Kurzvorschau – Schneisen ins Heute

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Herausgegeben von Daniel Annen und Dominik Riedo

Schneisen ins Heute Mentalitätswandel – Die Geschichte des ISSV als Abbild von Zentralschweizer Literaturströmungen


Für die grosszügige Unterstützung geht unser Dank an den ISSV und an die Kantone Uri und Schwyz sowie an den Bezirk Schwyz.

Impressum Alle Angaben in diesem Buch wurden von den Herausgebern sowie den Autorinnen und den Autoren und vom Verlag mit Sorgfalt geprüft. Inhaltliche Fehler sind dennoch nicht auszuschliessen. Daher erfolgen alle Angaben ohne Gewähr. Weder die Herausgeber, die Autorinnen und Autoren noch der Verlag übernehmen Verantwortung für etwaige Unstimmigkeiten. Alle Rechte vorbehalten, einschliesslich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe. © 2023, Weber Verlag AG, Gwattstrasse 144, CH-3645 Thun / Gwatt Texte: Herausgeber Daniel Annen und Dominik Riedo; die Rechte verbleiben bei den einzelnen Autorinnen und Autoren Weber Verlag AG: Leitung/Konzept: Annette Weber-Hadorn Gestaltung/Satz: Erina Zbinden Gestaltung Cover: Sonja Berger Lektorat: Alice Stadler Korrektorat: David Heinen ISBN 978-3-905927-75-7 www.weberverlag.ch neutral Drucksache No. 01-12-409142 – www.myclimate.org © myclimate – The Climate Protection Partnership

Der Weber Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Struktur­beitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.


Inhalt Daniel Annen und Dominik Riedo: Vorwort Daniel Annen: Einleitung – Der ISSV im Wandel

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der Mentalitäten

18

Konrad Rudolf Lienert: «Ä Schwyzer sä blybi»

63

Tony Ettlin: Die Schwebe halten zwischen Sein und Schein 68 Jakob Wyrsch (1892–1980) und das Volk von Unterwalden

69

«Das Volk von Unterwalden» Essay von Jakob Wyrsch (1946)

71

Josef von Matt (1901–1988)

72

Werner Baggenstos (1922–1980)

83

Die alte Rivalität zwischen Nid- und Obwalden

89

Eigenschaften der Obwaldner

94

Eigenschaften der Nidwalnder

94

Literarische Spuren

97

Die Schwebe halten statt Ewigkeitswerte schaffen

99

Und wie ist es heute?

99

Kurzdarstellungen

100

Literaturangaben

102

Pirmin Meier: Josef Maria Camenzind – Ein Gersauer erzählt Literatur­geschichte

103

Dichter der Heimat und der Welt

107

«Das ist einfachhin wahr»

109

Geistige Landesverteidigung

112

«Schweizer Texte» mit J. M. Camenzind (2009)

113

1971: Selbstunterschätzung eines Preisträgers

114


Hamlet-Moment auf dörflichem Friedhof

116

Der liebenswürdige Schilderer und Maler

116

Weiterführung der Tradition des sozialen Realismus

118

Migranten aus Italien in Schweizer Literatur

120

Spitteler, die Schweiz und Deutschland im Ersten Weltkrieg 122 Wie ein Dorfjunge die Internierten erlebt

123

Ein Aussenseiterverlag in Basel

125

«Marcel und Michael» – ein Kleinroman als Vermächtnis

126

Literaturangaben

130

Max Huwyler: Verwirrnis in der Sakristei

131

Margrit Schriber: Wilhelm Tell auf dem Verdunkelungsrollo 133 Verena Stössinger: Mutter Geiss, Cincera und der Himmel über Luzern

142

Osy Zimmermann: Satirisch-musikalische Präsentation eines Textes von Paul Steinmann zum Einfluss von Kinderliedern auf die Geschlechterfrage 149 Trudi von Fellenberg-Bitzi: Poesietag in Zug, 31. März 1984

156

Und so war es

157

18 Gedichte auf 5000 Blättern

159

Im Zeichen der Lyrik

162

Das Poesietelefon

164

«Poesie wie Brot?»

165

Literaturangaben

170

Dominik Brun: Von einem Autor, der keinen Gott fand

171


Bruno Bollinger: Die 68er: Mutige Verteidiger des offenen Wortes

176

Kulturkampf im Schweizerischen Schriftsteller Verein (SSV) 179 ISV-Vorstand solidarisiert sich mit Hans Küng

182

Alpnach Dorf im September 1987: Der ISV wird ISSV

184

André Schürmann: Mundart als Aufbruch

186

Elisabeth Wandeler-Deck: Was war die Frage

189

Beat Hüppin: Idealismus in schweren Zeiten – Der Antium Verlag als Beispiel

193

Andreas Iten: Der ISSV als Familie – 80 Jahre ISSV

198

Mario Andreotti: Aspekte und Tendenzen der neueren Schweizer Literatur

201

Dominik Riedo: Die Mundartwellen in der Schweiz – mit einigen Seitenblicken

214

Die allerwichtigsten Veröffentlichungen

231

Inhaltsangabe: Schneisen ins Heute

233

Herausgeber

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Peter Studer alias Giorgio Avanti hat eine Gratulationskarte für den ISSV gestaltet.

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Vorwort Von Daniel Annen und Dominik Riedo Es hat schon fast Tradition, dass von Zeit zu Zeit ein Buch zum ganzen ISSV (Innerschweizer Schriftstellerinnen- und Schriftstellerverein) erscheint. In früheren Jahren waren das oft Vorstellungen einzelner Autorinnen und Autoren und/ oder entsprechende Werkstattauszüge unserer Mitglieder. Diese Tradition der ISSV-Bücher geht hiermit weiter. Dieser Band liegt aber in anderer Form vor. Das ist es denn auch, warum dieser Band in seiner Form vor Ihnen liegt. Es werden hier nicht vor allem Vereinsdaten oder Autoren- und Autorinnenbiografien gesammelt, sondern es soll nachverfolgt werden, wie sich die Mentalitätsgeschichte der Zentralschweiz in ihrer Literatur und damit letztlich in den Wandlungen des ISSV niedergeschlagen hat. Dennoch sind weiterhin alle Beitragenden dieses Bandes Mitglieder im ISSV. Zur Allgemeingültigkeit des Buches: Gewiss verweisen einige Texte und vor allem Fotos auch auf Personen aus dem Verein. Aber Namen sind nur insoweit erwähnt, als sie mit dem Wandel der (kollektiven) Denk- oder Gefühlswelt verbunden sind – mit der Art, die Welt zu sehen und zu bewältigen. So zeigen sich Entwicklungen, wie sie nicht nur für die Innerschweiz wichtig sind. Sie erhellen im Grunde Konstellationen, die sich auch im weiteren Umkreis immer wieder manifestieren. So kann der ISSV dazu dienen, eine Geschichte der allgemeinen gesellschaftlichen Konstellationen darzustellen. Das muss nicht einmal immer auf den ersten Blick offensichtlich 9


Der erste Präsident des ISSV: Otto Hellmut Lienert Privatarchiv Konrad Rudolf Lienert

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sein. Zum Beispiel war für den ISSV lange, nämlich während der Dauer des in der Innerschweiz stark ausgeprägten katholischen Milieus, eine engmaschige Gebotsmoral bestimmend. Dieses Milieu verlor ab den 1968ern seine Kraft – aber eine solche Gebotsmoral kommt heute mit der nun säkularen Juristifizierung und Reglementierung aller Lebensbereiche mutatis mutandis auf andere Art zurück. Die Paragrafenverliebtheit ist dabei weiterhin aktuell. Altes und Neues gleichen sich. Beides braucht die Gegenkraft der Literatur. Zur Einteilung: Wir wollten zuerst die Beiträge trennen, je nachdem, ob sie in belletristischer oder wissenschaftlicher Machart daherkommen. Aber angesichts der Eingaben erwies sich eine solche Trennung als schwierig. So haben zum Beispiel einige Eingaben Essaycharakter, sie stehen also einer Abhandlung nahe, besitzen aber dennoch auch einen Kunstcharakter. So haben wir uns denn für ein relativ wildes Durcheinander der Textsorten entschieden. Dadurch wird die Lektüre vielleicht kurzweiliger; jedenfalls wird die Vielfalt der Ausdrucksformen ersichtlich. Wir eröffnen das Buch mit Erinnerungen Konrad Rudolf Lienerts an dessen Vater Otto Hellmut Lienert, also an den ersten Präsidenten des Innerschweizer Schriftstellervereins, damals ISV (Innerschweizer Schriftsteller Verein). Es zeigt sich, dass die Spannung zwischen Einsamkeit und Geselligkeit, an der heute noch viele Schriftstellerinnen und Schriftsteller leiden, auch ein Motiv für die Gründung war. Ein weiteres Motiv nannten die ersten Promotoren selbst: Der ISV soll «die Berufskollegen der Kantone Uri, Schwyz, Obund Nidwalden, Luzern und Zug einander näherbringen, auf dass wir wenigstens in den dringlichsten Angelegenheiten zusammenstehen». Wenigstens in den dringlichsten Angele11


Ein Ausflug auf die Rigi in frühen ISV-Jahren Privatarchiv Konrad Rudolf Lienert

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genheiten zusammenstehen: Das liest sich wie ein Korrektiv; offenbar haben im Vorfeld der ISV-Gründung in den dringlichen Angelegenheiten die Mentalitäten nicht problemlos zusammengespielt. Tony Ettlin zeigt solche Mentalitätsunterschiede anhand von zwei Halbkantonen, deren Verschiedenheiten von aussen eigentlich kaum wahrgenommen werden: Ob- und Nidwalden. Er greift auf Texte von Jakob Wyrsch und Josef von Matt zurück sowie auf die eigene Erfahrung. Zugleich werden verschiedene Merkmale der Gründerzeit erkenntlich, etwa der patriotische Konservativismus, aber auch das Spielerische in fasnächtlicher Atmosphäre, die Bedeu-tung der Mundart oder eine leise Skepsis gegenüber neuer Technik oder dann doch gegenüber der schweizerischen Selbstgratulation im Rahmen der Landi 1939. Unter anderem deswegen öffneten die Gründer des ISV den Geist auch auf die weite Welt, also über die Innerschweiz hi-naus: Josef Maria Camenzind war ein Geistlicher aus dem Missionshaus Immensee, und sein schriftstellerischer Fokus war ganz auf Gersau zentriert. Die Gegend dürfte ihn schon in seiner Jugendzeit geprägt haben. Aber er zeigte dennoch grosses Verständnis gegenüber Auswärtigen, zum Beispiel gegenüber italienischen Gastarbeitern. Camenzind war ein Dichter der Heimat – und der Welt. Im Vergleich zu ihm war wohl Josef Konrad Scheuber stärker auf die Innerschweiz beschränkt. Gerade darum genoss er auch ein Ansehen, das heute kaum mehr denkbar wäre. Max Huwyler erinnert sich, wie er als Ministrant diesen Dichter in einer Sakristei antraf. Wobei der Dichter als FeldpredigerHaupt-mann daherkam, bevor er sich das Messgewand anlegte. Die Kleidung der katholischen Liturgie über der Militäruniform – eine Assoziation könnte da aufsteigen, die das damals die In-nerschweiz bestimmende katholische Milieu mit der Bedeutung 13


der Armee zusammenbringt, mithin indirekt mit der (geistigen) Landesverteidigung. Das katholische Milieu und die geistige Landesverteidigung: Sie waren ja die beiden wichtigsten Triebfedern für die Gründung des ISV. Margrit Schriber blickt ebenfalls auf die Zeit zurück, in der der ISV gegründet wurde. Diese Rückschau ist interessant, gerade weil die später berühmte Autorin noch nichts mit dem ISV am Hut hatte. Dafür zeigt sie, wie eine Frau zur Schriftstellerin werden konnte, obwohl sie vorerst in einem ganz anderen Berufsfeld tätig war. Zudem kommt hier das für die geistige Landesverteidigung symptomatische Tell-Motiv in einer wenig bekannten Version zur Sprache. Verena Stössinger konfrontiert in ihrem Rückblick die kindliche Lesekultur mit der grossen Politik, die vor allem in den Siebzigerjahren mit Ernst Cincera und weiteren Spitzelaktivisten einen späten Ableger der geistigen Landesverteidigung wieder aufleben liess. Die Geschlechterfrage hat in der vergangenen Zeit auch die Innerschweiz umgetrieben. Dass diese Frage in der Sprache immer ihren Niederschlag findet, zeigen Osy Zimmerman alias Professor Mosimann und der Texter Paul Steinmann. Happeningcharakter hatte 1984 eine Aktion in Zug. Trudi von Fellenberg-Bitzi berichtet davon. Übrigens fand die Geschlechterfrage auch im Namen des ISV ihren Niederschlag. Sein Akronym wurde 1987 um ein S erweitert. Das zweite S steht seit der Jahresversammlung 1987 für die weiblichen Mitglieder: Innerschweizer Schriftstellerinnen- und Schriftstellerverein. Es ist vielleicht kein Zufall, dass diese Erweiterung während der Präsidialzeit 14


Dominik Bruns von 1985 bis 1997 möglich wurde. In dieser Ära ging eine mentale Befreiung durch die Innerschweizer Schriftstellerinnen und Schriftsteller: eine Befreiung von überkommenen Vorstellungen in Politik und Religion. Dies führte zu dissonanten Bestrebungen, die Dominik Brun als Präsident auszuhalten hatte. Auch sein Text in diesem Band ist eine Reflexion solcher Reibungsflächen. Bruno Bollinger zeigt, zum Teil eigene Erfahrungen aufgreifend, wie die 68er-Zeit auch im ISSV, wie anderswo, katalysatorisch wirkte. So etwa wäre ohne den Einfluss dieser Zeit die Rebellion gegen den Entzug von Küngs kirchlicher Lehrbefugnis nicht möglich gewesen. Auch die Geschlechtergleichheit wäre wohl nicht so deutlich markiert worden. Die Dissonanzen waren ertragreich: Sie führten zu neuer Freiheit im Formalen. Die Mundart kam zurück, aber nun nicht mehr im Rahmen eines patriotischen Konservativismus, sondern als Material für Sprachspiele, als Spoken Word, zumindest in einem weiteren Sinn. André Schürmann – der übrigens die «Loge» in Luzern leitet und dort auch viel «spoken» Texte präsentiert – gibt einen Überblick über die Vielfalt der Spoken-Word-Autorinnen und -Autoren. Elisabeth Wandeler-Deck spielt, oder vielleicht besser: experimentiert mit der Sprache. Fast collagenhaft verweisen Textfetzen auf die heutige Welt, die ihre Kohärenz verloren hat: Und darin spiegelt sich denn auch die Vielfalt der Literatur und unserer Denkhaltungen. Oder anders: Die Frage nach einer kohärenten innerschweizerischen literarischen Tradition ist dann nur noch eine unter vielen – und die wird im Gedankenfluss sofort wieder aufgesogen. Diese Sogkraft lässt dann das Entscheidende nur als Frage zurück: Was war die Frage? 15


Es scheint für einen Band zur Innerschweizer Literatur im Jahre 2023 notwendig, auch die Marktsituation zu bedenken. Beat Hüppin, der mit viel Idealismus einen Verlag gegründet hat, zeigt exemplarisch die Schwierigkeiten. ISSV-Ehrenpräsident Andreas Iten blickt zurück, nicht nur auf seine Präsidialzeit und auf die Verbindungen zum Innsbrucker Turmbund, sondern auch auf das Buch über die literarische Innerschweiz, das er im Auftrag der Albert Köchlin Stiftung organisiert hat. Und dann eben: Was war die Frage? Zum Schluss gibt Mario Andreotti einen Überblick über die Entwicklung der schweizerischen Literatur. Der soll dem Lesepublikum dieses Bandes ermöglichen, die darin enthaltenen Aufsätze – oder vielleicht besser: die Innerschweizer Spezialitäten – in einem Gesamtrahmen zu sehen. Dominik Riedo zeigt zuletzt in einem weiteren Aufsatz auf, wie sich die Innerschweizer Literatur, die ja oft in Mundart daherkommt, in die gesamtschweizerische Dialektliteratur einfügt. Dabei unterscheidet er drei Wellen. Und gerade anhand dieser drei Wellen, gerade anhand der Mundart also, lässt sich ablesen, wie sich der ISSV im Lauf der Zeit von seinen konservativ-patriotischen Tendenzen gelöst hat. Dieses Buch wäre nicht möglich geworden ohne die Vorarbeit von Frau Sybilla Schmid Bollinger, Bruno Bollinger und Max Christian Graeff. Sie haben die Materialien aus dem ISSV-Archiv der Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern aufgearbeitet. Ulrich Niederer, der ehemalige Direktor der Luzerner Zentralbibliothek, stand uns dabei stets hilfreich zur Seite. All den hier Erwähnten sei herzlich gedankt.

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Daniel Annen ISSV-Präsident 2013–2022 Dominik Riedo Schriftsteller, ehemaliges Vorstandsmitglied des ISSV und Präsident des DeutschSchweizer PEN Zentrums

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Einleitung – Der ISSV im Wandel der Mentalitäten Von falschen Sicherungen in ein gefährliches Vielleicht Von Daniel Annen Das war eine krisenhafte Zeit für den schweizerischen Staat, in der dreizehn Autorinnen und Autoren oder jedenfalls Literaturinteressierte den Innerschweizer Schriftstellerverein, damals noch als ISV abgekürzt, gründeten. Sie trafen sich hierfür am 27. Januar 1943 im Bahnhofbuffet Luzern; und da tobte der Zweite Weltkrieg so nahe beim Bahnhof Luzern wie nachher kein Krieg mehr. Wie weit deutsche Angriffspläne in der schweizerischen Öffentlichkeit bekannt waren, mag offenbleiben. Aber dass ganz Europa bedroht war, wurde gewiss auch in der Schweiz gesehen. Zudem war nach der Besetzung von ganz Frankreich am 11. November 1942, also rund zwei Monate vor der Gründungsversammlung, die Schweiz ganz von den Achsenmächten eingeschlossen.1 Wie weit sollte sich die Schweiz anpassen? Diese Frage führte auch zu Spannungen in der Confoederatio Helvetica, Spannungen, die wir heute mit guten Gründen als «identitätspolitische» bezeichnen könnten. Man denke an die Frontisten, die seit dem Frontenfrühling 1933 stark Aufwind bekommen hatten und in den Zwisten, auch zwischen links und rechts, ein Versagen der liberalen Demokratie sahen. Umso intensiver schien sich auch 1

Vgl. Marco Jorio: Die Schweiz und ihre Neutralität. Eine 400-jährige Geschichte, Zürich: Hier und Jetzt 2023, S. 257.

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in der Schweiz da und dort die Verführungskraft von Faschismus und Nationalsozialismus zu entfalten.2 Am 15. November 1940 richtete sich die Eingabe der Zweihundert an den Bundesrat, die zumindest in der Tendenz ebenfalls da­ rauf bedacht war, sich stärker an das nationalsozialistische Deutschland anzupassen. Unter den schweizerischen Schriftstellern rief zum Beispiel Jakob Schaffner zu einer Erneuerung auf, und die hiess: Ende der Neutralität und Integration der Schweiz ins nationalsozialistische Europa.3 Dass die Schweiz in politische Ideologien oder mindestens Mentalitäten zersplittert war, zeigt auch Meinrad Inglins «Schweizerspiegel», der Ende 1938 erschien, also nur etwa vier Jahre vor der Gründungsversammlung. Er sei hier zitiert, weil er zwar rein inhaltlich von der Schweiz im Ersten Weltkrieg erzählt, aber zugleich auf die Krisen der Dreissigerjahre reagiert, die – eben ähnlich wie zur Zeit des Ersten Weltkriegs – sich im Auseinanderklaffen identitärer Mentalitäten und politischer Stossrichtungen zeigten.4 Die Kohäsion der eidgenössischen Demokratie drohte also ähnlich zu zerreissen wie zur Zeit der Grande Guerre. Die Unterschiede waren nicht zuletzt regional bedingt. Inglin betonte darum im Finale seines «Schweizerspiegels» die Notwendigkeit eines vernünftigen Gleichgewichts zwischen der

2 Vgl. Walter Wolf: Frontenbewegung, in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 1.12.2006. Online: https://hls-dhs-dss.xwiki.com/de/articles/017405/2006-12-01/, konsultiert am 30.6.2023. 3 Vgl. Paul Werner Hubatka, Schweizergeschichte im «Schweizerspiegel». Versuch einer geschichtlichen Ortung von Meinrad Inglins Roman, Bern: Lang 1985, S. 95 und 124. Ferner Ruedi Brassel-Moser: «Eingabe der Zweihundert», in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 7.5.2010. Online: https://hls-dhs-dss.xwiki.com/de/ articles/017341/2010-05-07/, konsultiert am 30.6.2022. 4 Hubatka, Schweizergeschichte im «Schweizerspiegel», a. a. O. S. 2 f., 73, 173 und S. 182 f.

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staatlichen Ordnungsfunktion und der Vielfalt regionaler Unterschiede, zwischen zentrifugalen und -petalen Kräften, das letztlich dem Gleichgewicht zwischen naturhaften und geistbestimmten politischen Haltungen entspricht. Zugunsten der Anerkennung der regionalen Eigenwerte galt es darum, Toleranz und Diversität zu pflegen. Und diese Toleranz konnte – und kann – der Vielfalt, dem «Lebensreichtum des ganzen Landes Halt und Bedeutung» geben. Dieser Halt entspringt letztlich «einer vernünftigen Einsicht», sie ist der «Wille zum gemeinsamen Staat».5 Dieser Wille sei kein Ruhekissen, sondern müsse immer wieder neu erworben werden. Die Mahnung hat ihren historischen Ort in der Bedrohung des Gleichgewichts, oder besser: dieser wechselwirkenden Spannung zwischen Einheit und Vielheit in den Dreissigerjahren. Ob die ISV-Gründer diesen Inglin-Passus kannten? Jedenfalls war ihre Denkrichtung, die ja zum Teil dem Landigeist entsprach, mindestens ähnlich: In einem Gründungsbrief an Schriftstellerkollegen und -kolleginnen betonte Friedrich Donauer am 22. Oktober 1942 im Namen des Initiativkomitees, es gehe nicht «um eine Sonderbestrebung, sondern eher um eine ‹Kriegseinrichtung›». Hoppla! Das klingt martialisch, denken wir heute! Aber im Grunde visierte Donauer eine kulturelle Stärkung des Regionalen, das er wegen der zunehmend gleichschaltenden Macht der Nazis in Europa bedroht sah: Der Schriftstellerverein der Innerschweiz soll die Berufskollegen der Kantone Uri, Schwyz, Ob- und Nidwalden, Luzern und Zug einander näher bringen, auf dass wir wenigstens in den dringlichsten 5 Meinrad Inglin: Schweizerspiegel. Roman, Nachwort von Beatrice von Matt, Zürich: Limmat 2014, S. 366.

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Angelegenheiten zusammenstehen und die Existenzsorgen, die der zweite Weltkrieg uns auf bürdet, gemeinsam zu meistern suchen.6 Dass dabei ein föderalistisches Bestreben mitgedacht war, geht aus der Einleitung des Briefes hervor, die klar und deutlich die Gründungen von «ennet dem Gotthard» sowie in Bern und Zürich als Vorbild hinstellte. Gleichzeitig wollte man durchaus ein Organ des schweizerischen Dachverbands bleiben, wie Julian Dillier, ISV-Präsident von 1979 bis 1985, in einem kurzen Abriss der Vereinsgeschichte betonte.7 In einem Brief an den Germanisten Arnold Hans Schwengeler, Feuilletonchef beim «Bund» und Mitgründer sowie Präsident von 1940 bis 1944 des Berner Schriftstellerverbands und von 1942 bis 1944 zudem Vorstandsmitglied des Schweizer Schriftstellervereins, sind denn auch die Ziele des Innerschweizer Schriftstellervereins konkreter gefasst. Unter anderem wollte der Innerschweizer Schriftstellerverein auf Folgendes hinwirken: vermehrte Berücksichtigung «unserer literarischen Kräfte» in der Presse, Kampf gegen anonyme Besprechungen, Belebung des literarischen Interesses, «Festsetzen eines zentralen Treffpunktes nach Ort und Zeit» zur gegenseitigen «Fühlungnahme ohne Zwang», Kontakt zu den Kantonsbehörden, gerechtere Verteilung der Gelder innerhalb der Schweiz,

6 Brief Friedrich Donauers an potenzielle Mitglieder des ISV vom 22. Oktober 1942. Handschriftlich als 1. Aufruf bezeichnet. 7 Julian Dillier: Vom Schriftstellern in der Innerschweiz. Ein Auslotungsversuch, in: Schreiben in der Innerschweiz. Eine Anthologie, hrsg. vom ISSV Innerschweizer Schriftstellerinnen- und Schriftstellerverein. Luzern und Stuttgart: Raeber Verlag [1993], S. 11–27, hier S. 11.

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Pflege der Innerschweiz …8 Auch aus diesem Briefpassus dürfte der Wille zu einem Gleichgewicht zwischen übergreifendem Staat und eigenständigen regionalen Lebenswelten herauszulesen sein. Dieses Gleichgewicht ist indes nicht angleichende Harmonie, sondern lebt von einer wechselwirkenden Spannung; es muss also immer wieder neu hergestellt werden; es fordert die Kritik nachgerade heraus. Es bedeutet ja auch ein dialogisches Anerkennen konträrer Positionen. So gedacht, ist bei den ISV-Gründungsvätern ein föderalistisches Motiv kaum zu übersehen. Gleichzeitig zeichnen sich aber auch Tendenzen einer Denkhaltung ab, die aus der heutigen Optik einseitig erscheinen. Aus dem Protokoll der konstituierenden Sitzung vom 27. Januar 1943 sind sie zwar kaum ersichtlich, denn es ist nur kurz. Aber die Akteure sind, wie es sich für Vereinsprotokolle gehört, mit Namen genannt; wir wissen also, dass diese Akteure dem Katholizismus und der vaterländischen Erinnerungskultur gewogen waren, was ja angesichts der Arglist ihrer Zeit auch nicht erstaunt. Präsident des vorbereitenden Aktionskomitees war Friedrich Donauer (1884–1966) von Küssnacht im Kanton Schwyz. Er hatte in Waldenburg, Zürich und in Luzern als Sekundarlehrer gearbeitet, war aber ab 1925 freier Schriftsteller – und blieb mit Küssnacht verbunden, war dort 1907–1911 und 1932–1934 Bezirkslandschreiber und 1929– 1931 Bezirkssäckelmeister. Auch auf kantonalschwyzerischer Ebene engagierte er sich, nämlich von 1928 bis 1948 als katholisch-konservativer Kantonsrat. Er setzte sich für die Rettung der Hohlen Gasse und der Gesslerburg ein.

8 Brief Otto Hellmut Lienerts an Arnold Hans Schwengeler vom 15. Januar 1943. Die zitierten Archivdokumente finden sich im ISSV-Archiv in der Zentralund Hochschulbibliothek Luzern und sind über einen Katalog gut erschlossen.

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Was er politisch leistete, zeigt also eine Sympathie für den Katholizismus und generell für die Heimat. Literarisch legte er dieselben Vorlieben an den Tag.9 Ähnliche Zuschreibungen sind auch für den ersten Vereinspräsidenten Otto Hellmut Lienert10 möglich. Er, übrigens ein Neffe des bekannten Mundartpoeten Meinrad Lienert, war ausgebildeter Kaufmann, arbeitete zudem in der Zeitschriftenbranche und war ab 1937 freier Schriftsteller. Die Titel seiner Werke weisen jedenfalls religiöse Aspekte auf, etwa «Die heilige Kümmernis» (1949), «Das Bild der Madonna» (1953) oder «Der blaue Himmel» (1962). Und seine Heimatverbundenheit wurde auch immer wieder hervorgehoben. Sein Nachfolger als ISVPräsident, Josef Konrad Scheuber, bezeichnete ihn als einen Mann, «der Volk und Heimat durch die Kraft des Wortes diente»11. So im «Gedenkwort am Grab von Otto Hellmut Lienert», das 1965 im «Luzerner Landboten» abgedruckt wurde. Scheuber betont darin, Lienert sei «ein Dichter der Urschweiz» gewesen, «ein Sänger des Volkes, der auf der Harfe unverfälschter Mundart das Lied der Heimat sang».12 Die Metaphorik dieses Nekrologs («Sänger», «unverfälscht», «Lied der Heimat») passt zu den patriotischen Gefühlen, wie sie zur Landizeit gang und gäbe waren, aber heute, weitherum wohl ab Mitte der Sechzigerjahre, da und dort altertümelnd wirken dürften.

9 Ich stütze mich auf die betreffenden Artikel des Historischen Lexikons der Schweiz. 10 Die Orthografie dieses Namens ändert sich je nach Ort der Erwähnung. So schreibt zum Beispiel das Historische Lexikon der Schweiz den Vornamen mit «h» am Schluss: «Hellmuth». Konsultiert am 4. Juli 2023. Hier wird der Variante Vorzug gegeben, die in den ISV-Dokumenten immer wieder erscheint. 11 Josef Konrad Scheuber: In memoriam Otto Hellmut Lienert. Separatdruck aus Luzerner Landbote, Sursee vom 15. Juni 1965. Der Text ist auch im Archiv vorhanden. 12 Ebd. Der Ausdruck «Dichter der Urschweiz» ist durch Sperrdruck hervorgehoben.

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Unverfälschte Mundart! Schon im Vorfeld der Gründung, im bereits zitierten Brief an Arnold Hans Schwengeler, wird als Ziel für den Verein formuliert: Der unbedingt notwendige Einfluss beim Radio auch der innerschweizerischen Stände. […] Wir schätzen ja gewiss die Jdiome [sic!] von Basel, Zürich und Bern, können aber nicht in den vier Wänden unserer eigenen Stube die fortgesetzte Ausschaltung unserer doch so farbigen Dialekte, Sitten und Bräuche dulden.13 Es wird überdies wohl nicht verwundern, dass der Priester Scheuber auch den christlichen Impetus Lienerts betonte – die göttlichen Tugenden aus dem 1. Korintherbrief zum Beispiel seien ihm wichtig gewesen. «Er war ein Mann des optimistischen Glaubens, der trotz Enttäuschungen immergrünen Hoffnung, vor allem aber ein Mann der Liebe.»14 Glaube, Hoffnung, Liebe: Das sind gemäss dem Apostel Paulus christliche Kardinaltugenden. Die Liebe sieht Paulus an erster Stelle, während er – etwa im Römer- oder im Galaterbrief – vor einer Verabsolutierung des Gesetzes warnt. Von hier aus mag es nachgerade nicht sehr paulinisch klingen, wenn Scheuber ausgerechnet Lienerts moralistischen Bezug zum Gesetz lobt: «Ihm dröhnte die Stimme des Gesetzes über diesem bergquellfrischen Leben; ‹Tuet Recht, Gott über euch!›»15 Die Überbewertung des Legalistischen, der «Stimme des Gesetzes» eben, und die hohe gesellschaftliche Macht der Kirche führten auch zu einer, wie wir mit heutigem Vokabular wohl sagen dürften, konfessionellen Identitätspolitik. 13 Brief an Arnold Hans Schwengeler vom 15. Januar 1943. Eine kurze Zusammenstellung der Ereignisse bis 1963 findet sich im Archiv unter 19630000 ISV Kurze Geschichte des ISV. 14 Ebd. Die Zentralwörter «Glaube», «Hoffnung» und «Liebe» sind im Original durch Sperrdruck hervorgehoben. 15 Ebd.

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Für katholische Regionen hiess das: Der Klerus genoss ein eindrückliches Prestige in Innerschweizer Dörfern; und von den Gläubigen war ein «sentire cum ecclesiam»16 gefordert. So hatte Josef Konrad Scheuber, Autor auch der einst sehr populären, für die Jugend bestimmten Trotzli-Bücher, ein eigenes Buch über den zu seiner Zeit teils angesehenen, teils aber auch gefürchteten Schwyzer Pfarrer Odermatt geschrieben. Und bezeichnend für unseren Zusammenhang, was Scheuber speziell lobt: Dieser Pfarrer Odermatt habe ein praktisches Lehrbüchlein für den Beichtunterricht geschrieben, das 21 000-mal gedruckt wurde.17 Die Beichte erscheint in solchen Kontexten als das wichtigste Sakrament, während man doch theologisch eigentlich die Messe bzw. die Kommunion als Hauptsakrament bezeichnen müsste.18 Es herrschte entsprechend ein rigoroser Moralismus, und auch Odermatt galt als autoritär. Vor diesem mentalitätsgeschichtlichen Hintergrund steht die Beichte metonymisch für eine Reduktion des Christentums auf die Moral, die denn auch per Beichtspiegel mit kasuistisch und gesetzesartig formulierten Versündigungsmöglichkeiten in katholischen Gebieten lange gang und gäbe war. Vergessen wurde so nur allzu oft, dass das Evangelium eigentlich, schon von der Etymologie her, eine Frohbotschaft sein sollte.19 Josef Konrad Scheuber, ein in verschiedenen Pfarreien tätiger Mann, vor allem in der Jugendseelsorge, war denn also deutlich ein Repräsentant des katholischen Milieus. 16 Vgl. Urs Altermatt, Katholizismus und Moderne. Zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte der Schweizer Katholiken im 19. und 20. Jahrhundert, Zürich 1989, S. 67. Vgl. auch a. a. O., S. 20, 66, 68 und S. 159–161. 17 J. K. Scheuber, Franz Odermatt. Der Schwyzer Pfarrer. Das Lebensbild eines Urschweizers, Schwyz 1952, S. 79. 18 Vgl. Joseph Ratzinger, Einführung in das Christentum. Bekenntnis – Taufe – Nachfolge, in: Joseph Ratzinger, Gesammelte Schriften, hrsg. von Gerhard Ludwig Müller, Bd. 4, Freiburg/Basel/Wien 2014, S. 2–322, hier S. 232. 19 Gion Darms, Frohes Christsein. Eine Besinnung auf die Grundlage der christlichen Existenz, Zürich 1967, S. 13 und passim.

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Neben einigen Geistlichen sind andere Namen unter den ersten Vereinsmitgliedern aufgeführt, die heute noch bekannt sind. So etwa Paul Schoeck, der ein Tell-Spiel geschrieben hat, oder der Urner Arzt Eduard Renner, dessen Buch «Goldener Ring über Uri» das Denken der Bergler auslotet. Es waren also Laien; sie werden weniger katholische oder christliche Werte betont haben als J. K. Scheuber. So könnte man denken … … nur: Wer so denkt, denkt falsch. Denn im Vorfeld der Gründung, ja schon in den Dreissigerjahren, nahm einer die Gründung eines katholischen Schriftstellervereins ins Visier, der kein Kleriker war: Albert A. Müller, Oberbibliothekar der (damals noch so genannten) Kantonsbibliothek Luzern. Am 22. Januar 1936 schreibt er an Bundesrat Etter, die katholische Jugendliteratur werde in der Schweiz zu wenig gefördert, sie komme zu kurz. Ihm liege ein Bücherkatalog vor, darin sei «bei sehr vielen katholischen Autoren in Klammer ‹katholisch› als Warnung für nicht-katholische Katalogbenutzer beigefügt. Das ‹catholica non leguntur› wird so auf getarntem, aber sicherem Wege erreicht.»20 Überdies sei die «philosophische und weltanschauliche Einstellung dieses Kataloges» links, man müsse «geradezu von einer kulturbolschewistischen Tendenz sprechen». Und auch die Sexualität sei «in grosser Zahl vertreten», und zwar so, dass deren Behandlung «auf nicht-christlicher Ebene» liege. Dieser Oberbibliothekar fügte also wie Scheuber Denksplitter an, die das katholische Milieu prägten. Allein schon die Tatsache, dass er mit seiner Reklamation an der «Durchorganisierung des religiösen Lebens» (Urs Altermatt)21 mitzuwirken gedachte, 20 Brief an Bundesrat Etter vom 22. Januar 1936. 21 Altermatt, Katholizismus und Moderne, S. 66.

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spricht dafür. Zudem sahen sich die Katholiken gewissermassen als Partei gegenüber den Protestanten; darum konnte sich der Oberbibliothekar ärgern, dass Bundesrat Etter «bereits sehr stark durch den ‹überkonfessionellen› Bundesgeist eingesponnen zu sein»22 scheint. Es war also gewissermassen Pflicht, für die eigene Konfession, man ist zu sagen versucht: für die eigene Partei, Reklame zu machen.23 Und innerhalb dieser Moral galten die Sünden im Bereich der Sexualität als die Hauptsünden. Dieses katholische Milieu hatte in der Innerschweiz eine besonders starke Wirkmacht entfaltet. Darum ist es nicht verwunderlich, dass dieser Oberbibliothekar Albert Müller vor allem in der Innerschweiz Weggefährten suchte, auch wenn es ihm gemäss den Briefen um ein katholisches Gegengewicht zum SSV ging. So schrieb er Bundesrat Etter am 9. Mai 1936: «Seit jeher betätigte der schweizer. Schriftstellerverein [sic!] eine ziemlich rücksichtslose Ausschliesslichkeit.» Da wird er die ganze Schweiz im Blick gehabt haben. Aber er fährt dann sofort weiter: «Friedrich Donauer z. B. hat sich neben andern schon öfters bei mir bitter über seine Erfahrungen beklagt.»24 Der Oberbibliothekar stand also offensichtlich bereits im Kontakt mit dem Mann, der sieben Jahre später Tagungspräsident der Gründungsversammlung war. Müller war auch in Kontakt mit dem Club Hrotsvit, einer Vereinigung künstlerisch und literarisch tätiger katholischer Frauen, dessen Briefe, unterzeichnet von Agnes von Segesser, auch von Luzern abgeschickt wurden.25 22 Brief an Nationalrat Heinrich Walther vom 28. März 1936. 23 Heute ist dieses Parteiendenken in der katholischen Theologie überwunden. Vgl. Ratzinger: Einführung in das Christentum, S. 247. «Nicht der konfessionelle Parteigenosse ist der wahre Christ, sondern derjenige, der durch sein Christsein wahrhaft menschlich geworden ist. Nicht derjenige, der ein Normsystem sklavisch und auf sich selbst bedacht einhält, sondern derjenige, der frei geworden ist zur einfachen, menschlichen Güte.» 24 Brief an Bundesrat Etter vom 9. Mai 1936. Der Ausdruck «neben andern» ist unterstrichen. 25 Vgl. z. B. den Brief des Clubs Hrotsvit vom 20. Mai 1936 an Kantonsbibliothekar Albert Müller.

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Für das katholische Schrifttum setzte sich auch die Arbeitsgruppe für Literatur der Arbeitsgemeinschaft für Wissenschaft und Kunst des Katholischen Volksvereins ein. Gemäss dem Protokoll dieser Arbeitsgruppe vom 27. Januar 1938 wird dem Katholizismus «eine grosse kulturpolitische Mission» zugeschrieben; denn die «kathol. Verlagstätigkeit habe im neuen Deutschland mit grossen Schwierigkeiten zu rechnen›».26 Es ist ein Dr. Keckeis, der so spricht – mit grosser Wahrscheinlichkeit dürfte das jener Gustav Keckeis sein, der ab 1935 den Benziger Verlag leitete. Dieses Editionshaus, in Einsiedeln, also in der Innerschweiz domiziliert, machte sich ja denn auch für christlich denkende Autoren stark. Keckeis mahnte: Die katholische Schweiz müsse sich darauf vorbereiten, «die künstlerischen & wissenschaftlichen Aufgaben zu übernehmen». Aber: So sehr sich die Arbeitsgruppe gemäss Protokoll vom 27. Januar 1938 für den Katholizismus starkmachen wollte, sie wollte von einer Vereinsgründung zugunsten des katholischen Schrifttums absehen. Eine lose Vereinigung genüge zu dessen Förderung.27 Wohl auch aus diesem Grund reagierte Oberbibliothekar Albert Müller in einem Brief vom 11. November 1938 gegenüber dem Präsidenten dieser Arbeitsgruppe für Literatur, Pater Dr. Leutfried Signer, gekränkt; er wolle sein Amt als Aktuar der Arbeitsgruppe abgeben. Seine Begründung: Er habe sich beinahe zwei Jahrzehnte lang für eine grosszügige katholische Literaturpolitik eingesetzt – «um dann selber im entscheidenden Augenblick die Ohrfeige zu erhalten»28. Die Ohrfeige ist aller 26 Protokoll Schweiz. Katholischer Volksverein. Arbeitsgemeinschaft für Wissenschaft und Kunst. Arbeitsgruppe für Literatur, vom 27. Januar 1938, unterschrieben von Albert Müller. 27 Vgl. Protokoll vom 27. Januar 1938. 28 Brief Albert Müllers an Pater Leutfried Signer vom 11. November 1938.

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Wahrscheinlichkeit nach die Metapher für das Nicht-Eintreten der Arbeitsgruppe auf Müllers Wunsch nach einem katholischen Schriftstellerverein. Doch wie auch immer: Eine Orientierung in Richtung Katholizismus bleibt weiterhin unter den Literaturinteressierten der Innerschweiz, jedenfalls unter jenen aus dem erwähnten Arbeitskreis. Für «eine ev. Zusammenfassung unserer geistigen Kräfte» sollten, so fasst Pater Leutfried Signer, der Präsident, in einem Schreiben vom 19. November 1938 die Absicht einer Sitzung zusammen, auch weitere Geistesgrössen miteinbezogen werden, und zwar durchaus aus der ganzen Schweiz.29 Dazu gehören Leute, die gewiss den Katholizismus vertreten, kirchliche Würdenträger, Vertreter aus den katholischen Mittelschulen, oder Pfarrherren, auch berühmtere Leute wie der Priester Otto Karrer, Seelsorger an der Pauluskirche in Luzern und ein Vorkämpfer der ökumenischen Bewegung, dessen Schriften im nationalsozialistischen Deutschland verboten waren. Aus dem eher allgemeineren kulturellen Bereich waren dabei: der Theatermann Oskar Eberle oder der Kunsthistoriker Linus Birchler. Auch Meinrad Inglin sollte angesprochen werden, einer also, der nicht als sehr kirchentreu galt.30

29 Brief von Leutfried Signer im Namen der Untergruppe Literatur des Schweizerischen Katholischen Volksvereins an Unbekannt vom 19. November 1938. Die dreiseitige Liste mit den Personen, die in diesem Zusammenhang interessant waren, ist beigefügt. 30 Inglin empfiehlt in einem Brief an de Haas vom Montana Verlag in Horw am 10. Juni 1933, Bezug nehmend auf seinen Roman «Jugend eines Volkes», Oskar Eberle solle ein Rezensionsexemplar bekommen, er werde bestimmt für sein Buch «Jugend eines Volkes» Reklame machen, «und zwar in katholischen Kreisen, was in Anbetracht gewisser Stellen in meinem Buch von Wichtigkeit ist». (Dieser Brief ist im InglinNachlass, der in der Kantonsbibliothek Schwyz liegt, unter der Sigle NI K 731.02.04 aufbewahrt.) Es gibt mehrere Dokumente, die zeigen, dass Inglin in Schwyz als Kirchenkritiker galt.

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Hier ist allerdings eine Differenzierung notwendig. In unseren bisherigen Überlegungen haben wir vor allem politische Vorstösse zitiert, wie sie der Denkhaltung einzelner Mitglieder entspringen. Es zeigt sich aber, dass die Denkhaltung in den Werken nicht auf ein politisches Statement reduziert werden sollte. Für Inglins «Welt in Ingoldau» gilt das ganz besonders. Der Autor selber sagt das in einem Brief an eine Freundin mit dem Namen Jeannette, die aufgrund der InglinBiografie Beatrice von Matts und der Materialien im InglinNachlass nicht weiter konkretisierbar ist. Er spricht in diesem Brief von seiner Arbeit am Ingoldau-Roman – und zielt zugleich auf einen künstlerischen Kern dieses Buches: «Es wird mich einmal sehr wundern, wie Du das Werk aufnehmen wirst; es ist nicht nur die Frucht eines dreijährigen, angespannten Schaffens, sondern sozusagen die Bilanz meiner ganzen bisherigen Existenz. Du, Liebste, hast mich eigentlich nur von meiner alltäglichsten und banalsten Seite kennen gelernt, d. h. von meiner schlechtesten Seite. Ich glaube aber, dass Dir auch für mein Wesentliches Sinn und Verständnis nicht fehlen.»31 Mit andern Worten: Was in der Alltagskommunikation gesagt wird, zeigt den Menschen – zeigt jedenfalls ihn: Meinrad Inglin – von der «banalsten Seite». «Wesentliches» zeigt sich im Werk. So ist zum Beispiel der Ingoldau-Roman durchaus kirchenkritisch, wer aber den ganzen Roman in den Blick nimmt, wird schnell sehen, dass die Komplexität dieser Kritik nicht auf ein einfaches Statement zu reduzieren ist. So wird zum Beispiel die Fronleichnamsprozession am Schluss lobend bewertet, und dies sogar von einem Apostaten. Zentraler Kritikpunkt ist die Beichtmoral. Sie kommt schlecht weg und damit in der Lesart vieler auch die ganze damalige katholische Kirche, die ja allzu viel 31 NI K 516.02.01. Der Brief ist ohne Datum überliefert, aber vom Kontext her muss der Brief aus der letzten Zeit, da er an der «Welt in Ingoldau» gearbeitet hat, stammen.

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Lebensweltliches auf Moral reduzierte. Bezeichnend hiess es denn auch in einem Artikel aus dem «Vaterland», der den Roman massiv verfemte: «In widriger Weise wird Heiliges (im besondern die Beicht [sic!]) und Unheiliges einander an die Seite gestellt, das Lüsterne und Frivole mit offensichtlicher Lust gesucht, der tiefe sittliche Ernst fehlt und wo er vorgespielt werden will, kann man nicht daran glauben.»32 Der Roman beginnt ja auch mit einer Beichtszene – und die damit verbundene Beichtstuhlmoral wird im Verlauf des ganzen Romans der Kritik unterworfen. Inglin zeigt zum Beispiel in den verschiedenen Erzählsträngen, wie wenig diese Moral hilft, die psychischen Probleme der Heranwachsenden zu lösen. Auch das Sterben zeigt im Roman ein milderes Gesicht als im katholischen Milieu, wo der Tod vor allem als Gerichtsstätte aufgefasst wurde, die mit «Fegfeuer, Hölle und Verdammnis die Gläubigen in Schuldgefühlen gefangenhielt»33. Diese Theologie der Angst, das zeigt sich auch an einigen Figuren in Ingoldau, verkapselten die Gläubigen ins Eigene. Mit der Beichte glaubte man, ein Jenseitskapital anzuhäufen, sich die Erlösung und die Rechtfertigung erkaufen zu können. Während die Beichtszene im Eingang des Romans die Menschen im Grunde in ängstlicher Isolation belässt – die Bewältigung der Sündenangst hat ja auch etwas Egozentrisches –, wird die Fronleichnamsprozession als glückhaft erlebt; hier hat der Mensch «seine Persönlichkeit auf das höchste gesteigert», paradoxerweise gerade weil er «sich zugleich dem Ganzen so eng verbunden fühlt und aus diesem Bewusstsein eine solche Kraft schöpft, dass er seinem 32 Vaterland vom 30. Dezember 1922 (NI Z 2016.06). Mit der Sigle NI wird auf den in der Kantonsbibliothek Schwyz liegenden Nachlass Meinrad Inglins verwiesen. Der Quellenbeleg gilt auch für die folgenden Zitate. 33 Altermatt: Katholizismus und Moderne, S. 69.

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persönlichen Tod nicht anders als mit Ruhe und Heiterkeit entgegensehen kann».34 Der Tod hat so das Furchterregende nicht mehr. Die Theologie der Angst hatte also gerade nicht den Wert, der von einer heutigen Theologie aus eigentlich in der ChristusBotschaft angelegt ist: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst, da wird als selbstverständlich vorausgesetzt, dass sich der Mensch selber annimmt und sich gerade darum auch den Mitmenschen öffnen kann, weil er ja nicht besser sein muss als die Mitmenschen.35 Um die Liebe geht es im Ingoldau-Roman auch nach Inglins Selbstinterpretation, nur hätten das viel zu wenige gemerkt.36 Das muss nicht erstaunen, wenn man von einer allgemeinen Lektürehaltung ausgeht, die nur auf Moral schaut und vor lauter Geboten die spontane menschliche Güte vergisst. Von daher muss auch nicht verwundern, dass mindestens zwei Rezensionen auch positiv für den Ingoldau-Roman ausfielen. Eine «Verheissung» sei Meinrad Inglin, «mit klarem Blick» schaue er «in die Wirklichkeit, die ihn umgibt, weiss die Menschen, die er hier erschaut, mit sicherer Hand zu gestalten».37 Gestalten! Da argumentiert einer mit der Form. In dieselbe Richtung zielte ein anderer, der am 23. November 1923 – er signierte mit «A. R.», bezeichnete sich als «Ingol­ dauer», war also offenbar ein Schwyzer – in der «Neuen Zürcher Zeitung» ein Plädoyer für den Ingoldau-Roman veröffentlichte. Er betonte den geistigen, nicht den auf Buchstabensinn beschränkten Gewinn der Ingoldau-Lektüre. 34 Meinrad Inglin: Die Welt in Ingoldau. Roman, Zürich: Limmat 2022, S. 526. 35 Vgl. Joseph Ratzinger: Eschatologie. Tod und ewiges Leben, 2. Auflage 2012 [2007], S. 165. Ferner ähnlich ebd., S. 74, 85, 130 und S. 148. 36 Vgl. Beatrice von Matt: Meinrad Inglin, a. a. O., S. 106. 37 Vaterland vom 20.12.2022 (NI Z 2016.04).

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