Kurzvorschau – ViaGottardo

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ViaGottardo Auf schmalen Pfaden durchs Landesinnere

Die ViaGottardo 7 und die Nord-Süd-Veloroute 3 von Basel nach Chiasso

Daniel Stotz

Kulturlandschaftsführer

ViaGottardo Auf schmalen Pfaden durchs Landesinnere

Die ViaGottardo 7 und die Nord-Süd-Veloroute 3 von Basel nach Chiasso

Daniel Stotz

 Umschlagbild: Blick gegen Norden in die Piottino-Schlucht bei Rodi

 Foto nächste Seite: Die Brücken in der Schöllenenschlucht unterhalb Andermatt

 Foto Umschlag Rückseite: Die wiederaufgebaute Häderlisbrücke bei Göschenen

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Landesinnere

ViaGottardo Auf schmalen Pfaden durchs

Die ViaGottardo 7 und die Nord-Süd-Veloroute 3 von Basel nach Chiasso

Daniel Stotz

Die Publikation dieses Buches wurde unterstützt von der Stiftung Familie Fehlmann, Winterthur, von der Dätwyler Stiftung, Altdorf, von der Carl und Elise Elsener-Gut Stiftung, Ibach, und vom ViaStoria Förderverein.

STIFTUNG

Familie Fehlmann

Impressum

Alle Angaben in diesem Buch wurden vom Autor nach bestem Wissen und Gewissen erstellt und von ihm und dem Verlag mit Sorgfalt geprüft. Inhaltliche Fehler sind dennoch nicht auszuschliessen. Daher erfolgen alle Angaben ohne Gewähr. Weder Autor noch Verlag übernehmen Verantwortung für allfällige Unstimmigkeiten.

Alle Rechte vorbehalten, einschliesslich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe.

© 2024 Weber Verlag AG, CH-3645 Thun/Gwatt

Weber Verlag AG

Idee und Texte: Daniel Stotz

Fotos: siehe Bildnachweis, S. 206 –207

Fotos Umschlag: Daniel Stotz

Gestaltung Cover: Cornelia Wyssen

Gestaltung und Satz: Cornelia Wyssen

Der Weber Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2025 unterstützt.

ISBN 978-3-03818-547-5 www.weberverlag.ch

neutral Drucksache
ViaGottardo 5 Inhaltsverzeichnis Einführung: Geschichtsträchtige Routen 6 Der Gotthard – ein «Symbolklumpen» 14 Basel – Liestal 20 Übermütige Eidgenossen 28 Liestal – Läufelfingen 30 Zug um Zug durch die Jurakette 38 Läufelfingen – Olten – Zofingen 40 Im Verein mit der Schweiz 50 Zofingen – Sursee 52 Von A wie Aarburg bis Z wie Zofingen 60 Sursee – Luzern 62 Verkehrt kombiniert 72 Luzern – Flüelen – Altdorf 74 Go, Tell it on the mountain 82 Altdorf – Wassen 84 Herren über Wege und Strassen 96 Wassen – Andermatt – Gotthardpass 98 Die Post ist da! 110 Gotthardpass – Airolo – Rodi 112 Total verbohrt 122 Rodi – Lavorgo 124 Rasant in den Süden 132 Lavorgo – Biasca 134 Untertanen und Mitstreiter 144 Biasca – Bellinzona 146 Unten durch 156 Bellinzona – Tesserete 158 Prekäre Landwirtschaft 166 Tesserete – Lugano – Morcote 168 Tourismus – verbindend oder trennend? 176 Morcote – Mendrisio – Chiasso 178 Über die Grenze und weg 188 Praktische Hinweise 190 Bild- und Textnachweis 206

Arc-et-Senans

Salins-les-Bains

Ausschnitt aus den digitalen Karten des Inventars der Verkehrswege IVS in 3D-Ansicht: nationale (rot), regionale (dunkelblau) und lokale (hellblau) historische Verkehrswege bei Andermatt

6 Einführung 
Pontarlier Basel Schaffhausen Zürich Konstanz Chur Chiavenna Genève Lugano Brig Domodossola Bern Luzern St Gallen Tirano Schruns Solothurn Thusis Leuk Martigny Chamonix Interlaken
Augst
Neuchâtel
Estavayer-
Biel/Bienne Como Rorschach Kreuzlingen Murten
Avenches Nyon
Yverdon-les-Bains
le-Lac

Einführung

Geschichtsträchtige Routen

Das kleine Land im zentralen Alpengebiet ist seit Urzeiten mit den umliegenden Landschaften und Staatsgebilden verbunden. Es ist nicht verwunderlich, dass einige der historischen Verkehrswege in der Schweiz Teil von grenzüberschreitenden Routen sind. Transnationale Handelswege verlangten nach Offenheit und Sicherheitsgarantien, was ein gewisses Mass an technischen Einrichtungen bedingte sowie auch Überwachungs- und Organisationsleistungen für den Saum- und Fuhrverkehr. Das Wasserschloss Europas, in dem viele wichtige Flüsse entspringen, hatte die Vor- und Nachteile der Geophysik auf seiner Seite: Vorteile, weil die Erosion durch Bäche und Flüsse Täler geschaffen hatte, die Zugänge zum Kerngebiet der höheren Alpen ermöglichten; Nachteile aber auch, weil diese Bergeinschnitte mancherorts steil und schluchtartig ausfallen und somit das Reisen erschwerten. Sowohl die ViaRhenana, der Wasserweg von Österreich über den Bodensee und den Rhein, auf dem jahrhundertelang die Einfuhr von Salz ablief, als auch die ViaValtellina mit der Weinsäumerei sind Beispiele für die grenzüberschreitende Verflechtung von Ost und West, Süd und Nord. Regional bedeutende Wegabschnitte sind seit dem Spätmittelalter Teil von internationalen Transport- und Reisewegen. Man könnte nun die Gotthardroute vom Hoch- und Oberrheingebiet bis in die Südschweiz und die Lombardei als Paradebeispiel für eine alpenquerende Liaison zwischen Nord und Süd ansehen. In der Tat ist sie sowohl mit der Schweizer Identitätsgeschichte als auch mit den europäischen Machtverwerfungen eng verknüpft. Der vorliegende Kulturlandschaftsführer beabsichtigt, noch einen Schritt weiter zugehen und nicht nur zum hori zonterweiternden Lesen zu verführen, sondern auch zum Kulturwandern und Natur radeln, wenn diese Ausdrücke erlaubt sind.

Die Kulturwege der Schweiz, zu denen die ViaGottardo wie die ViaRhenana und die ViaValtellina gehören, eröff-

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nen ganzheitliche Perspektiven auf die Mobilitäts- und Kulturgeschichte unseres Landes, aber darüber hinaus auch auf Strömungen und Bewegungen im Umkreis der Alpen und ihres Vorlandes. Spätestens seit der Blütezeit Roms erlebte der Alpenkranz ein Hin und Her an Kulturtransfers: Die Römer verbreiteten den Weinanbau, die Bade kultur und viele Rechtsnormen, die Germanen zeichneten für das Bierbrauen und das Hosentragen verantwortlich. Das Christentum drang entlang den spätrömischen Durchgangsstrassen und über die Bischofssitze von Mailand und Como in den Alpenraum ein. Das Baptisterium San Giovanni in Riva San Vitale legt davon eindrückliches Zeugnis ab. Das älteste christliche Bauwerk der Schweiz liegt unweit der ViaGottardo am südlichen Ende des Luganersees.

Das Baptisterium, in dem die Taufe ursprünglich durch Eintauchen vollzogen wurde, ist nur eines von unzähligen Beispielen entlang der ViaGottardo, die wie Leitfossilien in Gesteinsschichten an prägende Episoden und Perioden der Politik- und Kulturgeschichte der Nord-Süd-Achse durch die Schweiz erinnern. Manche dieser Beweisstücke liegen offen zutage – und machen viel Lärm, wie zum Beispiel die Autobahn A2, die den Wanderer und die Velofahrerin während geraumer Zeiten begleitet. Andere müssen erschlossen werden, wie etwa – über etliche Treppenstufen – der Ausblick vom «Türmli» von Altdorf auf die prächtigen Herrenhäuser, die oft von Söldnerführern erbaut worden waren, und auf das Tell-Denkmal mit Vater und Sohn und Armbrust. Letztere Sehenswürdigkeit weist uns darauf hin, dass ein Kulturweg zwangsläufig auch die Ideengeschichte eines Landstrichs und Staatswesens zu berücksichtigen hat: Legenden, Sagen und Symbole gehören ebenso dazu wie spannungsreiche Kontraste, versinnbild licht im Foto der Heuerin und des Heuers über der Verkehrsschlagader mit der stehenden Kolonne.

8 Einführung

5 Das Baptisterium San Giovanni von Riva San Vitale aus dem 5. Jahrhundert

5 Kontraste machen den Reiz der Gotthardroute aus.

Ein anspruchsvoller Treck durchs Landesinnere

Die ViaGottardo bietet auf ihren 320 Kilometern einen Querschnitt durch die heutige Schweiz mit ihren dichten oder verstreuten Siedlungsgebieten, mit der kalkigen Jurakette, den sanft geschwungenen Hügeln des Mittellands, den Tälern der Voralpen und den Felskulissen des zentralen Alpenmassivs, mithin ein einmaliges Erlebnis von Geografie, Physik und Kultur in zwanzig abwechslungsreichen Etappen. Darüber hinaus packt man die drittgrösste Stadt der Schweiz, den wichtigsten Bahnknotenpunkt, die Einfahrten zum weltweit längsten Bahntunnel, die längste (oder zumindest kurvenreichste) Pflastersteinstrasse Europas sowie die schönste Schaukel des Tessins mit ein, auf der man sich an der Aussicht auf Luganersee und Monte San Salvatore berauschen kann. Wenn das nicht Appetit macht!

Allerdings, das sei anfangs gesagt, braucht es für die Bewältigung dieses zweitlängsten der zwölf Kulturwege (die ViaJacobi ist mit 645 km doppelt so lang) mehr als nur Appetit, ja, einen richtigen Hunger und ein gewisses Mass an Frustrationstoleranz. Wer beim Wandern nicht nur Ruhe, Abgeschiedenheit und unberührte Natur sucht, sondern auch an Geschichte, Kultur, Technik und an der Philosophie der Mobilität interessiert ist, wird voll auf seine oder ihre Rechnung kommen. Das Höhenprofil der Wanderroute lässt kurz den Atem stocken. Insgesamt hat, wer am Grenzbahnhof Chiasso ankommt, über 10 000 Höhen meter bewältigt. Doch gemach: Niemand verlangt, dass die ganze Reise in einem Schwung und auf Schusters Rappen absolviert wird. Da die Nationale Veloroute 3 (NordSüd-Route) in weiten Teilen parallel zur ViaGottardo 7 verläuft, bieten das Fahrrad oder das E-Bike eine hervorragende Alternative. Dazu gibt es im Kapitel «Praktische Tipps» einige Hinweise.

Die Etappen, die auf SchweizMobil ausgeschildert sind (schweizmobil.ch/de/wanderland/route-7), sind von unterschiedlicher Länge, sie richten sich unter anderem nach den Übernachtungsmöglichkeiten aus. Im vorliegenden Führer haben wir uns um eine etwas ausgeglichenere Etappierung bemüht, die jedoch nicht verbindlich ist. Es resultieren so 15 statt 20 Wegstücke (durchschnittliche Länge 21 km), wobei in beiden Fällen die längste Etappe von Sursee nach Luzern 30 km misst. Ihr Autor hat sich für jeweils zwei oder drei Tage am Stück auf die Socken gemacht, was sich zweifellos bewährt hat; die Etappenorte sind per öffentlichem Verkehr leicht zugänglich und man kann deshalb fast überall wiedereinsteigen. Es lohnt sich, die Übernachtungsorte sorgfältig auszuwählen, auch nach historischen Gesichtspunkten; so sollte man sich eine Nacht auf dem Gotthard-Hospiz und eine im alten Zollhaus Dazio Grande bei Rodi gönnen.

Zurück zu den rekordverdächtigen Besonderheiten der ViaGottardo. Zwar wurde das nie vermessen und gezählt, doch ist anzunehmen, dass keine andere Route in der Schweiz eine derartige Vielfalt von historischen Verkehrs-

10 Einführung

wegen aufweisen kann wie die Gotthardstrecke. Zwar überlagern gerade an engen Stellen oft neue Strassen die alten Saumpfade und einige vielbeanspruchte Brücken wurden im Verlauf der Zeiten ersetzt. Doch vom Hohlweg auf dem Unteren Hauenstein über die Rothenburger Brücke von 1717 und die Saumpfade am Gotthardpass bis zu den gepflasterten Teilstücken der Strasse von 1830 lassen sich aussergewöhnlich viele Spuren von Transitwegen aus allen Epochen erspähen. Zum Glück für die geschichtsbewussten Wanderinnen und Mountainbiker sind alle diese Überreste und Rekonstruktionen im Bundesinventar der (historischen) Verkehrswege der Schweiz (IVS) erfasst und auf der einschlägigen Website des Geoinformationssystems (GIS) hervorragend dokumentiert. Die zwölf Kulturwege der Schweiz bauen auf dem IVS auf; die Kulturlandschaftsführer ziehen jeweils besonders wichtige Informationen aus den Beschreibungen des Inventars heraus. Wer es genau wissen will, gehe mit seinem Mobilgerät auf die Webseite map.geo.admin.ch (Sucheingabe: IVS National, IVS Regional und Lokal) und sehe sich die besonders eindrückliche dreidimensionale Darstellung der alten Wege im Gelände an (Button 3-D). Einen Eindruck bietet die Abbildung am Kapitelanfang, sie zeigt die Verhältnisse zwischen der Schöllenenschlucht und Andermatt, wo man besonders gut den Umgehungsweg über den Bäzberg erkennt, den die Säumer wegen der unwegsamen Schöllenen benutzen mussten. Das nächste Kapitel geht auf die Bedeutung und die Schwierigkeiten der Gotthard-Route näher ein.

Ungefähr zur Zeit, als die steinerne Häderlisbrücke am Gotthardanstieg den ersten hölzernen Steg ersetzte, also in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, brach der japanische Dichter Matsuo Basho zur ersten von vier Wanderungen auf; sie führten ihn über schwierige, oft einsame Wege durch Japans gebirgige Landschaft. Der damals Vierzig jährige, der sich in seiner aus Bananenstauden errichteten Hütte intensiv der Zen-Meditation gewidmet hatte, besuchte Schreine und dichtete mit Kollegen zusam-

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5 Die Geschichte der Häderlisbrücke bei Göschenen, ihrer Zerstörung und des Wiederaufbaus ist im IVS ausführlich dokumentiert.

men lange «Renga»-Gedichtzyklen. Auf den Wanderungen und danach verfasste er seine berühmten Reisejournale, von denen eines den Untertitel für dieses Buch inspiriert hat: «Oku-no-hosomichi», etwa «Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland (oder Landesinnere)». Manchmal reiste Basho allein, manchmal mit einem Freund, teils auf unwegsamen Bergwegen, teils auf gepflasterten Postrouten, auf denen auch Samurai verkehrten. Einen kommerziellen Zweck hatten die Reisen zu Fuss und – selten – zu Pferd nicht. Basho wollte Orte und Landschaften aufsuchen, die seit alters her Gegenstand der dichterischen Bewunderung waren. In seinen Gedichten und Haikus nimmt er Bezug auf Schönheiten der Natur und tragische Geschichten über die sterblichen Menschen. Wenn man am Gotthard von den Fahrzeugfluten absehen kann, mag man sich mit-

unter auf die Stimmungen einlassen, die Basho erzeugt: «Der reissende Strom des Mogami-Flusses sammelt aus den Frühsommerregen reichlich Wasser.» Er könnte ebenso gut von der Reuss oder vom Ticino geschrieben haben. Sein sorgsam betrachtender Geist und sein Mut angesichts felsiger Abgründe mögen uns begleiten.

Zugänge zum Gotthardpass Über Jahrhunderte wirkte der Gotthard-Alpenübergang wie ein Trichter, der den Transitverkehr aus der Nordschweiz und den süddeutschen Gebieten kanalisierte. Da man angesichts unbefestigter Strassen den Wasserweg bevorzugte, spielten der Vierwaldstättersee und der Zürichsee eine gewisse Rolle. Der westliche Zugangsast der Gotthardroute verlief von Basel mit seinem Rheinhafen über den Hauenstein und Sursee nach Luzern, wo auf Schiffe umgeladen wurde. Vom östlicher gelegenen Raum um Schaffhausen führte der Weg vorzugsweise den Hochrhein hinunter und über die Klotener Strasse nach Zürich, wo ebenfalls ein See das Schleppen erleichterte. Von der Sust in Horgen ging’s über Hirzel oder den Sattel bis an die Gestade des Vierwaldstättersees und von Küssnacht am Rigi per Kahn nach Flüelen. Bis vor wenigen Jahren hatten SchweizMobil und Kulturwege Schweiz die regionale Wanderlandroute 77 als alternativen Zugang zum Gotthard ausgewiesen; sieben Tagesetappen führten von Bargen im Norden nach Küssnacht im Süden. Damit hätte man zugleich vom nördlichsten Punkt der Schweiz die südlichste Spitze, den «Punto Sud», bei Chiasso erreicht. Im Kapitel «Praktische Tipps» finden sich einige Hinweise zur Möglichkeit, diesen Zugangsweg auch ohne spezielle Beschilderung zu begehen oder per Rad zu befahren.

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5 Die Teufelsbrücke in der Schöllenen um 1820, von Johann Jakob Wetzel

Der Gotthard – ein «Symbolklumpen»

Godehard von Hildesheim würde grosse Augen machen, wenn er hier und heute zusammen mit uns – Leser Leserin und Autor – die Strecke von Basel nach Chiasso abwandern würde. Den nach ihm benannten Alpenpass würde er nach ungefähr 175 Wegkilometern erreichen, und er würde erstaunt innehalten beim Anblick der Wohnmobile, der Motorräder, des hochaufragenden Hospizhotels und der riesenhaften Windräder, deren Flügel gemächlich im Passwind drehen. Godehard starb als Bischof von Hildesheim im Jahr 1038, und dass er zum Namensgeber des bedeutendsten Alpenpasses der späteren Eidgenossenschaft wurde, entbehrt nicht der Ironie, denn das Alpengebirge hat er wohl nie überquert, und der Gotthardpass wurde erst drei Jahrhunderte nach seinem Tod allmählich zu einer wichtigen Handelsroute. Godehard muss dank seiner gelassenen Heiterkeit und seines mönchischen Ernsts einen tiefen Eindruck hinterlassen haben; er wurde knapp hundert Jahre nach seinem Tod vom Papst heiliggesprochen, seine Reliquien wurden in vielen Kirchen und Klöstern Süddeutschlands verehrt. Es waren jedoch die Mailänder Herren, die Visconti, die 1230 eine kleine Kirche am «Mons Tremulus» dem Heiligen Gotthard weihten und somit auch dem Bergmassiv und dem Passübergang den Namen verliehen, der später internationales Echo auslösen sollte, nicht zuletzt wegen des weltweit längsten Bahntunnels. Die Mailänder Visconti betrieben aus politischen Motiven einen eigentlichen Gotthard-Kult; sie beanspruchten die Leventina und andere südliche Alpentäler für sich, mussten sich aber des Öfteren der Einfälle der Urner und der anderen Waldstätter erwehren.

Godehard würde sich vielleicht angesichts der über die Jahrhunderte gewachsenen Bedeutung des Passes fragen, ob man in der Schweiz nicht etwas übertreibe mit dem Gotthard-Kult. Wenn er sich mit dieser kritischen Frage an den Literaturprofessor Peter von Matt wenden würde, gäbe ihm dieser bestimmt recht. Der Gotthard sei zu einem

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Teil der «politischen Selbstverklärung der Schweiz» geworden; im 19. Jahrhundert hätten fast alle europäischen Staaten ihre eigenen nationalen Symbole kreiert, und die Schweiz habe da nicht zurückstehen wollen, habe heroische Denkmäler geschaffen und symbolstarke Orte bezeichnet wie etwa das Rütli und das Schlachtfeld von Sempach.

Schon im 18. Jahrhundert habe man das Gotthard-Massiv zum Kraftort emporstilisiert, wo alle grossen Ströme Europas entsprängen – eine geografisch einigermassen grosszügige Festlegung, gelte die Gotthard-Wasserscheide doch nur für die Reuss und den Ticino.

Bischof Godehard könnte aus der Erfahrung seiner Zeit anmerken, dass es einige Alpenübergänge gegeben habe,

6 Der Namensgeber: Godehard als Bischof von Hildesheim

6 Der Literaturprofessor: Peter von Matt

16 Der
«Symbolklumpen»
Gotthard – ein

die weit stärker genutzt worden seien. Von Matt würde mit einem grossen Zeitsprung ergänzen, dass die Wahl des Gotthards für den Eisenbahntunnel im späten 19. Jahrhundert nicht zwingend gewesen sei, der Splügen-Durchstich wäre eine verlässliche Alternative gewesen. Zur Überraschung Godehards würde er sagen, es sei Bismarck gewesen, der preussische Ministerpräsident und spätere deutsche Kanzler, der den Ausschlag für den Gotthard gegeben habe: «Dieser Tunnel durch die Alpen war ein europäisches Projekt. Er wurde von Deutschland, Italien und der Schweiz gemeinsam geplant und bezahlt. Und er war im Grunde auch ein militärisches Projekt.» Bismarck wollte eine direkte Verbindung nach Italien, dem Verbündeten gegen Frankreich. Mit seinem Machtwort habe er den Streit unter den Schweizern entschieden und dafür gesorgt, dass überhaupt ein Tunnel gebaut würde. Der Professor würde dann dem Bischof seine Überzeugung darlegen, dass der Gotthard eben kein «Mythos» der Schweiz sei, sondern ein «Symbolklumpen». Man müsse unterscheiden zwischen dem Gotthard als Gebirgspass und dem Tunnelsystem, das den Willen des Landes zum Fortschritt und zur europäischen Zusammenarbeit symbolisiere. «Als Pass wird er heute noch von politischen Pathetikern als Herz der Schweiz gehandelt», würde er mit ironischem Stirnrunzeln sagen. Nicht alle Schweizerinnen und Schweizer sähen ein, dass ihr Land nur deshalb überlebte, weil die Grossmächte einander die zentralen Alpenpässe nicht gegönnt hätten. «Sie wollten die Schweiz als Hüterin dieser Pässe, die für alle offengehalten werden mussten. Und die Schweiz hat das immer gewusst und hat diese Aufgabe auch sorgsam wahrgenommen – zum Selbstschutz. Noch Hitler konnte die Gotthardlinie bis zuletzt für versiegelte Transporte benutzen.» Da müsste Godehard nun nachfragen, da er nicht mit der ganzen Geschichte vertraut ist. Und wenn sich Herr von Matt nun über die militärische Bedeutung des Massivs ausbreitet, indem er seine eigenen Erfahrungen als Soldat eines Gebirgsschützenbataillons in drastischen Farben schildert, muss er vollends passen.

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«Wenn man tage- und nächtelang über die Geröllhalden marschiert ist und oft aus jeder Pfütze getrunken hat, um nicht zu verdursten, weil die beste Armee der Welt ihre Soldaten nicht mit Trinkwasser versorgen konnte, denkt man etwas anders von der hehren Bergwelt.» Der ehemalige Milizsoldat scheint sich zu ereifern. Schon gut, schon gut, will Godehard sagen, aber auch als Heiliger sei er doch nicht verantwortlich für alles. Er sei aber doch einigermassen erleichtert, dass man den «Gotthard» nicht allein als heiliges Nationalsymbol betrachten dürfe, sondern als ein Konglomerat von verschiedenen, einander zum Teil auch widersprechenden Sinnbildern.

Ja, genau, würde der Professor mit einem Schmunzeln anfügen, die neuesten beiden Röhren im Berg seien zugleich ein Paradestück der Schweizer Technologiegeschichte und der Beweis für den «notorischen Bohrdrang» der Schweiz. Und trotzdem, von Einigelung könne keine Rede sein. Der Gotthard und der Rheinhafen bänden das Land in Europa ein. Sie seien ein Symbol für Schweizer Weltoffenheit. «Und übrigens: Über den Gotthard fliegen auch die ‹Brääme, die cheibe Brääme›.» Da versteht nun der gute Godehard nur noch Bahnhof.

Die Entwicklung des Gotthard-Übergangs zur wichtigsten Transitroute

Die Nutzung des zentralen Alpenübergangs für den Saumverkehr scheiterte lange an zwei Engnissen: der Schöllenenschlucht im Norden und der «Gola del Monte Piottino» (Piottino-Schlucht) im Süden. Die tief eingeschnittenen Teilstrecken der Reuss und des Ticino mussten auf beschwerliche Weise umgangen werden. Die Kuppe des Bäzbergs westlich der Schöl lenen erforderte einen zusätzlichen An- und Abstieg von 400 Höhenmetern; die Umgehung der Piottino-Schlucht bedeutete mindestens drei zusätzliche Wegstunden. Es waren wohl Walser, die im 13. Jahrhundert den ersten kühnen Saumweg über der stiebenden Reuss bauten, begünstigt durch ihre Erfahrung mit der Konstruktion der «Suonen» (Wasserleitungen). Den Schluchtpfad zwischen Rodi und Faido

18 Der Gotthard – ein «Symbolklumpen»

Die Verkehrsdrehscheibe Bahnhof Göschenen, um 1900

sprengten Urner in den Felsen, jedoch erst gut dreihundert Jahre später.

Entgegen überkommenen Ansichten war der Gotthardpass erst ab der Frühen Neuzeit von mehr als regionaler Bedeutung. Während zur Zeit der Römer der Grosse Sankt Bernhard und die Bündner Pässe Julier, Septimer und Maloja den transalpinen Verkehr anzogen, war bis weit ins Spätmittelalter hinein der viel niedrigere Brenner die Route der Wahl. Der Ausbau der Viehzucht und der Milchwirtschaft vor allem in der Innerschweiz verlieh dann dem direkten Weg über den von den Urnern zwischen 1480 und 1798 kontrollierten San Gottardo enorme wirtschaftliche Vorteile: Der Absatz von Fleisch und Käse auf den oberitalienischen Märkten im Tausch gegen Getreide, Reis und Wein ermöglichte erstmals eine blühende Export- und Importwirtschaft. Als Vorläufer des Postbetriebs etablierte sich Mitte des 17. Jahrhunderts ein Botendienst. Wenig später gründeten ein Zürcher und ein Berner einen Pferdepostdienst, der zweimal in der Woche zwischen Zürich und Mailand verkehrte. Die weiteren Entwicklungen am Gotthard werden in den gesonderten Kapiteln mit hellgrauem Hintergrund beschrieben, wenn sie nicht an Ort und Stelle in den Abschnitten zu den Etappen eingeflochten werden.

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Basel – Liestal

DerAufbruch in der Frühe des Morgens zeigt uns ein zugleich ruhiges und zielstrebiges Basel. Die Trambahnen gleiten halb leer dahin, bei trockenem Wetter scheinen viele Pendelnde das Velo vorzuziehen. Zarte Sonnenstrahlen dringen durch die Blätter und Äste der Parkbäume in der St. Alban-Anlage. Das Tor des gleichen Namens ragt hoch auf, es geht auf einen Turm aus dem 14. Jahrhundert zurück. Er wurde Ende des 19. Jahrhunderts im baseltypischen Mix von rötlichen Ecksteinen und weissem Verputz neu gestaltet. Die moderne Denkmalpflege war nicht einverstanden und sorgte dafür, dass hundert Jahre später zumindest das flache Pyramidendach und der Wehrerker rekonstruiert wurden, jene Pechnase, aus der man siedendes Öl oder heisses Pech auf Angreifer giessen konnte. Einige Schritte weiter blickt man auf die beiden hypermodernen Roche-Türme, deren Fassaden auf der einen Seite pyramidenförmig aufgebaut sind. Nicht auszudenken, welche aggressiven Flüssigkeiten in diesen Laboratorien ausgeheckt werden – aber natürlich dienen die Pharmazeutika der Abwehr von Angreifern auf die Gesundheit unserer Körper, Parallelen zur Pechnase verbieten sich also. Im St. Alban-Tal verlief einst ein Gewerbekanal mit mehreren Teichen, der sich aus der Birs speiste. Der Kanal diente dem Transport von Bauholz mitten in die Stadt; er trieb auch Dutzende von Mühlen an, die der Herstellung von Papier und Mehl und dem Betrieb von Sägewerken und Hammerschmieden dienten. Die historisch bewussten Baslerinnen und Basler sind stolz auf ihren «Dalbedyych»: «syt 1336» kümmert sich eine Korporation um den Unterhalt und die Erhaltung dieses Zeitzeugen der spätmittelalterlichen Protoindustrie. Ein Lehrpfad führt über vier Kilometer bis zur Birswuhr, wo das Wasser abgeleitet wird.

Nahe der Anlegestelle der Wild-Maa-Fähre treffen drei Routen für den Langsamverkehr zusammen: die ViaRhenana 30 von Kreuzlingen nach Basel (der entsprechende

Kulturlandschaftsführer von ViaStoria enthält ein aus -

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führliches Kapitel über die Stadt Basel), die ViaGottardo 7 und die Nord-Süd-Veloroute 3, die wie unser Weit wanderweg über den Alpenpass nach Chiasso führt und als Alternative zum Fusspfad dienen kann. An warmen Sommertagen erblicken wir unzählige Schwimmerinnen und Gummitier-Liebhaber, die den grossen Fluss zur Erfrischung und Ertüchtigung nutzen, auch dies eine Spielart des Langsamverkehrs. Der Rhein, der die beiden Stadtteile voneinander trennt, eröffnet zahlreiche Parkanlagen und grüne Oasen. Eine Hinweistafel warnt uns mit hübschen Zeichnungen davor, «nichts anbrennen zu lassen», will heissen, Grills, wenn überhaupt, dann mit Abstand zum Rasen zu betreiben und den Abfall zu entsorgen. Man kann sich fragen, ob ein Verkaufsverbot für Einweg-Grillschalen nicht noch ein bisschen wirksamer wäre. An der Mündung der Birs tummeln sich einige Wasservögel, sie sind beim zweiten Blick als Nilgänse zu erkennen. Diese Art hat sich in den letzten Jahrzehnten aus ihrem ursprünglichen Verbreitungsgebiet in den Savannensümpfen Ostafrikas nach Mitteleuropa ausgebreitet. Es handelt sich dabei nicht um eine direkte Immigration, sondern um Flüchtlinge aus der Gefangenschaft in den Niederlanden. Nilgänsen wird ein ausgeprägtes Aggressionsverhalten gegenüber anderen Wasservögeln zur Brutzeit zugeschrieben. Inzwischen hat die EU ihre Mitgliedstaaten verpflichtet, «wirksame Managementmassnahmen» gegen diese invasive Art zu treffen. In der Schweiz drehen sich die Mühlen langsamer, das Umweltschutzgesetz aus dem Jahr 1983 harrt der Revision. Immer hin, bei Birsfelden leisteten Freiwillige des Quartiervereins über die Jahre 7000 Stunden Fronarbeit, um im Sternenfeld einen Naturgarten anzulegen. Ein Rentner, der oft hier vorbeikommt, hat schon Eisvögel erspäht. Eine Tafel klärt uns auf, dass am Teich und im Garten schon 130 Vogel-, 34 Tagfalter- und 27 Libellenarten entdeckt worden sind. Und zurzeit stakt ein junges Entlein auf den Seerosenblättern herum, unbehelligt von den Invasoren vom Nil.

22 Basel – Liestal

Im angrenzenden Hafen- und Industriegebiet geht man einige hundert Meter auf einem asphaltierten Trottoir mitten unter Zweckbauten und Fabrikhallen. Der Zufall mag trotz der Öde zu interessanten Begegnungen führen. Neben seinem riesenhaften Lkw sitzt auf einem Campingstühlchen der Chauffeur Dilaver und braut sich mit seinem Gaskocher einen Tee. Er ist frühmorgens eingetroffen, um die Fracht von 22 Tonnen Haselnüssen abzuladen, die aus türkischer Produktion in der Nähe von Trabzon stammen. Im Hafen Birsfelden werden hauptsächlich flüssige Treibund Brennstoffe umgeschlagen, unter anderem auch das Flugbenzin, das anschliessend mit der Bahn zum Flughafen transportiert wird. Hier sind aber auch einige Produktionsbetriebe angesiedelt wie etwa die Linde Pan Gas AG, die technische und medizi nische Gase herstellt, und die Delica, eine Tochterfirma der Migros, von der Kaffeekapseln, Trockenfrüchte und eben Nüsse kommen. Manche der zu- und wegfahrenden Trucks verweisen auf

6 Das Hauptdienstgebäude des Rangierbahnhofs Basel-Muttenz mit seinem Uhrenturm von 1931 gilt als prägnanter Bau der Moderne.

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die Kehrseite der Industrieproduktion: Im Entsorgungscenter werden Abfall- und Wertstoffe angeliefert, die –zum Glück – nicht einfach unsortiert verbrannt oder weggeworfen werden dürfen.

Eine Weile folgt unser schmaler Wiesenpfad der Bahnlinie, man hat immer noch einen guten Ausblick auf die Containerstapel, die ein automatisierter Kran verschiebt. Dahinter fliesst ruhig und glänzend der Rhein, der diesen Warentransport mit geringerem Energieaufwand erst ermöglicht. Nachdem wir den einladenden Gasthof zum Waldhaus beider Basel (wohlgemerkt), passiert haben, sehen wir die weiten Gleisfelder des Muttenzer Rangierbahnhofs vor uns. Ab dem SBB-Bahnhof geht es quer durch den Kern von Muttenz, einer stattlichen Gemeinde mit 18 000 Einwohnerinnen und Einwohnern und fast so vielen Arbeitsplätzen. Auch sind Teile der Fachhochschule Nordwestschweiz hier angesiedelt. Der Nähe einiger wichtiger Standorte der Coop-Gruppe ist eine ganz besondere Sehenswürdigkeit zu verdanken, für die sich ein kleiner Umweg lohnt. Die Wohnsiedlung «Freidorf» gilt als der bedeutendste Siedlungsbau der Schweiz aus der Zeit zwischen den Weltkriegen und ist die erste Vollgenossenschaft im Land. Freidorf wurde 1921 vom Verband Schweizerischer Konsumvereine mit einer Einlage von 8 Millionen Franken gestiftet. Der Grundgedanke sei, gemäss dem Initiator Bernhard Jäggi, die Schaffung einer «kleineren, in sich geschlossenen Wirtschaftsgemeinde, die sich unter Umgehung aller vermeidbaren Unkosten in der einfachsten Weise selbst verwaltet» und sogar eine möglichst umfassende Selbstversorgung betreibe. Von diesem umfassenden Genossenschaftsgedanken zeugt – neben den schmucken Reihenhäuschen – besonders das zentrale Ge nossenschaftshaus mit Versammlungssälen, den Verwaltungsbüros und einer Bibliothek. Der Zufall will es, dass Ihr Autor bei seinem Besuch auf die betagte Frau B. trifft, die eben auf dem kurzen Gang zur Verwaltung ist und ihm erzählt, sie dürfe auch nach dem Auszug der erwachsenen Kinder und dem Tod ihres Ehemanns im kleinen

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5 Das Ortsbild des genossenschaftlichen Freidorfs von Muttenz ist von nationaler Bedeutung.

Haus wohnen bleiben. Die Gärten und verkehrsarmen Binnenstrassen lassen ein friedvolles Gemeinschaftsleben erahnen, wenn auch wohl kaum noch Selbstversorgung betrieben wird. Der Spielplatz vor dem Zentralbau ist belebt, was zeigt, dass viele junge Familien eingezogen sind. Wer heute in dieser Gartenstadt wohnen will, muss allerdings zu mindestens 50 % bei Coop angestellt sein.

Muttenz kann einen weiteren Zeugen gemeinschaftsorientierten Bauens vorweisen, wenn dieser auch viel älter ist. Das evangelisch-reformierte Gotteshaus St. Arbogast wird als Wehrkirche bezeichnet, weil es von einer hohen Ringmauer ganz umschlossen ist und so den Bewohnern des Fleckens ein Refugium bieten konnte. Der Kirchenbau stammt aus der Mitte des 14. Jahrhunderts, die Mauer wur de um 1420 errichtet. Eigentlich hätte sie nach dem Willen der Gemeindeversammlung fünfhundert Jahre später abgebrochen werden sollen; das Argument war, dass sich ohne die Mauer die Ausdünstungen der im Hof begrabenen Leichen besser auflösen und verteilen könn-

5 Die ringförmige Mauer um die Kirche St. Arbogast diente als Zuflucht und Schutz der Gemeindemitglieder.

5 Ausblick von der Ruine Wartenberg (479 m ü. M.)

ten. Der Abbruch konnte durch den Einsatz von denkmalbewussten Bürgern verhindert werden. Auch die spätgotischen Fresken wurden wieder unter den Gipsschichten hervorgeholt. Beeindruckend sind die Passionsbilder aus dem 15. Jahrhundert. Zu bewundern ist an der Nordseite der Mauer auch eine Sammlung von historischen Grenzsteinen aus der Umgebung.

Im weiteren Verlauf steigt der Wanderweg um etwa 200 Me ter an, belohnt wird die Anstrengung durch einen Weitblick über die Agglomeration Basel von den Mauern der Ruine Wartenberg aus. Die gross angelegte Burg wird als burgundische Königsburg aus dem 11. Jahrhundert gehandelt. Ein Wohnturm mit Eingang im zweiten Obergeschoss wurde im 20. Jahrhundert restauriert. Nach

vielen Handänderungen und zunehmendem Zerfall baute die Schweizer Armee 1939 einige getarnte Beobachtungsposten in den Hügel ein.

Der Name des Halbkantons Basel-Landschaft ist bezeichnend: Vor uns faltet sich nun seine hügelige Landschaft in aller sanften Pracht auf. Wandernd geniesst man die Waldsäume, Weizenfelder und Obstgärten nach dem industriellen Start zur Etappe umso mehr. Vorbei an einer weiteren Ruine, der Neu-Schauenburg, an vereinzelten Bauernhöfen und über den Bienenberg, einem Mennonitischen Tagungs- und Bildungszentrum, nähern wir uns dem Hauptort Liestal. Aus dem Augenwinkel lesen wir noch eins der Mottos vom Bienenberg: «Ich bin dann mal weg», und schon sind wir es selbst, und nach weiteren Etappen werden wir vielleicht gar zu jenem berühmten «Weg», der an die Stelle des Ziels tritt.

6 Friedliches Wiederkäuen beim Hof Schauenburg

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Übermütige Eidgenossen

Der Namensgeber für eines der berühmtesten Fussballstadien der Schweiz ist Sankt Jakobus, der Apostel, der auch in Santiago de Compostela verehrt wird. Bekannter als die Kirche St. Jakob an der Birs war lange das Basler Siechenhaus, in dem Lepröse und später Alte und dauerhaft Kranke ausserhalb der Stadtmauern Asyl fanden. Es lag an einer der wichtigen Verkehrsachsen, womit sich die Chancen erhöhten, dass die «Sondersiechen», die die Spitalanlage verlassen durften, Almosen sammeln konnten. Im August 1444 wurden Kirche und Siechenhaus schwer beschädigt. Während das Konzil in Basel tagte, kam es vor den Toren zu einer verhängnisvollen Schlacht. Es ging während des Alten Zürichkriegs um interne Konflikte der jungen Eidgenossenschaft und einen Machtkampf zwischen Zürich und Schwyz. Zürich wollte sich Privilegien des Reichs sichern, was ihr mit dem Tausch einiger Gebiete auch gelang, während der Habsburgerkönig Friedrich III. den inneren Orten der Eidgenossenschaft ähnliche Herrschaftsrechte verweigerte.

Die Zürcher Truppen trugen fortan das rote habsburgische Kreuz statt des weissen eidgenössischen. Zürich beharrte auf seinem freien Bündnisrecht, was den Schwyzern gar nicht passte. Die Eidgenossen besetzten Bremgarten und zogen plündernd durch die Zürcher Landschaft. Der Zürcher Bürgermeister Stüssi kam bei der Schlacht an der Sihl ums Leben, als er eine Brücke verteidigte. Anschliessende Friedensverhandlungen kamen zu keinem Ergebnis. Wenig später holte sich Friedrich III. Hilfe beim französischen König; ein riesiges Heer von 20 000 Kriegern, nach ihrem Anführer Armagnaken genannt, zog gegen Basel. Die Eidgenossen der acht alten Orte, immer noch mit der Belagerung von Zürich und mit der Behinderung eines kleinen zürcherischen Expeditionskorps beschäftigt, sandten lediglich 1300 Mann zur Erkundung los. Es gelang der kleinen Truppe, bei Pratteln eine Vorhut der Armagnaken in die Flucht zu schlagen, was sie «es bizzeli» übermütig machte.

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Ritter Münch büsst seinen Hohn mit dem Tode.

Trotz gegenteiligen Befehls setzten sie über die Birs und stürzten sich in den Kampf mit der Übermacht. Es kam zu einem verbissen geführten zehnstündigen Gefecht, bei dem sich die Eidgenossen dezimiert in den Garten des Siechenhauses zurückziehen mussten. Obschon sie unter dem Beschuss der französischen Artillerie lagen, lehnten sie eine Kapitulation ab. Ein Ritter der Armagnaken besah sich die Verheerungen und verhöhnte die Eidgenossen. «Ich blicke in einen Rosengarten, den meine Vorfahren vor hundert Jahren gepflanzt haben», habe er vom hohen Ross herunter gerufen, worauf ein verwundeter Eidgenosse ihm einen Stein ins geöffnete Visier geschleudert haben soll mit den Worten: «Da, friss eine deiner Rosen!» Der Ritter sei vom Pferd gestürzt, das ihn zu Tode geschleift habe. Ein wenig erstaunlich ist, dass die Tat der Eidgenossen, obschon sämtliche ausser sechzehn Flüchtigen aufgerieben wurden, als unerschrocken und heldenhaft angesehen wurde, sie habe ein weiteres Vorrücken und Blutvergiessen durch die armagnakischen Söldner verhindert. Die Legende tauchte mit den Söhnen «wie sie St. Jakob sah» in der Landeshymne von 1811 wieder auf, und der Militärdoktrin des «hohen Eintrittspreises» verhalf die Schlacht bei St. Jakob an der Birs zu langlebiger Rechtfertigung.

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