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LIEBE LESERIN, LIEBER LESER

Ein früher Freitagabend im Sommer 2005. Ich sass am Schreibtisch im hinteren Sprechzimmer. Soeben hatte ich den letzten Patienten hinausbegleitet. Praxisassistentin Lisa und Lehrtochter Monika waren instruiert, das Telefon ausnahmsweise auf den Anrufbeantworter umzuschalten, sobald niemand mehr angemeldet und das Wartezimmer leer war.

Es war kein besonders anstrengender Tag gewesen. Trotzdem hatte ich es irgendwie nötig, eine Stunde früher nach Hause zu gehen. Ich beendete die Notizen in der Krankengeschichte oder KG, stand auf und öffnete ein Fenster. Die Abendsonne flutete ins Zimmer.

Bald würden mich meine Helferinnen zum Rapport rufen, um die angemeldeten Konsultationen für den Samstagvormittag zu besprechen. Sollte ich jetzt gleich zu ihnen hinausgehen? Ich entschied mich anders. Zog den Kittel aus, hängte ihn an die Tür und liess mich in den Stuhl zwischen Schreibtisch und Fensterfront sinken. Den gemütlichen, tiefen Ledersessel boten wir hauptsächlich Kranken an, die sich für ein längeres Gespräch angemeldet hatten. Aber warum, dachte ich, solltest du dich nicht wieder einmal hineinsetzen dürfen, bloss da sein und dich einige Gedanken lang mit dir selbst unterhalten?

Wie ich nun so dasitze, in die Sonne blinzle und über meine eigene Krankengeschichte und Zukunft sinniere, vernehme ich von draussen Stimmen.

Das Chalet Am Rellerli, in dem sich im Erdgeschoss die Praxis befindet, ist tief in den Hang gebaut. Mein Rückzugsort ermöglicht mir, das Flachdach der Talstation der Gondelbahn zu überblicken. Ein älteres Paar steht zuvorderst am Geländer und schaut den einfahrenden Gondeln zu. Der Betrieb scheint die beiden zu interessieren. Trotzdem zeigen sie wiederholt auch zum Chalet herüber. Und tatsächlich – sie kommen auf unseren Hauseingang zu.

Bevor ich richtig Zeit gefunden habe, aus dem Sessel hochzukommen und nochmals in den Kittel zu schlüpfen, läutet es an der Praxistüre.

Die Frau berichtet nichts Dramatisches. Zweimal kurz hintereinander Durchfall. Kein Bauchweh, keine Übelkeit. Seit mehreren Stunden war es in den Därmen wieder ruhig.

Ob ich ihr den Bauch trotzdem kurz untersuchen könne?

Zu Hause wäre die Unpässlichkeit höchstwahrscheinlich ohne Arztbesuch vorbeigegangen. Auswärts befürchtet man, Krankheit könnte die Ferien unterbrechen oder gar ins Wasser fallen lassen.

Die Untersuchung ergab nichts Beunruhigendes. Ich bot der Frau für Samstagvormittag eine Kontrolle an und Kohletabletten in Reserve, sollte sich der Durchfall wider Erwarten wieder melden. Ihren Dank für die prompte Bedienung schloss sie mit den Worten:

«Wir lesen regelmässig die Kolumne ‹Aus der Praxis› in der Schweizer Familie. Einmal haben Sie geschrieben, die Arztpraxis befinde sich in der Nähe einer Gondelbahn. Daher war es für uns nicht schwierig, den Weg zu Ihnen zu finden.»

Ihr Ehemann ergänzte schmunzelnd: «Gleichzeitig konnten wir uns überzeugen, dass es tatsächlich so ist, wie Sie schreiben … Hoffentlich machen Sie noch lange weiter.»

Liebe Leserinnen und Leser, Sie dürfen beruhigt sein. Hier wird nicht geflunkert. Die Kurzgeschichten aus den Praxisjahren 2001 bis 2006 sind wahr. Fiel während der Sprechstunde und bei Hausbesuchen etwas Ernstes oder Heiteres vor, wovon ich dachte, es könnte auch für Gesunde aufklärend und nebenbei unterhaltend sein, habe ich sogleich nachgehakt, ob ich darüber schreiben dürfe. Einziges Problem: das Arzt-, oder besser gesagt das Patientengeheimnis. Oder noch besser gesagt – einziges Problem: das Vertrauen.

Im Lauf der Jahre hat es sich aus diesem gegenseitigen Vertrauen heraus ergeben, dass mir manchmal das Du angeboten wurde – grad wenn ich ein vermeintlich krankes Herz aushorchen wollte. Also habe ich das Stethoskop wieder von den Ohren genommen und überrascht und gerührt die weibliche oder männliche Hand ergriffen. Seltener kam das Du zuerst von mir – warum das so war, tut hier nichts zur Sache. Das Du hat den gegenseitigen Respekt nie geschmälert – eher war das Gegenteil der Fall. Und da ist mir im Eifer des Schreibens eben passiert, dass ich, ohne zu wollen, geradeheraus «Hansueli Leuenberger» hingeschrieben habe. Korrigieren oder anrufen?

Ich habe mich fürs Anrufen entschieden. Seine Antwort können Sie auf Seite 212 nachlesen.

Also denn: Bei Hansueli Leuenberger nicht; bei allen anderen Patientinnen und Patienten sind Namen und häufig auch die Wohnorte verändert. Aber sagen Sie selbst: Namen und Orte sind hier nebensächlich. Entscheidend war und ist, was sich in der vertrauensvollen und vertraulichen Beziehung zwischen dem Arzt und den Kranken ereignet hat. Behalten Arzt oder Ärztin Augen, Ohren und Herz offen – was ja immer der Fall sein sollte –, liefert der Tagesablauf in jeder Arztpraxis ernste und heitere Episoden genug. Sie müssten bloss als aussergewöhnlich erkannt und festgehalten werden.

In diesem Sinn gebe ich Garantie. Das Leben selbst hat die kleinen Geschichten geschrieben. Ich habe sie dem Leben bloss abgeschrieben.

Noch etwas. Was hat jener Ehemann damals gewünscht? «Hoffentlich machen Sie noch lange weiter.»

Ja? Nein? Im Sommer 2005 wusste ich nicht, was ich erwidern sollte; wie lange ich noch «weitermachen» könne – mit dem Kolumnenschreiben und mit meiner Praxis. Drei Jahre zuvor hatte ich die Diagnose Prostatakrebs und nach zwei Operationen störende und bleibende Nebenwirkungen akzeptieren müssen. Da brauchte ich mir wahrlich nichts vorzumachen. Schon als Medizinstudent in den klinischen Semestern, danach in den acht Jahren als Assistenzarzt und vor allem in den zwölf Praxisjahren vor der Diagnose hatte ich an so manchem Krankenbett und bei den vielen Begegnungen in der Praxis zu sehen bekommen und gespürt: Sicherheit im Leben ist ein Hirngespinst, ja, eigentlich ein Witz. Ein gutes Beispiel liefert eben gerade das Prostatakarzinom. Nach Diagnose und Therapie und Kontrollen und erneuten Kontrollen folgen meistens Jahre der Verunsicherung: Komme ich davon – oder gehe ich davon?

Liebe Leserin, lieber Leser! Mein neues Buch beweist Ihnen, dass ich annehmen darf, davongekommen zu sein. Der bisher erfreuliche Verlauf ist zweifellos einer der Gründe, warum diese scheinbar «alten» Kolumnen jetzt in Buchform erscheinen.

Krankheit und Leid altern nicht. Krankheit und Leid begleiten uns alle. Die einen werden häufig, hartnäckig und schmerzlich heimgesucht; andere haben das grosse Glück, selten oder überhaupt nie erleben zu müssen, wie unerwartet und wie brutal eine Krankheit in unser Leben einbrechen kann.

Was ich jedoch allen meinen Leserinnen und Lesern wünsche: Auch Hoffnung und Humor mögen Sie immer begleiten – in gesunden wie in kranken Tagen.

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