
2 minute read
DIE THERAPIE LIEGT UNTER DEM BETT
Notfalldienst, zwei Uhr nachts. Am Telefon eine kurzatmige Frauenstimme.
«Sie müssen kommen! Es drückt auf der Brust, ich rege mich fürchterlich auf … machen Sie schnell!»
Glücklicherweise war mir bekannt, dass Frau Blumer Nitroglyzerinkapseln auf dem Nachttisch liegen hatte.
«Zerbeissen Sie eines Ihrer Kügelchen und nehmen Sie das Kissen in den Rücken. Aber nicht anstrengen, nicht aufstehen. Ich komme, fahre gleich los.»
Ich war nicht Hausarzt der 79-jährigen ehemaligen Bäuerin. Aber ich kannte sie. Als ich – es sind Jahrzehnte her – noch Lehrer an der neu errichteten Förderklasse in der Gemeinde Saanen war, kam einer ihrer Buben zu mir in die Schule. Lehrer und Schüler waren über die Jahre Freunde geworden. So erfuhr ich von Zeit zu Zeit, wie es seiner Mutter ging. Seit einigen Jahren war sie ganz erblindet und lebte mit der Familie seines Bruders, der den Betrieb übernommen hatte.
Zu dieser Nachtzeit habe ich freie und zügige Fahrt auf der schmalen Grubenstrasse, die Schönried mit Gstaad verbindet. In wenigen Minuten werde ich bei der Patientin sein. Dies ist auch der Grund, weshalb ich mich entscheide, nicht sogleich die Ambulanz auf den Weg zu schicken.
Rund ums Haus stockdunkel. Ich tappe das Tenn entlang. Aufgeregtes Schimpfen weist mir den Weg. In der Schlafkammer ertaste ich den Lichtschalter.
Was mich überrascht: Alle Medikamente, also auch die Nitrokapseln, sind auf dem Nachttisch in unterschiedlich geformte Fläschchen abgefüllt. Weil ja für die Blinde kein Lämpchen nötig ist, bleibt auch für den Telefonapparat genügend Platz. Ein anscheinend nutzloses Plastikschälchen steht auch noch da; wozu es gut sein soll, verstehe ich nicht.
Frau Blumer ist momentan allein. Die Jungen bereiten die Alpfahrt vor. Die Untersuchung muss mich also möglichst rasch ins Bild setzen: Spitaleinweisung ja oder nein? Vorerst lasse ich die aufgeregte Frau Blumer nicht zu Wort kommen. Der Blutdruck ist zu hoch, aber nicht alarmierend hoch. Der Puls schnell, aber regelmässig. Kein kalter Schweiss, beim genauen Nachfragen auch kein Klemmen in der Brust.
«Also, Frau Blumer – jetzt sind Sie dran.»
«Meine neuen Zähne … überall gesucht, sackermänt! Kann sie einfach nicht finden … richtig zum Verzweifeln!»
Hatte ich richtig gehört? Ja, ich hatte richtig gehört und auch richtig verstanden.
So kam es, dass ich lang nach Mitternacht in einer einfachen Schlafkammer auf dem rohen, unebenen Holzboden herumkroch. So kam es, dass ich mich endlich auch noch unters Bett zwang – und hinter dem nicht ganz leeren Nachttopf die Teilprothese fand.
Kaum war sie gefunden und lag wieder in dem durchaus nicht nutzlosen Schälchen auf dem Nachttisch, waren die Zeichen eines vermeintlichen Anfalls von Angina pectoris verschwunden.
Einer Zahnprothese sei Dank.
Angina Pectoris
Angina pectoris (siehe auch Seite 38) heisst Beklemmung oder Enge der Brust. Was das Lateinische nicht sagt: Zur Enge in der Brust gehören meist auch Schmerzen, die nicht nur in der Brust auftreten. Angina pectoris ist nur ein Anzeichen, ein Symptom des Leidens koronare Herzkrankheit.
Die Ursache von Enge und Schmerzen ist Sauerstoffmangel in einem Bezirk des Herzens. Blut und damit Sauerstoff werden dem Herzmuskel über kleine Schlagadern zugeführt, die Herzkranz- oder Koronararterien (Kranz oder Korona deshalb, weil sie ähnlich einem Kranz aussen ums Herz herumführen). Sauerstoffmangel tritt ein, sobald die Kranzarterien deutlich zu eng werden, weil sich an und in der Gefässwand Blutfette ablagern. Diese sogenannten Plaques verhärten und können einreissen. An solchen Stellen haften mit der Zeit Blutplättchen und winzige Gerinnsel an, was die Kranzarterien zusätzlich verengt. Für weitere, vorübergehende Verengungen werden auch Krämpfe verantwortlich gemacht.
Der Ort des Brennens, Schmerzes oder Klemmens hängt davon ab, welche Kranzarterie verengt ist. Am häufigsten wird der Druck hinter dem Brustbein verspürt, also mitten auf der Brust. Der Schmerz kann jedoch auch in den Rücken zwischen die Schulterblätter, in die Magengegend, in den linken Arm oder gar in den Unterkiefer ausstrahlen.
Das Risiko für Angina Pectoris ist grösser bei Bluthochdruck, Zuckerkrankheit und erhöhten Blutfetten. Rauchen und Stress kann Verengungen der Kranzarterien begünstigen. Mein Ratschlag: Lieber einmal zu früh ans Telefon als zu spät.