemocht; er war ihm im Laufe der Zeit ein väterlicher Freund geworden. Damals, als er eine Stelle suchte, hatte er ihn, den Unbekannten aus der Schweiz, nicht ausgequetscht wie eine Zitrone, wollte nur wissen, ob er schon mit der Polizei zu tun gehabt habe oder schon im Gefängnis gewesen sei. Als Adamo
beides verneinte, stellte er ihn auf der Stelle als Koch ein
natürlich auf Probe. Aber schon nach vier Wochen erklärte der Chef:
«Bene, bene. Du machst deine Sache gut, du kannst was –darfst bleiben!»
Adamo vergass nie, was er ihm zu verdanken hatte. In einem fremden Land war er angekommen, in einer völlig andern Kultur und Mentalität. Er hatte kein Geld, keinen Abschluss und kein Diplom in der Tasche. Das Geld hatte er für die teure Reise, für das Essen und die Unterkunft aufgebraucht. Adamo dankte es dem unbürokratischen Chef auf seine Art: mit Einsatz und Zuverlässigkeit.
Mit Adamo begann der Laden schon bald so richtig zu laufen wie früher, als der Chef noch selbst in der Küche stand. Im Alter mochte er nicht mehr, hatte Herzprobleme und bekundete Mühe mit der Hitze am heissen Herd. Er atmete dann schwer, hatte oft einen beklemmenden Schmerz, als kniete ihm jemand auf die Brust. Dazu die Schmerzen mit Ausstrahlungen in den linken Arm und einem eigenartigen Gefühl bis in die Fingerspitzen. Er sei eben nicht mehr zwanzig, besänftigte er sich jeweils und nahm im Stehen einen Schluck Grappa aus seiner Heimat. Damit liess er es sein.
Gegönnt hatte sich der Chef nichts. Alle paar Jahre eine Reise nach Italien, die jedes Mal kürzer wurde. Er kannte in seinem Dorf bald niemanden mehr. Der grosse Haufen der Verwandten hatte nach dem Krieg das Land verlassen. Amerika und Kanada lockten mit besseren wirtschaftlichen Aussichten. Die Freunde lagen grösstenteils auf dem Friedhof, und die jungen Gesichter waren ihm fremd. Die langen Jahre in New York hatten ihm die Weltstadt zur neuen Heimat
gemacht. Einzig bei seiner Donna und in der Wohnung existierte noch ein wenig Bella Italia. Vielleicht hatte ihm auch der junge Adamo Povero aus Pesaro ein wenig Süden zurückgebracht. Auf alle Fälle verstanden sich die beiden auf Anhieb, fast wie Vater und Sohn. Mag sogar sein, dass der Alte in ihm so etwas wie einen Sohn gesehen hatte, wenn auch nicht aus demselben Holz, aber aus derselben Erde herausgewachsen und damit von ähnlicher Gesinnung.
An jenem traurigen Abend nahm Adamo Virginia in die Arme und drückte sie fest an sich, als müsste er sie fortan festhalten wie ein zartes Vögelchen, damit sie ihm nicht von einem Windstoss weggetragen würde und nicht mehr zu ihm zurückfände. Immer, wenn sich Adamo an einen Menschen gebunden hatte, musste er ihn plötzlich hergeben wie als Bub seine Mutter, später den Vater und zuletzt seine Zia Raffaella. Oder er verlor Menschen an das Böse wie seinen Lehrmeister Alfred Gelter und den vermeintlichen Freund Klaus Klauer. Und jetzt war sein väterlicher Chef vom Rossini gestorben. Adamo war schockiert darüber, dass dieser schon tags zuvor verschieden sein musste und ihn kein Mensch vermisst hatte. Nicht einmal er.
In den ersten Wochen nach der Bestattung des Wirtes führte die Witwe das Restaurant der Form halber weiter, bis sie an einem Samstag Adamo zu sich ins Büro rief und ihm den Betrieb antrug.
«Das ist nicht Ihr Ernst, Chefin?!», meinte Adamo gerührt.
«Ma si – si! Das ist mein Ernst. Auch mein Mann hätte das so gewollt. Wir haben in letzter Zeit oft darüber gesprochen. Sie haben in zwei Jahren aus dem Ristorante eine kleine Goldgrube gemacht. Sie haben es verdient, und es hat Sie verdient.»
Adamo dankte ihr mit feuchten Augen, umarmte sie und bat um Bedenkzeit – nicht um über ein Ja oder Nein nachzudenken, sondern um Geld aufzutreiben. Aber dies sagte er ihr nicht. Er wollte sich auf keinen Fall helfen lassen. «Nie und nimmer!», sagte Adamo halblaut zu sich, als er seine Jacke aus dem Spind nahm. Sein Souschef, der gerade die Garderobe betrat, sah ihn verwundert an. Er hatte die energischen Worte Adamos zwar gehört, aber deren Sinn nicht verstanden. Jetzt muss ein Bankkredit her, dachte Adamo. Ich und das Rossini, das Rossini und ich – bin ich nicht ein Glückskind?
Mein Traum wird wahr. Wenn das meine Mama oder die Zia Raffaella nur hätte erleben können.
«Ich weiss, sie sehen es», sagte er leise und schaute in den nächtlichen Himmel von New York, aber er sah nur gewaltige Türme, die hinauf in die Ewigkeit zu reichen schienen.
Sein Plan war klar: Zuerst sollte es Virginia erfahren, als Nächster ihr Vater, und dann wollte er um die Hand dessen Tochter anhalten. Adamo hüpfte nach Hause. Jetzt kann ich mir Virginia leisten!, jauchzte er innerlich.
Am Sonntagmittag brachte er Virginia einen kleinen Blumenstrauss und überraschte sie mit der für ihn immer noch fast unglaublichen Neuigkeit. Er hatte in der Nacht kaum ein Auge zugetan. Wie sage ich es ihr am besten?, grübelte er. Zuerst das mit dem Ristorante … oder gleich um die Hand anhalten … oder? Adamo bestand an jenem Morgen aus lauter Oder. Als er endlich vor ihr stand, versagte ihm die Stimme.
«Ich kann das Rossini …», begann er und erzählte hastig vom Angebot der Witwe seines Chefs. Virginia hörte ihm ruhig zu. In ihren Augen bemerkte er ein Leuchten. Er fasste Mut, als beschiene ihn gerade die Sonne Italiens, und sank vor der Angebeteten in die Knie.
«Ich liebe dich – ich liebe dich über alles, habe dich vom ersten Moment an ins Herz geschlossen, jeden Tag mehr und mehr. Willst du meine Frau werden, Virginia?»
Mit herunterhängenden Schultern stand Virginia gerührt da wie ein unschuldiges kleines Mädchen und hauchte weinend:
«Yes, I will!»
Wortlos schlenderten die beiden durch die Stadt, Hand in Hand, ohne wahrzunehmen, wohin sie gingen, einfach unsagbar glücklich, einander gefunden zu haben. Vom langen
Spaziergang müde geworden, standen sie plötzlich wie hingezaubert vor dem Haus, in dem Adamo eine kleine Wohnung gemietet hatte und verschwanden darin.