Dr. Jürg Meister (Hrsg.) Doris Hax, Samuel Krähenbühl
Die Gebrüder Knechtenhofer von Thun Pioniere des Fremdenund Schiffsverkehrs
Inhalt Dank 6 Redaktionelle Vorbemerkung des Verlags 7 Hinweise des Autors zum Stil und zur Schreib- und Zitierweise 8 Prolog 9 Die politische Schweiz um 1798 bis 1848
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Exkurs: Das Biedermeier als kulturelle, künstlerische und modische Lebensart
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DIE KNECHTENHOFERS UND IHRE «HOTELLANDSCHAFT»
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Die Knechtenhofers: eine rührige, angesehene und erfolgreiche Familie Genealogie Die zwei Standbeine der Knechtenhofers Die Bedeutung der Stadt Thun und ihrer Umgebung um das Jahr 1800 Ein Blick auf Sumiswald
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Der zentrale Akteur: Jakob Wilhelm Knechtenhofer 30 Die Persönlichkeit 30 Wie es schrittweise zum K onglomerat Bellevue in H ofstetten kam 33 Der Kauf des Buschibads und des «Lindenheims» 33 Das «Lindenheim» im Lindengut 35 Hinschied von Jakob Wilhelm und Erbgang 39 Die neue Generation Knechtenhofer Ein genereller Blick Johann Jakob Knechtenhofer Johann Jakob Wilhelm Knechtenhofer Johannes Knechtenhofer
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Samuel Knechtenhofer Johann Friedrich K nechtenhofer David Wilhelm Knechtenhofer
ENTSTEHUNG UND ENTWICKLUNG DES HOTELKOMPLEXES
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Buschibad und «Lindenheim», ein Rückblick auf Jakob Wilhelm 53 Die Pionierleistungen der nächsten Generation 54 Johann Jakob, sekundiert von Johann Friedrich Knechtenhofer: 54 Erwerb des Ländtehauses direkt am Wasser 54 Das «Bellevue des Bains», ab 1842 nur «Bellevue» genannte Haupthaus 55 Und die Gastronomie? 59 Ökonomiegebäude 63 Die Englische Kirche 63 Chalet am Göttibachweg 8 als Dépendance 64 Dre i Chale ts als Ge se llschaftsräume 65 Das grosse Nebenhaus Pension Bellevue, später Bellevue du Parc 67 Und wo wohnten die Hoteliers selbst? 69
DIE «BELLEVUES» IN DER EXPANDIERENDEN THUNER HOTELLANDSCHAFT
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Die Pioniergeneration tritt ab, die «Etablissements» werden verkauft Der Ausbau des «Bellevue» 1865 Ein Blick auf die Preise Die Erweiterung des Bellevue du Parc Kursaal Thun
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Die «Bellevue»-Besitzungen werden weiterverkauft Was sich in Thun, insbesondere im Hofstettenquartier, in Sachen Hotellerie sonst noch tat Ein kleiner Blick auf die Zufahrt zu den «Bellevues»
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Was ist von den «Bellevues» 2023 noch vorhanden? 90 Das Ländtehaus Bateau à vapeur 91 Das Hotel Bellevue und seine Nebengebäude 92 Das Ökonomiegebäude 93 Die Dépendance Pension Göttibach 93 Das Hotel (Pension) Bellevue du Parc 94 Die Chalets 94
DAS DAMPFSCHIFF BELLEVUE
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Das Dampfschiff Bellevue Die Schifffahrt auf dem Thunersee vor dem Erscheinen der «Bellevue» Die Grundfrage «Wie kam es dazu»? Prinz Charles Louis Napoleon Bonaparte (später Kaiser Napoléon III.) als höchst wahrscheinlicher Drehund Angelpunkt Die Figur des Philippe Suchard Die Maschinenfabrik François Cavé Mögliche Alternativen zu Cavé Gründung einer Aktiengesellschaft für die «Bellevue» Bau und Transport der «Bellevue» Die technischen Daten der «Bellevue» Visualisierung des Schiffes Versuch eines Baubeschriebs
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Die Inbetriebnahme und e rste Fahrten Die «Bellevue» bewährt sich Vielleicht keine Überraschung: Die Konkurrenz regt sich! Exkurs: Ausblick auf die Zukunft der Dampfschiffahrts-Gesellschaft für den Thuner- und Brienzersee (DGTB) Von der «Bellevue» auf dem Thunersee zur «Faulhorn» auf dem Brienzersee Zurück auf dem Thunersee Das Ende der «Bellevue» Die «Bellevue» wird w iederentdeckt Ausblick auf die weitere Entwicklung der Schifffahrt auf dem Thunersee Die Nachfolgegesellschaften
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Fazit 124 Epilog 125 Die Genealogie von Doris Hax 125 Quellenverzeichnis 126 Autoren 127
Dank Ein Buch ist vergleichbar mit einem Fluss oder einem See, der aus diversesten, unterschiedlichen Quellen gespiesen wird. Das ist bei dem hier vorliegenden Werk genauso: Nur aus dem Zusammenspiel der verschiedensten Personen, Institutionen und Fundstellen diversester Natur konnte diese Publikation überhaupt realisiert werden. Ich danke: – Dem Weber-Verlag unter der kompetenten und weitsichtigen Leitung von Annette Weber für die Aufnahme dieses Titels in das Verlagsprogramm und die laufenden Ermunterungen in der zuweilen nicht ganz einfachen Erarbeitung des Stoffes. – Frau Madeleine Hadorn und Herrn Samuel Krähenbühl des Weber-Verlags in ihren respektiven Funktionen als wohlwollende «Schirmherrin» und professionelle Projektleiterin einerseits und als geistiger Mitautor anderseits: Ohne die beiden wäre das Vorhaben wohl nie zur Druckreife gelangt. – Frau Cornelia Wyssen für das dem Autor entgegengebrachte Verständnis hinsichtlich Gestaltung und Satz. – Frau Laura Spielmann für das sorgfältige Lektorat und – Herrn Heinz Zürcher für das professionelle Korrektorat. Als sehr verdienstvolle und hilfreiche persönliche Kontakte von aussen, etwa mit Hinweisen, Anregungen, Bildern, Dokumenten und Auskünften, darf ich erwähnen: – Frau Lilian Raselli, Basel – Herrn Markus Engemann, Steffisburg –H errn Markus Krebser, Hünibach –H errn Gerhard Schmid, Thun –H errn Beat Zumstein, Basel
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Von institutioneller Seite haben uns professionell unterstützt: – Burgerbibliothek Bern – Stadtarchiv Thun – w ww.thunensis.com Last but not least darf ich an dieser Stelle einmal mehr die immer verständnisvolle (und wirksame) Unterstützung meiner Gattin Brigitte herzlich verdanken. Jürg Meister, Basel
Redaktionelle Vorbemerkung des Verlags Den Impuls für dieses Buch gab eine interessante handschriftliche Dokumentation von Frau Doris Hax. Die Lektorierung dieses Ansatzes hat zum Beschluss geführt, ihr Thema aufzunehmen, von Grund auf systematisch neu recherchieren zu lassen und in der Folge auch komplett neu und in stark erweiterter Form zu redigieren. Diese Aufgabe haben wir dem mit unserem Verlag durch verschiedene andere Publikationen vertrauten Autor Dr. Jürg Meister, in Basel wohnhaft und in Thun aufgewachsen, anvertraut. Frau Hax kommt durch eingestreute Originalzitate in Form von Quotes zu Wort, wobei diese Zitate zuweilen wiederum auf Vorautoren, zum Beispiel auf Herrn Markus Krebser, zurückgehen. Weber Verlag AG
Doris Hax ist gelernte Grafikerin und arbeitete als Illustratorin und Journalistin. Sie realisierte Aufträge für Kunst am Bau und zeichnete Karikaturen für den «Nebelspalter» und verschiedene Zeitschriften im In- und Ausland. 1995 gründete sie die Gesellschaft zum Schutz der Haie in Zusammenarbeit mit der Deutschen Elasmobranchier Gesellschaft DEG der Universität Hamburg.
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Hinweise des Autors zum Stil und zur Schreib- und Z itierweise Dieses Werk will durch eine freihändige und lebendige Handhabung des Stoffes Lesefreude vermitteln und eine für den Raum Thun und das Berner Oberland entscheidende Periode des aufkeimenden Tourismus fundiert, aber auch unterhaltend mit Wort und Bild beschreiben. Es handelt sich also nicht um eine streng wissenschaft liche Publikation, sondern um eine Darstellung, die einer seits auf gefestigten historischen Fakten basiert, andererseits aber auch auf Narrativen und Überlieferungen, die nach bestem Wissen und Gewissen zu einer möglichst schlüssigen Gesamtdarstellung kondensiert worden sind. Im Interesse der Lesbarkeit wurde deshalb auf einen sperrigen Zitatenapparat verzichtet und nur dort V erweise auf spezifische Quellen und Literaturstellen angebracht, wo dies ganz besonders opportun erscheint. Das Quellenbeziehungsweise Literaturverzeichnis verweist auf die konsultierten Medien. Im Sinn der übergeordneten Sprachregelungen werden die Schiffsnamen in diesem Werk in der Regel weiblich zitiert, obschon sich im hiesigen sprachlichen Alltags gebrauch der Artikel fast immer nach dem Geschlecht des Schiffsnamens richtet (zum Beispiel der «Bubenberg»). Im Übrigen richtet sich der Sprachgebrauch im Fliesstext und in den Legenden nach den Gender-Regelungen des Verlags, historische Wortlaute werden hingegen im Ori ginal belassen und nicht angepasst. Jürg Meister
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Prolog
Die in diesem Buch so faktentreu wie möglich dargestellte Geschichte spielt sich grosso modo zwischen 1810 und 1870 ab. Dies – und das sollte bei der Lektüre nie vergessen werden – vor dem Hintergrund der damaligen Zeitum stände, die wir uns ohne grössere Denkarbeit fast gar nicht mehr vorstellen können: Es gab beispielsweise weit und breit noch keine Eisenbahn, die Strassen waren im besten Fall streckenweise gepflastert, die Beleuchtung bestand aus Öl-, allenfalls Petroleumlampen, die hauptsächliche Energiequelle war das Holz. Die breite Bevöl kerung lebte in höchst bescheidenen, hygienisch oft prekären Verhältnissen und war wenig mobil – bestenfalls war sie mit dem Pferd oder mit der Postkutsche unterwegs. Dies alles zudem vor einem politisch höchst lebendigen und wahrscheinlich auch verunsichernden Geschehen. Dazu liefert ein fundiertes, interessantes und auch sehr gut lesbares Eingangskapitel aus der Feder von Grossrat Samuel Krähenbühl die nötigen Hintergründe. War Thun zu Beginn der hier porträtierten Familien- und Tourismusgeschichte noch ein eher unbedeutendes, oft sogar negativ konnotiertes Kleinststädtchen, das von manchen stattlichen und hablichen Dörfern weit übertroffen wurde, kehrten sich die Dinge in diesen rund 40 bis 50 Jahren komplett um: Thun wurde – am Tor zum Berner Oberland – eine adrette Kleinstadt mit einem florierenden Tourismus auf der südöstlichen Seite und einem gut aufgeräumten «Werktagsgesicht» im Westen, der international geachteten und ebenfalls florierenden Militärschule für Offiziere.
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Radierung der Stadt Thun und ihrer Umgebung um 1800 von ungefähr Osten her, das Werk wird Samuel Weibel (1771–1846) zugeschrieben. Wenn in diesem Buch immer wieder vom Lindengut und von «100 000 Quadratmetern» die Rede ist, so bezieht sich das auf den Vordergrund in der Bildmitte. Die locker bestockte Fläche zwischen der sichtbaren Strasse nach Oberhofen und dem felsigen Gebüsch unten rechts und halbwegs auf die Stadt zu dürfte ungefähr diesem Areal entsprechen. Peter Küffer: Thun. Türme, Tore und Gassen nach 1800 von Johannes Knechtenhofer (s. Quellenverzeichnis)
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Die politische Schweiz um 1798 bis 1848 Von Samuel Krähenbühl, lic. phil.
Keine andere Periode der Schweizer Geschichte war politisch und insbesondere institutionell dermassen instabil und vor allem wechselhaft wie die Zeit zwischen dem Franzoseneinfall 1798 und der Etablierung des modernen Bundesstaates mit der neuen Bundesverfassung im Jahre 1848. Blenden wir noch kurz zurück in die Zeit des «Ancien Régime» vor 1798. Auf die erste, sogenannt achtörtige Eidgenossenschaft, die auf 1353 bis 1481 datiert wird, folgte die dreizehnörtige Eidgenossenschaft, die vom Beitritt von Appenzell 1513 bis zum Beginn der Helvetik im Jahr 1798 andauerte. Diese dreizehnörtige Eidgenossenschaft war als Staatenbund ein komplexes Gebilde, das aus diversen äusserst vielfältigen und uneinheitlichen Vertragswerken und Beziehungen bestand. So gab es verschiedene Arten von Mitgliedern: Stadtorte, Landorte, Zugewandte Orte, Untertanengebiete der einzelnen Orte sowie Gemeine Herrschaften. Offiziell zur Eidgenossenschaft zählten nur die sieben Stadtorte und die fünf Landorte, wobei der Stand Zug durch eine Hauptstadt mit Herrschaftsrechten, gleichzeitig aber auch durch die Landsgemeinde Zug eine Art Mittelstellung einnahm. Staatsrechtlich interessant war auch, dass nicht alle Beteiligten mit allen anderen Verträge hatten. So war die reformierte Stadt Genf nur über einen Vertrag mit den ebenfalls reformierten Städten Zürich und Bern als Zugewandter Ort an die Eidgenossenschaft angebunden. Auch waren nicht immer alle Dreizehn Orte an der Verwaltung der Gemeinen Herrschaften beteiligt. Territorial gab es ebenfalls Unterschiede zur heutigen Schweiz. So gehörten einige Städte und Gebiete damals zur Eidgenossenschaft, die heute nicht mehr schweizerisch sind. Beispielsweise besass der Zugewandte Ort der Drei Bünde (heute Graubünden) erhebliche Untertanengebiete im Süden (Veltlin, Bormio, Chiavenna). Auch gehörte etwa die Stadt Mülhausen im heutigen französischen Elsass als Zugewandter Ort zur Eidgenossenschaft. Dafür gehörten andere, heute schweizerische Gebiete wie etwa das Fricktal oder der heutige Kanton Jura 12
staatsrechtlich noch nicht zur Schweiz. Einwohnermässig, militärisch und politisch die eindeutig dominierende Kraft war Bern, damals der grösste Stadtstaat nördlich der Alpen. Zur Zeit seiner grössten Ausdehnung von 1536 bis 1564 reichte Bern vom südlichen Genferseeufer bis in den Aargau. Trotzdem verlor das starke Bern und das mit ihm verbündete Zürich zwei von vier militärische Konflikte zwischen Reformierten und Katholiken; erst bei der 2. Schlacht von Villmergen 1712 wurde eine Art reformierte Hegemonie von Bern und Zürich errichtet. Ja, in der Alten Eidgenossenschaft wurden nicht weniger als vier Konflikte zwischen Reformierten und Katholiken ausgefochten. Trotzdem schafften es die Eidgenossen, sich aus dem konfessionell geprägten Dreissigjährigen Krieg (1618 bis 1648) herauszuhalten. Staatspolitisch bestimmend blieb stets, dass die Alte Eidgenossenschaft ein Staatenbund war. Die politischen Jahrzehnte zwischen 1798 und 1848 waren im Grunde immer von der Frage geprägt, ob die Schweiz ein Staatenbund bleiben oder ob sie ein staatsrechtlich stärker zentralisiertes Gebilde werden sollte. Damit nähern wir uns der Zeitmarke von 1798. Bereits neun Jahre zuvor, im Jahre 1789, hatte in Frankreich eine Revolution begonnen, die sich militärisch trotz einer grossen Allianz von Gegnern nicht nur behauptete, sondern sogar expandierte. Die revolutionären französischen Heere, die massgeblich aus mittels einer sogenannten «Levée en masse» rekrutierten Werkpflichtigen bestanden, drangen über das französische Staatsgebiet hinaus. Sie kämpften unter der Fahne der Trikolore für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Diese Parolen fielen denn auch vielerorts auf fruchtbaren Boden. Denn in allen Ländern Europas hatten sich die Ideen der Aufklärung und die Forderung nach Menschenrechten und mehr politischer Mitbestimmung verbreitet. Doch die französischen Truppen vertraten auch harte und eigennützige Interessen.
Die fast 300 Jahre alte dreizehnörtige Eidgenossenschaft war 1798 bereits ein morsches Gebilde. Jahrhunderte lange Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern der Reformation und der Katholischen Kirche hatten tiefe Gräben durchs Land gezogen. Die Ideen der Aufklärung überlagerten sich und verschmolzen teilweise auch mit den alten konfessionellen Gräben. Die Auseinander setzung zwischen Reformierten und Katholiken wurde zunehmend durch einen Konflikt zwischen zentralistisch ausgerichteten Liberalen und föderalistischen Konser vativen abgelöst. Die Konfliktlinien waren zwar ähnlich, aber doch nicht deckungsgleich mit den konfessionellen Grenzen. So gehörte der reformierte Stadtstaat Basel insbesondere im 19. Jahrhundert zum konservativen Lager. Die in den alten Verträgen festgehaltene Pflicht zur gegenseitigen militärischen Unterstützung im Verteidigungsfall war zum Papiertiger verkommen. So kam es, dass beim Franzoseneinfall Anfang 1798 die Berner und mit Einschränkungen die Solothurner und Freiburger die Einzigen waren, die sich militärisch den Franzosen in den Weg stellten. Die entscheidenden Gefechte fanden am 5. März 1798 statt. Während Bern in Neuenegg den Franzosen noch Paroli bieten konnte, verlor sie die entscheidende Schlacht am Grauholz. Dies wohl auch wegen des Verrats von einheimischen Landwirten, deren plötzlicher Reichtum sich in wahren Prachtbauten äusserte. Die Franzosen zogen in Bern ein und raubten den Berner Staatsschatz, der im heutigen Geldwert wohl mehrere hundert Milliarden Franken wert wäre. Der aufstrebende General und spätere Kaiser Napoleon I. finanzierte sich so unter anderem den Feldzug nach Ägypten. Von Napoleons Neffen, Charles Louis Napoleon Bonaparte, später ebenfalls Kaiser der Franzosen, wird in diesem Buch noch ausführlich die Rede sein.
Das Alte Bern und gleichzeitig auch die Eidgenossenschaft waren also am besagten 5. März 1798 im Grauholz, wo heute Autos sechsspurig über die Autobahn donnern, zu Grabe getragen worden. Somit waren auch die bisher herrschenden Eliten und das gesamte politische System der dreizehnörtigen Eidgenossenschaft Geschichte. Bereits am 12. April wurde ein neues Grundgesetz in Kraft gesetzt. In einer buchstäblich revolutionären Art und Weise wurde das uralte, wie ein knorriger Baum gewachsene System der Alten Eidgenossenschaft hinweggefegt und durch einen neuen, zentralistischen Einheitsstaat ersetzt, der auf den Prinzipien der Rechtsgleichheit, der Volkssouveränität und der Gewaltentrennung beruhte. Zwar hatte der Schweizer Peter Ochs am Grundgesetz mitgewirkt, doch die definitive Version wurde von der französischen Regierung in Kraft gesetzt. Leitprinzip war der Zentralismus, was ein kompletter Bruch mit dem alten Staatenbund der Alten Eidgenossenschaft war. Es würde zu weit führen, die Institutionen der neu entstandenen Helvetischen Republik im Detail zu erläutern. Wichtig zu wissen ist, dass die Kantone nicht nur entmachtet, sondern auch territorial komplett umgestaltet wurden. So entstand eine Reihe von neuen Kantonen, deren Namen und Grenzen wenig bis nichts mit den früheren Strukturen zu tun hatten. Für die Region Thun ist von Bedeutung, dass kurzzeitig und einmalig das Berner Oberland zu einem eigenen Kanton «Oberland» mit Hauptort Thun erhoben wurde. Doch die Franzosen hatten nicht mit dem Eigensinn der Eidgenossen gerechnet. Zwar hatte das neue, zentralis tische System auch Freunde, aber auch viele Feinde. Namentlich die Innerschweizer, die den Bernern im Grauholz noch die Ge folgschaft ve rwe ige rt hatte n, re voltie rte n. Dazu kam, dass sich die Kämpfe des Zweiten Koalitionskrieges auf das Gebiet der Schweiz verlagerten. Öster reichische und gar russische Truppen marschierten in die Schweiz ein, um gegen die Franzosen zu kämpfen. Beson13
ders bekannt war die Gotthardüberquerung des russischen Heerführers Suworow am 24. September 1799. Weiter wollen wir an dieser Stelle gar nicht auf die vielfältigen Ereignisse dieser unsicheren Zeit eingehen. Dass der neue Staat nicht von einer Mehrheit getragen wurde, zeigte sich, als die Franzosen 1802 ihre Besatzungstruppen abzogen. Schon im Sommer erhoben sich die Föderalisten in der Innerschweiz, Graubünden, Glarus und Appenzell im sogenannten «Stecklikrieg». Napoleon Bonaparte, der sich inzwischen selbst zum Kaiser Napoleon I. gekrönt hatte, musste intervenieren. Obschon sich eine Versammlung von eidgenössischen Abgeordneten in Paris traf, war es letztendlich Napoleon, der am 19. Februar 1803 die neue Verfassung diktierte. Mit der sogenannten Mediationsakte war die Helvetische Republik Geschichte. Der politisch gewiefte Kaiser der Franzosen hatte es aber geschafft, den Schweizern eine Ordnung aufzue rle ge n, die de n e idge nössische n Be findlich keiten viel mehr entsprach als die radikale Verfassung der Helvetik. Wiederum ohne auf die Details einzugehen, sollen nur die wichtigsten Grundzüge zusammengefasst werden: Die alten Grenzen der Kantone wurden zumindest zum Teil wieder hergestellt, wobei der Kanton Bern die Waadt und den Aargau dauerhaft verlor, während der Kanton Oberland wieder zu Bern zurückkehrte. Was die politische Einflussnahme betrifft, wurden durch ein Zensuswahlrecht, das die Begüterten bevorzugte, die a lten politischen Eliten wieder gestärkt. Die Mediationsverfassung kann also als eine Art erster, wenn auch vorerst noch kleiner Schritt in Richtung Wiederherstellung der alten politischen Verhältnisse betrachtet werden. Immerhin war der Mediationsverfassung ein doppelt so langes Überleben beschert als der kurzlebigen Helvetik. Auch waren die inneren Verhältnisse in den Jahren 1803 bis zum Ende der Mediation 1813 wesentlich stabiler als in den Jahren zuvor. Doch die Schweiz blieb gerade in dieser Zeit machtpolitisch ein Vasall Frankreichs. Und da Kaiser Napoleon I. fast ständig auf Feldzügen war, forderte er auch den ständigen militärischen Beistand seiner Verbündeten. Die Schweiz musste permanent 12 000 Söldner für Frankreich zur Verfügung stellen. Insbesondere im 14
Spanischen Unabhängigkeitskrieg und auf dem Russland feldzug 1812/1813 fielen zahlreiche Eidgenossen. Noch heute ist vielen das Beresinalied, das die aufopfernde Verteidigung der Rückzugsgefechte durch die Schweizer beschreibt, ein Begriff. Nur rund 700 der insgesamt 9000 Schweizer, die nach Russland marschieren mussten, kehrten zurück. In der Zeit der Mediation passierte aber auch in der Geistes- und Kulturgeschichte viel. Die beiden Unspunnenfeste von 1805 und 1808, die bei der Burg Unspunnen bei Matten durchgeführt wurden, brachten nicht nur Stadt und Land einander wieder näher. Die ersten beiden Unspunnenfeste waren auch frühe Impulse für den beginnenden Tourismus und somit auch für die spätere Thematik dieses Buches. Auch wenn Kaiser Napoleon I. trotz der verheerenden Niederlagen im Russlandfeldzug und in Spanien wie eine Katze über sieben Leben zu verfügen schien, endete seine Herrschaft in zwei Etappen in den Jahren 1814 und 1815 dann doch. Nach der entscheidenden Niederlage im bel gischen Waterloo am 18. Juni 1815 gegen die Briten und die Preussen musste er in die Verbannung auf die Insel St. Helena. Somit war die Herrschaft Napoleons I. definitiv zu Ende, nicht aber jene seiner Familie Bonaparte. Der bereits einmal erwähnte Neffe Charles Louis Napoleon sollte ihm 1848 beziehungsweise 1851 auf dem Kaiserthron nachfolgen. Dies aber erst, nachdem er in Thun g elebt und bei der Beschaffung des ersten Thunersee-Dampfschiffes Bellevue eine wichtige Rolle gespielt hatte. Nach der Revolution war vor der Revolution, wie sich später zeigen sollte. Die siegreichen konservativen Mächte Russland, Österreich, Preussen und das Vereinigte Königreich ordneten die politischen Verhältnisse an einem grossen Kongress in Wien in den Jahren 1814 bis 1815 neu. Das Grundsatzprogramm lautete «Restauration». Doch die politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen liessen sich nicht mehr komplett rückgängig machen. Obschon die Grossmächte in Wien auch die Schweizer Verhältnisse nach den Grundsätzen der Restauration neu ordneten, sah doch die restaurierte Eidgenossenschaft ganz anders aus als die alte, dreizehnörtige vor 1798. Die
territorialen Veränderungen machten dabei den geringeren Teil der Veränderungen aus. Im Wesentlichen blieben die Aussengrenzen der Schweiz von 1815 bis heute gleich. Bedeutender waren die inneren territorialen Anpassungen. Es gab keine Zugewandten Orte und keine Gemeinen Herrschaften mehr. Die meisten inneren Grenzen blieben gleich wie in der Mediationszeit. Bern hatte dauerhaft Aargau und Waadt verloren, aber dafür den Jura gewonnen. Sonst war die Schweiz aber wieder ein Staatenbund von an und für sich souveränen Staaten geworden, der wie vor 1798 durch die relativ schwache Tagsatzung geführt wurde. Aussenpolitisch bedeutend war vor allem auch die internationale Anerkennung der Schweizer Neutralität. Innenpolitisch war die Epoche von 1815 bis 1830 in ganz Europa geprägt von der sogenannten Restauration, also dem Grundsatz der Wiederherstellung der alten Ver hältnisse des Ancien Régime von vor der Französischen Revolution. Doch liessen sich die alten Verhältnisse namentlich territorial nirgends mehr herstellen. Das war be sonders ausgeprägt im Gebiet des untergegangenen Deutschen Reiches, wo etwa im süddeutschen Raum aus den vielen kleinen Territorien wesentlich grössere Einheiten hervorgegangen waren. Dasselbe galt auch in der Schweiz. Die Berner hatten, wie oben schon erwähnt, Waadt und Aargau verloren. Obschon jetzt das Berner Patriziat in einem allerdings deutlich verkleinerten Staat noch einmal die politische Macht zurückerlangen konnte, hatten die durch die Revolution hervorgerufenen Ver änderungen nachhaltige Auswirkungen. Ein nun immer wichtiger werdender Treiber der Veränderung war die industrielle Revolution, die auf den Britischen Inseln bereits wesentlich fortgeschrittener war. Doch auch in der Schweiz nahm die Wirtschaft durch die Industrialisierung nach 1815 einen langsamen, aber immer stärkeren Aufschwung. Am Anfang stand die Textilindustrie. Erst ab ungefähr Mitte des Jahrhunderts sollte dann die Maschinenindustrie folgen, wozu auch der Bau von Dampfschiffen zu zählen ist. Dass die politische Programmatik der Restauration eben doch nicht nur der Restauration verpflichtet war, zeigt sich beispielhaft an einem Beschluss der Tagsatzung im Jahr 1818, der für die Stadt und Region Thun weitreichende Auswirkungen haben sollte und auch ursächlich für den Aufenthalt des späteren Kaisers Napo-
leon III. in Thun war. Denn die Tagsatzung beschloss, in Thun einen eidgenössischen Waffenplatz zu eröffnen, was dann bereits am 1. August 1819 in die Tat umgesetzt wurde. Zwar blieb das Militärwesen im Wesentlichen Kantonssache, aber die Ausbildung der Offiziere wollte man zentralisieren und vereinheitlichen. Ausschlaggebend für die Wahl des Waffenplatzes in Thun waren die zentrale Lage und die Eignung der Thuner Allmend für einen Artilleriewaffenplatz. Da mit dem Waffenplatz auch die dazugehörige Industrie in Thun Einzug hielt, ging von diesem Beschluss ein grosser Wachstumsimpuls aus. Träger des wirtschaftlichen Fortschritts war das Bürgertum. Dieses war aber nun gerade im Kanton Bern wieder von der politischen Teilhabe weitgehend ausgeschlossen. So kam es, dass sich in der Folge einer erneuten Revolu tion in Frankreich im Jahre 1830 auch in mehreren Schweizer Kantonen eine Abkehr von der Restauration hin zur sogenannten Regeneration ergab. Treiber dieser Entwicklung waren im Kanton Bern kleinere Städte und grössere Ortschaften wie etwa Burgdorf oder Münsingen, während die damals noch sehr kleine Stadt Thun unbedeutend war. Im Kanton Bern, wie in einer Reihe von anderen Kantonen, wurden nun neue, liberale Verfassungen erlassen, die nach demokratischen Gesichtspunkten gestaltet waren. Zu betonen ist allerdings, dass etwa die Berner Verfassung von 1831 noch nicht nach dem Grundsatz «One Man, one Vote» ausgestaltet war. Die Stimmkraft wurde entsprechend dem Steueraufkommen abgebildet. Von Frauenstimmrecht war erst recht keine Rede. Gleichzeitig setzten Bestrebungen zu einer Revision des Bundesvertrags ein. 1832 bildeten die Kantone Zürich, Bern, Luzern, Solothurn, St. Gallen, Aargau und Thurgau unter anderem zu diesem Zweck das liberale Siebner konkordat, worauf sich die Kantone Uri, Schwyz, Nidwalden, Obwalden, Neuenburg und Basel im konservativen Sarnerbund zusammenschlossen, um die Revision zu verhindern. 1833 wurde der Tagsatzungsentwurf für eine Bundesverfassung von der Mehrheit der Kantone abgelehnt. Der starke Föderalismus mit den weiterhin bestehenden inneren Zollschranken, aber auch den dadurch ausbleibenden Normierungen und einheitlichen Planungen behinderte bis zu einem gewissen Grad die Industria15
lisierung. Dies war etwa beim Eisenbahnbau ausgeprägt der Fall, wo erst 1844 in Basel die ersten paar Meter Schienen auf Schweizer Gebiet zu liegen kamen und sogar erst 1847 mit der «Spanisch-Brötli-Bahn» zwischen Baden und Zürich die erste längere Bahnstrecke eröffnet wurde. Eine schweizweite Normierung der Spurweite der Eisenbahnen scheiterte sogar noch in der Sommertagsatzung von 1847, in der die Liberalen im Grunde die Mehrheit be sassen, an einer unheiligen Allianz zwischen den Konservativen Orten sowie Zürich. Andere Bereiche wie etwa die bereits genannte Textilindustrie oder auch die Dampfschifffahrt wurden hingegen durch die politischen Verhältnisse weniger behindert. So kam es, dass auf den meisten Schweizer Gewässern schon lange Dampfschiffe fuhren, bevor die Eisenbahn die Ufer der jeweiligen Gewässer erreichte. So auch auf den Oberländer Seen, wo die Dampfschifffahrt 1835 Einzug hielt. Der innenpolitische Konflikt zwischen liberalen und konservativen Kantonen sollte noch bis zum Sonderbundskrieg von 1847 und der neuen Bundesverfassung von 1848 ungelöst bleiben. Erst dann setzten sich die Liberalen durch und etablierten eine neue Form der Eidgenossenschaft, die als Bundesstaat eine Mittelposition zwischen dem Zentralstaat der Helvetik und dem Staatenbund der Restauration einnahm. Die Umwälzungen von 1830/1831 und 1847/1848 mit Bestrebungen hin zu liberalen Verhältnissen verliefen zwar in der Schweiz und in vielen anderen europäischen Staaten parallel, im Unterschied zu anderen Ländern waren jedoch die Liberalen in beiden Phasen der Umwälzung in der Schweiz erfolgreich, während beispielsweise im Gebiet des Deutschen Bundes die zunächst ebenfalls erfolgreich scheinende Umwälzung mit dem Parlament in der Frankfurter Paulskirche letztendlich scheiterte. Nachdem in Frankreich der bereits weiter oben erwähnte Charles Louis Napoleon Bonaparte von 1848 an zunächst als demokratisch gewählter Staatspräsident amtete, endete in unserem westlichen Nachbarland die Volksdemokratie mit dessen Staatsstreich vom 2. Dezember 1851. 1852 proklamierte er sich dann als Napoleon III. zum neuen Kaiser der Franzosen. Somit war die Schweiz in Europa die einzige Volksdemokratie zu der Zeit und weltweit die zweitälteste, ununterbrochene Demokratie nach den Vereinigten Staaten von Amerika. 16
Samuel Krähenbühl
Exkurs
Das Biedermeier als kulturelle, künstlerische und modische Lebensart Vor dem Hintergrund der im vorherigen Kapitel geschilderten politischen (und auch militärischen) Ereignisse entwickelte sich in den uns interessierenden Jahren, über knapp drei Generationen Knechtenhofer hinweg, im zivil-privaten Bereich eine Stilrichtung und Lebensart, die als Biedermeier bekannt wurde und als «Periode der bürgerlichen Gemütlichkeit» einen festen Platz in der Kulturgeschichte gefunden hat. Sie wird meist mit der Epoche zwischen dem Wiener Kongress (1815) und den unruhigen Jahren um 1848/50 gleichgesetzt, dauerte also nur etwa 35 bis 40 Jahre. Das Biedermeier entwickelte sich als Kontrapunkt zu den verschiedenen vorangegangenen Stufen des Klassizismus, der sich in Architektur und Mode der Antike verpflichtet fühlte. Der Formenstrenge des Directoires und des Em pire folgte nun eine verspielte, lebensfrohe und alles a ndere als regelkonforme Lebensart, die zum Beispiel in den Werken des Malers Carl Spitzweg (etwa «Der Sonntagsspaziergang») exemplarisch zum Ausdruck kommt. Nach den schlank-züchtig verhüllenden Silhouetten des zurückliegenden Empire wollten die Damen nun entsprechend dem neuen, liberalen Zeitgeist wieder ihre Taille hervorheben. Als Schönheitsideal des Biedermeier galten zarte, zerbrechlich wirkende Frauen mit schmalen Schultern und schmaler Taille. Merkmale, die durch – nach heutiger Sicht – massiv übertriebene Kleiderformen entsprechend einer X-Silhouette widergespiegelt wurden. Die Mode wurde im Laufe der Zeit jedoch immer unpraktischer und die ausladenden und aufwendigen Formen ober- und unterhalb der zugeschnürten Taille zwangen die Damen jener Schichten, die sich das leisten konnten, praktisch zur Untätigkeit. Charakteristisches Merkmal der Kleidung jener Zeit war die Krinoline, anfangs noch als steife
Unterfütterung des Damenrocks, später als Reifrock mit eingearbeiteten Stahlreifen, sowie die überbreiten Keulenärmel. Die bevorzugte Frisur war der Mittelscheitel mit möglichst breit ausladenden Seitenteilen, diese (insbesondere bei jüngeren Frauen) neckisch begleitet durch möglichst lange Zapfenlocken. Als Stilikone jener Zeit galt namentlich Erzherzogin Sophie von Österreich. Die Herrenmode war keck, sie entsprach mit dem obligaten Zylinder, den eher engen Beinkleidern, einer oft farbenfrohen Weste und kunstvoll und üppig gebundenen Krawatten geradezu programmatisch der späteren Figur des Dandys.
«Der Sonntagsspaziergang» von Carl Spitzweg, geschaffen 1841. Sammlung J. Meister
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Die Bilder links und oben rechts zeigen Beispiele des Biedermeier in «besseren Kreisen», unten rechts sind Frauen (links eine Wirtin) einfacherer Schichten aus Thun abgebildet.
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Adliges Paar (eine Prinzessin aus Dänemark mit Ehemann) in der für diese Kreise gängigen Reise bekleidung gegen das Ende des Biedermeier. Sammlung J. Meister
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Es ging aber auch eine Spur einfacher, auf Reisen beispielsweise. Ungefähr so wie im Outfit im nebenstehenden Bild werden die Gäste in den Hotels Bellevue oder Du Parc per Kutsche eingetroffen und dann abgestiegen sein. Bei den Möbeln bildete sich nach den eher strengen oder gar steif wirkenden Produkten der klassizistischen Perioden im Biedermeier eine weit spielerischere Schreinerkunst heraus.
Im Bereich der Architektur galt eine eher ruhige Gleichmässigkeit der Bauten als Richtschnur, das Walmdach (mit Lukarnen und sonstigen Garnituren) war aber das Mass der Dinge – und dieses war denn auch bei den beiden grossen «Bellevue»-Bauten anfänglich vorhanden und wurde erst nach dem Ende der Biedermeierphase durch schlichtere Dachformen ersetzt. Insgesamt wurde das Biedermeier ab etwa 1850 ziemlich rasch durch den Historismus abgelöst, der seinerseits um 1890 dem Jugendstil Platz machen musste. Die prägenden Jahre des «Bellevue»-Komplexes standen aber ganz im Zeichen des Biedermeier und der geneigte Leser ist eingeladen, die nachstehend beschriebenen Entwicklungen immer etwa wieder unter diesem Blickwinkel zu betrachten.
Sessel und Récamiere zur Illustrierung der Verspieltheit des Biedermeier im Bereich Wohnmöbel. Sammlung J. Meister
Typisches gross bürgerliches Biedermeierhaus (denkmalgeschützt) in Klagenfurt (AT). Das «Bellevue» in seiner ersten Form war, mit etwas flacherem Dach, genau dieser Stilrichtung verpflichtet. Kulturamt Klagenfurt
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Die Knechtenhofers und ihre «Hotellandschaft»
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Gemaltes Panorama der Hotellandschaft am Ausfluss der Aare. Links der dominierende «Thunerhof» (Eröffnung 1875), rechts anschliessend die wichtigsten vorbestehenden Gebäude der Knechtenhoferschen Epoche plus der Kursaal. Lithografie: Reklamebild Thunerhof, mit Thunerhof, Bellevue, du Parc, Kursaal, Aarebecken mit Dampfschiff, Hintergrund Grüsisberg und Alpen, um 1890. Inv. Nr. SST-05921. Bildnachweis: Museum Schloss Thun, Inv. Nr. SST-05921. © Stiftung Schloss Thun
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Die Knechtenhofers: eine rührige, angesehene und erfolgreiche Familie Genealogie
Die zwei Standbeine der Das Geschlecht der Knechtenhofer ist seit 1604 als Knechtenhofers huner Burger verbrieft. Dies ist nach den acht sogeT nannten «Altburger Geschlechtern» erst die sechste Neueinbürgerung. In der uns interessierenden Epoche war das Burgerrecht ein entscheidender Faktor für den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erfolg, denn praktisch nur dieser Status verhalf innerhalb eines gewissen Perimeters zu z ivilen und politischen Ämtern, zu militärischen Karrieren und letztlich eben auch zu «Geld und Ehren».
Die Knechtenhofers sind als von Österreich zugezogen vermerkt. Da der Burgerstatus nie einfach nur geschenkt wurde, sondern durch ehrenhaften und gemeinsinnigen Zeitablauf verdient werden musste, kann angenommen werden, dass dieses Geschlecht vielleicht zwei Gene rationen vor den oben zitierten Jahren nach Thun zuge zogen ist. Es würde den Rahmen dieser Schrift bei weitem sprengen, die Familiendynastie nun ab 1604 bis in den uns interessierenden Zeitraum fortzuschreiben, die Verhältnisse sind auch bei starker Beschränkung auf die wesentlichen Zweige und Figuren noch verwirrlich genug, dies nicht zuletzt auch wegen der häufig äusserst ähnlichen Vor namen, die eine griffige und schnelle Unterscheidung nicht gerade erleichtern. Die Familienstruktur Knechtenhofer in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, dem Brennpunkt unserer Betrachtungen, findet sich auf dem Nachsatz dieses Buches. 24
Obschon sich dieses Buch mit den Knechtenhofers in erster Linie als erfolgreiche Hoteliers, Tourismusförderer und Schifffahrtsunternehmer im Raum Thun beschäftigt, darf nicht vergessen werden, dass sie ein zweites Standbein in Sumiswald im Emmental besassen, das aber im Verlaufe der Zeit in den Hintergrund trat. Das stattliche Dorf Sumiswald war um das Jahr 1800 eine wesentlich wichtigere, einwohnerstärkere und bestimmt auch wohlhabendere Gemeinde als Thun, zählte es doch schon im Jahre 1764 3100 Einwohner, während 25 Jahre später in Thun nur deren 1500 gezählt wurden. Die weitere Entwicklung beider Gemeinden verlief dann aber sehr unterschiedlich: 1850 überholte Thun mit rund 6000 Einwohnern Sumiswald, das 5500 zählte. Sumiswald zählt auch heute noch etwa gleich viel Einwohner wie damals, in Thun leben gegenwärtig rund 43 000 Personen. Wir beleuchten nachstehend beide Wirkungskreise der Familie Knechtenhofer nacheinander.
Die Bedeutung der Stadt Thun und ihrer Umgebung um das Jahr 1800 Um 1790 hatte das Städtchen Thun, wie schon erwähnt, gerade mal rund 1500 Einwohner und nicht mehr als 450 Häuser. Der Perimeter war klein, die angrenzenden