Woll i im Winterland
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Es war mitten im Winter. Schneeflocken, so gross wie Tennisbälle, fielen vom Himmel. Wolli, Blüemli, Fleckli, Pelzli und all die anderen Schafe schliefen noch ganz fest auf ihrem Strohbett, als der Schäfer Heini morgens um 6 Uhr auf Furi die Stalltüre öffnete.
«Bäh, bäh – guten Morgen ihr Lieben», rief er in den Stall. Wolli rieb sich die Augen und blärrte im Halbschlaf: «Hallo Heini, sag mir, wie wird der Tag?»
«Ach Wolli, es hat mehr als einen halben Meter Neuschnee gegeben.
Ich weiss nicht, ob ich euch heute ins Freie lassen kann», antwortete der Schäfer mit gerunzelter Stirn. Wolli war auf einmal quietschfidel, ging auf Heini zu und sagte: «Bitte, bitte lass uns trotzdem aus dem Stall, wir haben doch einen wuscheligen Winterpelz und frische Luft ist gesund für Geist und Seele. Weisst du, es ist so lange her, dass wir einen Schneemann bauen durften und heute wäre doch der geeignete Tag dazu!»
«Wolli, Wolli, du und deine Ideen – ok, ich bring euch mal das Frühstück und danach könnt ihr euren Schneemann bauen!»
Wolli war überglücklich.
Nur sehr zögerlich blickte die Sonne gegen Mittag hinter den Wolken hervor. «Huhu, hallo liebe Sonne, komm raus und lache ein wenig für uns!», schrie Wolli zum Himmel empor und hüpfte durch den luftig-leichten Zuckerschnee. All seine Artgenossen wurden von Wollis Begeisterung angesteckt.
Die ganze Schafherde beteiligte sich am Bau des Schneemanns und auch Heini half kräftig mit. «Komm Lumpi, wir holen noch eine alte Mütze und eine Karotte, damit der Schneemann auch nach Schneemann aussieht!», brummte Heini in seinen Bart und beide schlenderten zum Stall.
Es wurde ein bombastischer Schneemann mit Nase und Mütze. Selbst Heini freute sich und steckte Mister Schneemann eine alte Tabakpfeife in den Mund.
Wolli war begeistert: «So einen Schneemann hat noch nie jemand gesehen.»
Erschöpft, müde und überglücklich zottelte die Schafherde bei Sonnenuntergang zurück in den Stall. Der Schäfer sagte «Gute Nacht ihr Lieben», zog seinen Hut ins Gesicht, nahm den Lärchenstock und schloss die Stalltüre.
Ein Tag ging zu Ende und Heini war zufrieden, seine Augen leuchteten voller Stolz. «Meine Schafe, so viel Freude bereiten sie mir!»
«Ich hab’ einen Traum, ein Lied für dich!»
Die Stimme von Frida Vogelsang, die auf dem Fenster sass, ertönte schon frühmorgens. Wolli rieb sich die Augen und fragte: «Frida Vogelsang, wo warst du? So lange ist es her, ich habe deine Stimme so sehr vermisst!»
«Mein liebes Wolli, ich habe dir doch von den vielen Konzerten erzählt!
In Paris, London und sogar in Moskau war ich und habe vielen Menschen meine Lieder zum Besten gegeben.» «Warum hast du mich nicht mitgenommen?», fragte Wolli ganz traurig. «Es wird die Zeit kommen und dann, dann Wolli wirst du mich bestimmt einmal auf meinen Reisen begleiten», tröstete Frida Vogelsang. «Übrigens habe ich vor dem Stall diesen riesigen Schneemann
gesehen. Wer hat den gebaut?» «Wir, wir alle haben den gestern mit grosser Mühe gebaut. Gefällt er dir?» «Ja, so einen grossen, schönen Schneemann habe ich noch nie gesehen – aber warum hat er keine Nase?», lächelte Frida Vogelsang vom Fenster herab.
«Wie? Keine Nase, natürlich hat der Schneemann eine Nase, Heini selbst hat ihm eine Karotte ins Gesicht gedrückt», erklärte Wolli ganz aufgebracht. «Die ist weg!», zwitscherte Frida Vogelsang. «Bestimmt hat die jemand in der Nacht gestohlen.» Wolli schaute Frida Vogelsang fragend an und sagte: «Ja, aber ein Schneemann ohne Nase –das ist doch gar kein richtiger Schneemann. Wer kann nur so gemein sein und eine Nase klauen?»
Als der Schäfer die Stalltür öffnete, sah er gleich, dass Wolli traurig in einer Ecke sass und weinte. «Wolli, was ist denn passiert? Die Sonne scheint und das Matterhorn zeigt sich von seiner schönsten Seite, es ist ein wunderschöner Wintertag. Ihr kommt jetzt alle raus in den Schnee, um ein paar Stunden die frische Luft zu geniessen!» «Ja, ja, aber jemand hat die Nase
vom Schneemann gestohlen», schluchzte Wolli vor sich hin. Der Schäfer zündete sich die Pfeife an und sagte ganz ruhig: «Wolli, die Nase werden wir sicherlich wieder finden, ansonsten habe ich bestimmt irgendwo noch eine Ersatznase.» So begab sich die Schafherde ins Freie und alle blärrten, hüpften und sprangen in der weissen Schneepracht herum.
Während Wolli sich mit einer grossen Lupe auf Spurensuche machte, bekam Blüemli nicht genug von der weissen Pracht. «Schau Fleckli, ich zeichne einen Engel in den Schnee». Lumpi, der Spürhund, schnüffelte mit seiner Nase jedem Geruch nach und versuchte die Tierspuren zu deuten.
Doch dann, plötzlich… «Gugguseli, Gugguseli», tönte es vom Kopf des Schneemanns. Pelzli entdeckte als erstes das Eichhörnchen Timy. «Wolli, Wolli, Gugguseli!» Doch Wolli blickte nicht auf und hatte überhaupt keine Lust mit Timy zu spielen. «Lass mich in Ruhe, jemand hat die Nase von meinem Schneemann geklaut und jetzt muss ich sie suchen!» In wenigen Sekunden sass Timy neben Wolli, schlug seine kleinen Arme über den Kopf und fing an zu stottern: «Mein lieber Freund, wie soll ich dir das erklären, Wolli bitte,
du darfst nicht traurig sein. Weisst du, gestern Nacht als ich auf der Suche nach meinen versteckten Nüssen war, kam ich an diesem wunderschönen Schneemann vorbei, seine rote Nase leuchtete so schön im Mondschein und da konnte ich einfach nicht widerstehen… Sie schmeckte sooo gut. Endlich mal was Vitaminreiches und nicht immer diese langweiligen Nüsse! Bitte Wolli, verzeih mir, ich werde Dir auch gleich eine neue Nase suchen.»
Für ein paar Minuten blieb es ganz still zwischen den beiden. Dann sprang Wolli auf, zauberte ein Lächeln in sein Gesicht und sagte: «Timy, ich verzeih dir, doch du musst mir versprechen, dass du das nächste Mal nicht einfach etwas nimmst, was dir nicht gehört!» «Versprochen», antwortete das Eichhörnchen, «und jetzt hole ich Dir eine neue Nase!» Schon hüpfte Timy in Windeseile davon.
Timy brachte einen grossen Tannenzapfen und Wollis Schneemann sah wieder wunderschön aus. Die Wintertage waren kurz und sehr abwechslungsreich. Viele Muttertiere bekamen ihre kleinen Lämmlein. Blüemli, Fleckli und Pelzli durften im Stall einen Kindergarten einrichten, wo sie sich täglich mit den kleinen wuscheligen Jungtieren vergnügten. Sie spielten mit Murmeln, zeichneten und hatten viel Spass. Heini besuchte seine Schafe täglich und
fütterte sie mit Heu, Brot und Wasser. Auch Lumpi war immer dabei und begrüsste seine Freunde mit einem lauten «Wau, wau!»
Frida Vogelsang war bestimmt wieder irgendwo auf dieser Welt am Zwitschern, Wolli hatte sie schon lange nicht mehr gesehen und gehört. Nur Timy hüpfte fast jeden Tag zwischen den Schafen herum und piepste Wolli viele Neuigkeiten aus dem Wald ins Ohr.
Es war Mitte März. Die Frühlingssonne, die nun ihr schönstes Lächeln hatte, verbreitete schon grosse Wärme. Wie jeden Tag waren die Schafe auf der noch zum Teil schneebedeckten Wiese und genossen die Frühlingsgefühle in der freien Natur.
Wolli sass auf seinem Schneemann, der immer schneller vor sich hin schmolz. Plötzlich erklang Heinis Stimme: «Wolli komm mal her zu mir, ich habe eine Überraschung für dich!» «Überraschung» – dieses Wort klang
wie Musik in Wollis Ohren. Eins, zwei, drei und Wolli stand strahlend vor dem Schäfer. Auch Lumpi spitzte seine Ohren. «Hör mal Wolli, morgen früh werde ich dich nach Zermatt zum Bahnhof begleiten, dort wartet Frau Anna Pan auf dich. Sie ist eine Fotografin und schreibt Geschichten über die Schwarznasenschafe. Du darfst sie den ganzen Tag begleiten und ihr von dir und deinen wuscheligen Kameraden erzählen». Wolli strahlte wie ein Maikäfer über beide Ohren.
Heini, Lumpi und Wolli marschierten voller Frische und Freude von Furi nach Zermatt. Der Weg führte über den Weiler Blatten zum Zollhaus, auf den Kirchplatz – die Kirchenuhr schlug gerade acht Mal – und dann die Bahnhofstrasse hinunter auf den grossen Bahnhof-
platz. Wolli sprach den ganzen Weg lang kein einziges Wort.
Die vielen Eindrücke, so viele Häuser, all diese Menschen, Schmuckgeschäfte, Souvenirläden und, und, und – all dies hatte Wolli noch nie gesehen.
«Guten Tag, ich bin Anna, es freut mich riesig mit dir diesen Tag zu verbringen!», begrüsste eine zierliche Frau Wolli und küsste Heini dreimal auf die Wangen. Der Schäfer lächelte verschmitzt und seine Wangen wurden pfirsichrot. «Liebe Anna,
ich freue mich, bitte lass Wolli nicht aus den Augen und viel Glück beim Foto…… wie hiess das doch? Ach ja, Fotoshooting!» Heini verabschiedete Wolli und mahnte den Wuschelknäuel: «Sei lieb und anständig und bitte mach mir keine Dummheiten.»
Wolli ging mit Anna durch die grosse, moderne Schalterhalle der Gornergratbahn.
Nun stand Wolli vor einem grossen Zugwagon. «Nach all dem, was ich heute schon gesehen habe, darf ich jetzt noch mit einem richtigen Zug fahren?», fragte sich Wolli und setzte sich mit Anna gleich hinter dem Zugführer ans Fenster.
«In genau 29 Minuten werden wir von Zermatt auf 3’131 mü.M. auf dem Gornergrat ankommen», erklärte Anna. «Übrigens, die ganze Strecke ist 9339 m lang und wurde am 20. August 1898 zum ersten Mal befahren.» Wolli staunte sehr, was diese Frau alles wusste.