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SCHNITZELJAGD UM MITTERNACHT

Wieder einmal Freitag. Wieder 24-Stunden-Notfalldienst.

Überrascht war ich schon, als ich den Namen hörte. Jedenfalls kein Traum – die Uhr zeigte präzis Mitternacht.

Die Ehefrau eines weltberühmten Künstlers wünschte einen Hausbesuch. Ihrem Mann sei übel, er habe erbrochen und Durchfall gehabt. Nein, kein Fieber. Sie hätten an einem Bankett teilgenommen, recht üppig gegessen, höchstwahrscheinlich auch einige Löffel eines Pilzgerichts. Ob ihr Mann sich dabei vergiftet haben könnte?

«Wann hat er von den Pilzen gegessen?»

«Wir sind soeben nach Hause gekommen. Jetzt hören Sie gut zu: Unser Haus ist weitläufig. Ich schliesse Ihnen gleich die Haustüre auf. Danach möchte ich oben bei meinem Mann bleiben. Gehen Sie aussen die Steintreppe neben der Garage hoch und geradeaus zur Türe mit dem Rundbogen. Folgen Sie danach einfach den Spuren. Sie werden uns bestimmt finden.»

Ich hätte ihr noch raten wollen, das Erbrochene nicht wegzuschütten. Aber sie hatte schon aufgelegt.

Was die Frau mit den Spuren gemeint hatte, wurde mir klar, als ich die schwere Holztür aufgestossen hatte. Ausgestreute Papierschnitzel führten mich durch die Eingangshalle des jahrhundertealten, stilvoll renovierten Holzhauses, durch teppichbelegte Gänge, vorbei an Bildern und Fotografien, die jedem Museum zeitgenössischer Kunst gut angestanden wären. Vor allem aber gings schier endlos treppauf – bis vor das Schlafzimmer meines Patienten. Die Türe war bloss angelehnt.

Der Mann sass busper im Bett. Das Erbrechen habe aufgehört. Durchfall sei nur einmal aufgetreten. Sein Gesicht hatte Farbe, sein Händedruck war kräftig. Es wurde bald recht gemütlich. Seine Ehefrau bot mir einen Stuhl an, setzte sich beim Fussende aufs Bett und sah mir bei der Untersuchung zu.

Ich fand nichts Ungewöhnliches. Meine Beurteilung: am ehesten eine Lebensmittelunverträglichkeit. Das Wort Lebensmittelvergiftung vermied ich, empfahl Schwarztee oder Coca-Cola in kleinen Schlucken.

«Dürfen wir Sie den Weg nach unten allein gehen lassen?»

Dank der amüsanten Schnitzeljagd schliefen die Bediensteten ungestört. Und ich fand mühelos zur Haustür zurück. Wie gut, hatte ich als Bub bei den Pfadfindern mitgemacht.

Pilzvergiftung

Dies vorweg: Ich halte es für höchst unwahrscheinlich, dass es möglich ist, sich in einem Fünfsternehotel eine Vergiftung durch einen Giftpilz zuzuziehen. Die Hotelküche kauft ja die Pilze nicht von Hobbysammlern. Trotzdem an dieser Stelle das Wichtigste:

Die Familie der Knollenblätterpilze verursacht über 90 Prozent der schweren Pilzvergiftungen in der Schweiz (Pilzatlas konsultieren!).

Wichtigste Zeichen: Erbrechen, Durchfall, starkes Bauchweh, jedoch erst sechs bis maximal 24 Stunden nach der Pilzmahlzeit! Trotzdem ist es sinnvoll, bei jedem Verdacht sofort zu reagieren, um den schweren Notfall nicht zu verpassen. Nur scheinbare Erholung nach ungefähr einem Tag, danach zeigt sich bereits die Leberschädigung mit «Gelbsucht». Die Vergiftung reicht von leicht bis tödlich. (Während der 15-monatigen Assistenzzeit im Institut für Rechtsmedizin habe ich leider zwei Todesfälle gesehen.)

Der Fliegenpilz ist für etwa zwei Prozent der Pilzvergiftungen verantwortlich. Innert 30 Minuten können bereits Anzeichen einer Vergiftung auftreten. Sie ähneln insgesamt einem schweren Rausch mit Unruhe und Verwirrung, Angst, gestörtem Gefühl für Ort und Zeit; sogar Halluzinationen kommen vor. Übelkeit und Durchfall sind dagegen eher selten. Anschliessend folgt ein Tiefschlaf. Todesfälle sind äusserst selten.

Merke allgemein: Frühes Erbrechen: eher nicht gefährlich; spätes Erbrechen: vielleicht Lebensgefahr! Erbrochenes aufbewahren.

LEBENSMITTELVERGIFTUNG = LEBENSMITTELINTOXIKATION

Hierbei handelt es sich eigentlich um Unverträglichkeiten von Nahrungsmitteln, die giftige Stoffwechselprodukte von Bakterien enthalten. Theoretisch wäre es möglich, dass eine Zutat des Banketts vor der Verwendung lange ohne Kühlung blieb und sich darin Bakterien vermehren konnten. Kochen tötet sie ab, nicht aber deren Toxine. Je nach Giftstoff kommt es bald zu meist heftigem, aber nur kurz dauerndem Erbrechen und Durchfall bis zu Fieber und Muskelkrämpfen. Dauern Erbrechen und Durchfall an, verliert der Körper innert kurzer Zeit viel Flüssigkeit. Hier drängt sich die Behandlung im Spital schon recht bald auf.

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