Leseprobe werkbuch pesche merz 1

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Ruedi Trauffer · Michel Schaer

Natürliche Formen in reinen Farben Ein Werkbuch über Pesche Merz weberverlag.ch



Nat端rliche Formen in reinen Farben



Nat端rliche Formen in reinen Farben Ein Werkbuch 端ber Pesche Merz

Ruedi Trauffer Michel Schaer

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Inhalt

Vorwort Einleitung

7 9–15

Die 60er und 70er Erste Züge «Die Zwillinge»

16–35 18–19 28–29

Die 80er und 90er Burgundemmental Burgunder Geschichten Lebensmitte

36–67 38–39 46–47 54–55

Die 00er Der Hochsitz Der Eventmanager Der Vater Fordernd und fördernd

68–139 70–71 78–79 92–94 108–109

Die 10er Neue Züge Farbe im Bahnhof Der Unbesiegte

140–177 142–143 156–157 164–165

Musikwelten Farbige Musik Pesche und die Musik

178–203 180–181 188–189

Kreativität und Farbe, Schlussbetrachtungen

204–215

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Autoren

Ruedi Trauffer Ruedi Trauffer, geboren 1950 im Oberaargau, wirkte während über 40 Jahren als Primar- und Reallehrer im Emmental, seit 1977 in Trubschachen. Durch seine Mitarbeit bei den bekannten Kunstausstellungen in seinem Dorf – zuletzt als Kurator – tat sich ihm die Welt der bildenden Kunst auf. Als Nachbar nimmt er seit vielen Jahren Anteil am Schaffen von Pesche Merz.

Michel Schaer Michel Schaer, geboren 1952 in Biel, studierte Theologie, Psychologie, Germanistik und Theaterwissenschaft an den Universitäten Bern und Wien. Er arbeitete als Gymnasiallehrer und als Theaterkritiker bei «Der Bund» und «Bieler Tagblatt» sowie als Kulturredaktor bei Radio DRS2. Er war Lehrbeauftragter an den Universitäten Bern und Fribourg sowie Dozent für Kommunikation an der Tourismusfachschule Samedan. 1994/95 arbeitete er als Kommunikationschef bei der BLS. Seit 1996 ist er Professor der Kulturwissenschaft an der Berner Fachhochschule.

Pesche Merz Peter «Pesche» Merz, geboren 1942, ist gelernter Typograf und besuchte von 1964 bis 1966 die Kunstgewerbeschule in Bern. Er arbeitete bis Anfang der 70er-Jahre als Grafiker in Werbeagenturen und anschliessend während 30 Jahren als Werbeleiter und PR-Chef bei der SBB. Der seit 2000 freischaffende Künstler wohnt in Trubschachen.

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Vorwort

Es ist eine Freude, dass ein umfassendes Buch über das vielfältige künstlerische Werk von Pesche Merz erscheint. Freude ist auch das Geheimnis und die Quelle seiner Schaffenskraft. Doch Freude ist nicht einfach ein Zustand, den man herbeirufen oder konsumieren kann, auch dauert er nicht an. Freude ist die Frucht einer Saat. Sie will errungen, gepflegt und immer wieder neu verdient werden. Das Leben und Schaffen von Pesche Merz zeugt davon. Lernen und berufliche Entwicklung, Körperbildung und sportliche Leistung, Kameradschaft und Familie, reisen und Neues entdecken, gestalten und seinen eigenen Stil entfalten, sich an Musik erfreuen, und vor allem seine tiefe Verbundenheit mit der Natur und seinen Wurzeln in Trubschachen, für all diese Lebensbereiche, die oft spannungsvoll sind, sich aber auch gegenseitig befruchten, für sie gibt er alles, damit sie ihm ihre Freude offenbaren. Diese Spannung, «alles zu geben» um «alles zu erleben», prägt sein Leben und auch seinen Namen. Der «Peter» kann hart wie Stein (lat.: «petra») sich und anderen das Äusserste abfordern; der «Pesche» ist der liebevolle Partner und flotte Kamerad, der kreative Gestalter und der gemütliche Geniesser. Ordnung und Kreativität, Struktur und Offenheit, die gleichzeitige Sehnsucht nach Halt und Freiheit durchziehen sein Werden und Wirken, und nun sind diese Gegensätze in seiner Malerei zu einer schönen Synthese erblüht. Das Spannungsgeladene wird in ein höheres Gleichgewicht und zu einem neuen Ganzen erhoben. Mit klaren Linien und leuchtenden Farben bringt er frohgemut seine Hingabe zu allem, was er gern hat, zum Ausdruck. Jetzt ist es mehr als das meisterliche Können der sorgfältigen Grafiker-Hand, es ist nun das Herz, das alles bisher Gegensätzliche erlöst und in ein Neues, Höheres, Reineres verwandelt – ohne Getriebensein und ohne Druck, ganz frei. Im Überwinden und Vereinen der Gegensätze keimt die Ahnung des Wesentlichen und leuchtet die wahre Freude auf. Ist es nicht das Wesen und die Aufgabe der Kunst, diese hinter allen Erscheinungen und Formen vorhandene Kraft zu entdecken und zu befreien? So wie «Peters» Ringen zu «Pesches» Freude-Erleben wird.

Oscar A. Kambly, Präsident des Verwaltungsrates Kambly AG, Trubschachen.

Oscar A. Kambly

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Einleitung

«sub specie aeternitatis» – Im Angesicht der Ewigkeit Kulturwissenschaftliche Betrachtungen zum malerischen Werk von Pesche Merz

© Prof. Dr. Michel Schaer

Als Peter Merz in Trubschachen aufwuchs, gab es dort zwar schon die Biskuitfabrik Kambly und die Seilerei Jakob, nicht aber die berühmte Gemäldeausstellung, die dem Publikum alle vier Jahre bedeutende Stücke aus Schweizer Privatbesitz nahebringt. Gleichwohl brauchte der Augenmensch Pesche nicht zu darben. Sobald er vom ersten Stock des Stationsgebäudes, wo die kinderreiche Familie wohnte, hinunterkam in den Publikumsbereich, dem Vater Traugott vorstand, kam er in Kontakt mit grossen Formaten des künstlerischen Schaffens. Denn auf den Werbeflächen der Allgemeinen Plakatgesellschaft im Aussenbereich des Bahnhofs (1) und an den Wänden des Wartsaals entfalteten damals noch die Spitzenwerke der Schweizer Werbegrafik ihre eindrucksvolle Qualität. Bevor sich die Fotografie des Plakatmediums bemächtigte, führten die Meister der Zeichnung ein letztes Mal vor, was Pracht der Farbe, Eleganz der Linie und Prägnanz der Volumen zu leisten vermögen und welch unauslöschliche Eindrücke sie hervorrufen. Wer einmal das Plakat der Niesenbahn gesehen hat, auf dem der verlängerte Strich des grossen N pfeilgerade zum Gipfel der Thunerseepyramide hinaufführt, hat erlebt, wie durch Verdichtung der Aussage symbolische Kraft gewonnen wird. Auf dem Plakat daneben sah man, wie das «Himugüegeli» (Marienkäferchen) am Stängel einer filigranen Dolde zum wolkenlosen Himmel hinaufkroch; man begegnete ihm an der Front der silbernen Gurtenbahnwagen wieder. Mit einem Capriccio aus weissen Flächen und blauen Strichen evozierte der «Publizitätsdienst der SBB» die schimmernde Weite des Schwäbischen Meeres. «Rundfahrten mit SBB-Schiffen» lautete der nüchterne Slogan. Aber der Texter brauchte nicht mehr zu leisten. Das Hauptargument hatte der Grafiker mit seiner Hand bereits formuliert.

(1) Seite 21 Der letzte Zug

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Wie man sieht, benutzten die Plakate, unter denen der Bähnlersohn aufwuchs, die Abbildung von Landschaft zur Evokation von Erinnerung und Fernweh. Der Auftrag des Grafikers lag nicht darin, die Wirklichkeit «mit Treue und Fleiss» (Goethe) zu erfassen, sondern durch «Gemütserregungskunst» (Novalis) einen starken, lange haften bleibenden Eindruck hervorzurufen. Das entsprach der damals verbreiteten AIDA-Formel (Attention, Interest, Desire, Action). Im Betrachter sollte sich ein Verlangen bilden, das zur Handlung führt, konkret zum Kauf eines Billetts und zum Antritt der Reise. Um diese Wirkung zu erzielen, musste das Plakat unter den Alltagsgegenständen hervorstechen und eine Anziehungskraft entwickeln, die den Blick auf sich zog, damit der Vorbeigehende im flüchtigen Moment der Begegnung von der Werbebotschaft infiziert werden konnte. Doch die Ästhetik der Grafik war nicht bloss geprägt vom Charakter des Auffälligen, sondern auch (und in erster Linie) von der Resistenz gegen die ermattende Wirkung der Wiederholung. Um der Abnutzung standzuhalten, die sich durch die tägliche Begegnung ergibt, muss das Bild in der Lage sein, schlummernde Lebenstriebe wachzurufen. Dafür kommt am häufigsten die Sexualität zur Anwendung. An schönen Körpern sieht sich das Auge nie satt, namentlich wenn die Entblössung mit Verheissung gekoppelt ist. «Hier wohnt das Glück» (hic habitat felicitas) stand im alten Pompeji unter der Zeichnung eines Phallus, und seit ihrem Aufkommen verhielten sich Massenwerbung und Boulevardmedien stets nach der Maxime «sex sells» (Sex verkauft die Ware). Als Gewerbe jedoch, das mit der breiten Allgemeinheit verkehrt und seine Dienste auch Kindern und Grosseltern anbietet, darf die Eisenbahn- und Tourismuswirtschaft das potenteste Attraktionsmittel nicht einsetzen. Deshalb kommt, wie überall, wo es züchtig zugehen muss, für die Sexualität die Schönheit zum Zug. Auch die Schönheit bietet Lust. Aber sie weckt im Betrachter nicht Erregung, sondern bloss kontemplatives Wohlgefallen. Wenn am Bodensee im Netz der blauen Striche die weisse Schiffswand auftaucht oder wenn sich auf dem Plakat der Niesenbahn die gezackte Pyramide dem Himmel entgegenwirft, reagiert das Auge mit Genugtuung: «Ja, so ist es! So, wie es dargestellt ist, ist es richtig, und so, wie es dargestellt ist, ist es schön!»

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Das fünfmalige «ist» zeigt an, wo der Reiz der grossen Plakatkunst liegt: in der souveränen Darstellung des In-sich-Ruhenden, mithin «wahrhaft Seienden» (Platon). Auf die hektische Welt des Verkehrs antwortet die Werbegrafik mit Beständigkeit und Eindeutigkeit, kurz: mit Klassizität. Diesem Blick für das Dauerhafte und zeitlos Gültige, der vor einem halben Jahrhundert die Plakatkunst ausmachte, begegnen wir heute auf den Acrylbildern von Pesche Merz. Gleichgültig vor welchem Bild wir stehen: Nie finden wir darauf ein Element, das «vorhin» (vor der Entstehung des Gemäldes) noch nicht «da» war oder das «nachher» (wenn der Maler den Schauplatz verlassen hat) «nicht mehr da» sein wird. Deshalb ziehen auch keine Wolken vorbei. Pesche beschränkt, um das Spiel des Wetters zu vermeiden, den Raum des Himmels auf einen knappen Saum am oberen Bildrand. Wir suchen hier also vergebens das Zufällige, Verhuschte und Angerissene, das zum Schnappschuss gehört. Wir finden auch nicht das Anekdotische, dem Augenblick Verhaftete, das dem Liebreiz der Vedutenbilder entspricht. Auf «Biel, von Westen gesehen», einer Gouache des Landschaftsmalers Johann Joseph Hartmann (1805), entdecken wir zum Beispiel im Obstberg links einen Mann, der mit der Hacke den Boden bearbeitet, und in der Ferne studiert ein Fischer bei der Mühlebrücke die Strudel der Schüss. Derlei Figurinen sind bei Pesche undenkbar. Sie widersprechen der angestrebten Monumentalität, die grosse Formate und raumdominierende Farbigkeit verlangt. Das einsame, angelehnte Velo an der Burgdorfer Hohengasse (2) bildet in den Landschafts- und Städtebildern eine singuläre Ausnahme. Da ist einer gekommen, abgestiegen und aus dem Bild verschwunden. Pesche hat ein solches Motiv kein zweites Mal aufgenommen. Bei den Emmentaler Weilern könnte man nicht einmal angeben, ob die Dachgruppe ins 19. oder 21. Jahrhundert gehört (3), wäre nicht zuweilen ein Silo (4) mitgemalt. Daneben aber: keine Kühe (mit oder ohne Hörner), keine Pferde, Hühner, Schafe, keine Kinder, Männer, Frauen. In den burgundischen Städtchen gibt es keinen Verkehr (5); auch nicht auf den Strassen und Plätzen von Bern, Burgdorf oder Langnau (6). Zwar werden Strassenmarkierungen, Zebrastreifen und

(2) Seite 152 Burgdorf, Kirchbühl (3) Seite 60 Neuenschwand, Eggiwil (4) Seiten 148 –149 Wislen bei Worb Seite 61 Vorderer Gyrsgrat, Eggiwil (5) Seite 82 Saint-Jean-de-Losne Seite 83 Soing en été Seiten 84–85 Fontenoy-le-Château en été (6) Seite 171 Bern, Zibelegässli Seite 159 Langnau, Marktgasse

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Verkehrssignale wiedergegeben, aber die Autos, Lieferwagen und Fussgänger fehlen. Natürlich würden sie Bewegung ins Bild bringen, doch mit der Bewegung auch Vergänglichkeit. Durch Automarke, Fahrtrichtung und Modelltyp würde die Aussage nach Pesches Empfinden zu stark an den Moment gebunden. Er aber zielt auf das Dauernde, Allgemeingültige. Deshalb wirken Städte und Landschaften bei ihm auch so verträumt wie die Welt bei Mittagsstille oder Vollmondnacht. Indem der bewegte Mensch weggelassen wird, der das Interesse auf die Handlung lenkt und auf das Motiv hinter der Handlung, verschwindet die psychologische und historische Dimension. Aus diesem Grund malt Pesche auch keine Porträts – es sei denn auf Bestellung. Die Musikerbilder verraten, dass ihm die Darstellung des Menschen nicht liegt. Es geht ihm wie dem inguistik-Professor Roland Donzé, der erst nach der Pensionierung zu schreiben begann: «Man muss als Künstler – vor allem, wenn man so spät anfängt wie ich – nur das machen, was man kann. Darum fehlen in meinen Romanen die Beschreibungen. Ich verstehe mich nicht darauf.» Da Pesches Gemälde die Zeitlichkeit negieren, ist es nur folgerichtig, dass sie nicht «spontan» entstehen, auch wenn der Maler in der psychologischen Typologie von Stahl/Alt zu den «Vergnügungsministern» gezählt wird. Diese Menschen «sind offenherzig, spontan und begeisterungsfähig. Sie leben im Hier und Jetzt und folgen ihren spontanen Impulsen. Dabei können sie andere gut mitreissen und jeden Moment zu einem besonderen und unverwechselbaren Erlebnis werden lassen. Sie versprühen Optimismus und Lebensfreude. Tatsächlich landen sie auch immer wieder auf den Füssen, zumeist sogar, ohne dass sie selbst genau wissen, wie es passiert.» Zum Malen begibt sich Pesche nicht mit Strohhut, Staffelei und Palette ins Freie. Er wirft die «natürlichen Formen» nicht mit unbekümmerter Frische auf die Leinwand wie die Vertreter der Pleinairmalerei. Sondern er baut die Ansichten sorgfältig und besonnen im Atelier auf und nimmt dafür Fotografien und Skizzen zu Hilfe. Dem Malakt ist die Wahl von Sujet und Standort vorgelagert. Dazu gehören auch Farbversuche und Variantenstudien, die erlauben, das Bildformat festzulegen. Der Aus-

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schnitt muss in sich stimmen. Er darf nicht über seine Grenzen hinaus verweisen. An ihm soll nichts vermisst werden können. Er darf sich nicht verrücken lassen. Wie ein Komponist, der die Tonart des Stücks und die Zusammensetzung des Orchesters definiert, bevor er das musikalische Thema zur Entfaltung bringt, verknüpft Pesche Intuition und Erfahrung, wenn er durch (a) Reduktion und (b) Abstraktion Volumen und Farben bestimmt. (a) Bei der Reduktion – auf Deutsch: Zurückführung – geht es um die Elimination von Zwischentönen zur Erzielung koloristischer Einheitlichkeit. Durch sie wird das Dargestellte aus der Realität gehoben und in den Kosmos der Kunst geführt. (b) In der Abstraktion – auf Deutsch: Verallgemeinerung – wird die Unendlichkeit der Formdetails zusammengefasst zu scharf umrissenen Farbfeldern. Pesche vermeidet dabei die einfachen geometrischen Formen zugunsten von raffinierten, optisch reizvollen Flächen. Im Prozess von Reduktion und Abstraktion entsteht, wenn man so will, in Pesches Gemälden der dialektische Witz und auch ihr eigentlicher Reiz. Stets blicken wir auf Dinge, die es «so» in Wirklichkeit nicht gibt. Die Farben widersprechen der Erfahrung. Sie sind nicht das Werk der Natur, sondern das Werk des Malers. Auf diese Weise bieten Pesches Bilder eine neue, ja sogar einzigartige Sicht auf das Vertraute. Zugleich wird der Betrachter zum Mitschöpfer des Bildes. Er muss, viel stärker als bei der Fotografie, das Gesehene ins Dargestellte übersetzen. Zwischen dem, was auf der Leinwand ist, und dem, was es bedeutet, kommt der Betrachter ins Oszillieren zwischen Sehen und Erkennen, das heisst in jenen Aggregatszustand euphorischer Augenlust, der die Initialzündung zum Gemälde gab. Um den Reiz des Schauens zu erhöhen, verteilt Pesche ausladende Sujets gern auf verschiedene Leinwände, die er durch einen fingerbreiten Spalt voneinander trennt (7). Durch diesen Trick wird das Kontinuum des Landschaftspanoramas gebrochen, und die Komposition blinzelt dem Betrachter zu: «Ich bilde nicht die Wirklichkeit ab, ich rufe sie hervor … Und zwar in dir!»

(7) Seiten 76–77 Un jour d’été à Tours Seite 91 Hohgant (und weitere)

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Interessant, dass die Bildtiefe ebenfalls vom Betrachter geschaffen wird, der die Farbflächen und -flecken perspektivisch interpretiert. Doch schaffen intensiv leuchtende, farbige Flächen wirklich Tiefe? Jedenfalls nicht nach den Regeln der herkömmlichen Landschaftsmalerei, die, um Tiefe zu evozieren, das Mittel der Luftperspektive einsetzt, also die Wirkung von Ferne durch Verblassen und Bläulichwerden hervorruft. Weil wir die Luftperspektive auch in der Wirklichkeit kennen, bezeichnete Gotthelf den fernen Jura in «Anne Bäbi Jowäger» als «blauen Berg»: «Hinter dem Hause … sah man den blauen Berg, das himmelblaue Börtchen, mit welchem der liebe Gott selbst den lützelsten Teil der Schweiz eingefasst hat.» Pesche verzichtet auf die Luftperspektive. Damit gibt er jedem Bildelement die gleiche Wichtigkeit. Unter der Verwendung «reiner Farben» (Pesche) wirkt alles gleich nah. Die Bilder gehen nicht nach hinten. Diese Gleichwertigkeit von nah und fern zeigen auch die Andachtsbilder des frühen Mittelalters. Auf ihnen wollten die Künstler nach dem Wort des Psalmisten Gottes Allgegenwart ausdrücken: «Wohin soll ich fliehen vor deinem Angesicht? Stiege ich hinauf in den Himmel, so bist du dort; schlüge ich mein Lager in der Unterwelt auf – auch da bist du. Nähme ich Flügel der Morgenröte und liesse mich nieder zuäusserst am Meer, so würde auch dort deine Hand mich greifen und deine Rechte mich fassen.» (Psalm 139) Pesche Merz gehört also zu den Künstlern, die Wirklichkeit durch Umwandlung wiedergeben. Goethe hat darüber in seinem Aufsatz «Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil» nachgedacht: «Wir sehen, dass diese Art der Nachahmung am geschicktesten bei Gegenständen angewendet wird, welche in einem grossen Ganzen viele kleine subordinierte Gegenstände enthalten. Diese letztere müssen aufgeopfert werden, wenn der allgemeine Ausdruck des grossen Gegenstandes erreicht werden soll, wie zum Exempel bei Landschaften der Fall ist, wo man ganz die Absicht verfehlen würde, wenn man sich ängstlich beim Einzelnen aufhalten und den Begriff des Ganzen nicht vielmehr festhalten wollte.»

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Damit reiht sich Pesche in eine lange Reihe von Landschafts- und Städtemalern ein. Wie Johann Georg Sulzer anweist, malt er nur dann «eine Landschaft oder einzelne Gegend», wenn sie «einen Charakter zu haben scheint, der sie der Abbildung wert macht». Der in Berlin lehrende Schweizer Ästhetiker stellte 1793 in seiner «Allgemeinen Theorie der Schönen Künste» fest: «Das fast allen Menschen beiwohnende Wohlgefallen an schönen Aussichten scheint schon anzuzeigen, dass die Schönheiten der Natur eine ganz nahe Beziehung auf unser Gemüt haben.» Um solches «Wohlgefallen» hervorzurufen, wendet Pesche den Blick von den «Unorten» ab, die die «Verbrauchsschweiz» hervorgebracht hat, und setzt seine volle Schaffenskraft für die «Schönschweiz» ein. «Bauen wird heute zum Agglomerieren, d. h. zum rücksichtslosen Nebeneinanderreihen und Ansammeln von kurzlebigen Wegwerfbauten. Es fängt oft mit harmlosen Disharmonien und schleichenden Unwirklichkeiten an und wächst sich dann bis zu ganzen Agglomerations- und Wegwerflandschaften aus: So schaffen wir neues Ödland, neue Wüsten.» Das schrieb der Architekturkritiker Rolf Keller 1973. 2013 formulierte der Stadtwanderer Benedikt Loderer in seiner «Beschreibung des Schweizerzustands» den Unterschied zwischen der «Schönschweiz» und der «Verbrauchsschweiz»: «Zur Schönschweiz gehören zuerst und vor allem die Berge, genauer: die Alpen … Zur Schönschweiz gehört auch die Kulturlandschaft des Mittellandes … Neben den Bauernhäusern und Stöckli auch Kirchen und Schlösser, Burgruinen und gedeckte Brücken. Ob im Emmental oder auf dem Randen, ob im Malcantone oder im Gros-deVaud: Schön ist, was unberührt daherkommt. Unberührt ist, was vorindustriell aussieht.» Vor dem Hintergrund dieser Betrachtungen verstehen wir, dass Pesche Merz durch Beschwörung der «Schönschweiz» versucht, den katastrophalen Balanceverlust unserer Epoche ins Lot zu bringen und die elende «Verbrauchsschweiz» mit der farblichen Wucht seiner Acrylgemälde auszumerzen. Prof. Dr. Michel Schaer

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Die 60er und 70er

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Erste Züge

(1) Seite 21 Der letzte Zug (2) Seite 22 Grossvater Garaventa (3) Seite 23 Trubschachen (4) Holzdrucke Seite 24 Hohstullen Seite 25 Fritz Seite 26 Peter Seite 27 Traugott Merz

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Der Bahnhof Trubschachen, Vater Merz unter der Türe, die Mutter am offenen Fenster im ersten Stock, daneben die beiden Schatten spendenden Linden und das längst verschwundene WC-Häuschen, dessen hintere Hälfte – die ehemalige Waschküche des Bahnhofvorstandes – Pesche Merz als erstes Atelier diente, auf dem Vordächlein und vor den Fenstern die liebevoll gepflegten Geranien, im Vordergrund eine saftig grüne, blühende Löwenzahnwiese: Diesem Siebdruck in 23 leuchtenden Farben begegnete ich schon vor 30 Jahren nicht nur bei meinen gelegentlichen Besuchen im Nachbarhaus, sondern in vielen Privatwohnungen in Trubschachen, auch im Gemeindebüro und in den Gasthöfen (1). Der äussere Anlass zu diesem Werk – viele Jahre war es das einzige, das ich von ihm kannte und das mir verriet, dass Pesche Merz neben seiner beruflichen Arbeit als Grafiker auch noch eine «Fyrabe»Kunst pflegte – war der letzte Arbeitstag seines Vaters als Bahnhofvorstand im Jahre 1973. Es sollte für die Eltern und Geschwister eine bleibende Erinnerung sein an ein Familienleben, das geprägt war vom Bahnalltag. Während vieler Wochen entstand das Bild – im aufwändigsten aller Druckverfahren – heimlich und vor allem nachts. Im Flimmern der leuchtenden Farbflecken in Bäumen und Wiesen erkennt man Pesches Bewunderung für die französischen Impressionisten, von denen er eine Reihe eben erschienener Kunstbände erstanden hatte. Pesche schuf in diesen Jahren aber durchaus auch anderes, nur waren diese Werke in der Öffentlichkeit kaum je zu sehen. Die Jahre an der Kunstgewerbeschule hatten ihm viele Anregungen gegeben. Es reizte ihn, eigene Schritte zu versuchen, das Geübte im grösseren Format mit Themen, die ihn bewegten, anzuwenden, vielfältig zu experimentieren. Mit Deko-Ölfarben gestaltete er die hügelige Emmentaler Landschaft um Trubschachen (3) oder ein Porträt seines Grossvaters (2), der ein passionierter Jäger war – auf Hartfaserplatten, denn Leinwand war damals für einen Kunstgewerbeschüler zu teuer. Mit einer speziellen Schabloniertechnik schuf er grossformatige, mehrfarbige Holzschnitte (4). Auch sie entstanden meist als Geschenke für Leute aus dem Bekanntenkreis. Dass am Anfang verschiedenste Drucktechniken im


Vordergrund standen, war natürlich weitgehend dem Umstand zuzuschreiben, dass dem gelernten Typografen – das war damals wirklich noch ein Handwerk mit Bleilettern und so weiter – alles, was mit Hochdruckverfahren zusammenhing, in Fleisch und Blut lebte. Am gleichen Ort, wo er von der Mutter jeweils zur fälligen Grundreinigung in den Waschzuber gesteckt worden war – Badezimmer gab es im Bahnhof damals keines –, installierte er seine improvisierte Druckerpresse, einen gewaltigen Bretterstapel. Pesche Merz war in diesen Jahren ein Bewunderer der Pop-Art. Die knallige Eindeutigkeit ihrer Farben, das war es, was seiner Grafikerseele entsprach. Für mehrere Bilder verwendete er farbigen Klebefilz: Eine Serie mit einem Berner Sennenhund etwa (5), in der er die Farben nach Belieben verfremdend austauschte, oder Szenen aus dem Sport – auch ein Thema, das sein Leben prägte –, Sport im Spannungsfeld von Sponsoring und Werbung (6). Pesche Merz war daran gewöhnt, dass in seinem Elternhaus das finanzielle Budget manchem Wunsch Grenzen setzte. Jetzt setzte er sich die künstlerischen Grenzen selber: Eindeutige, ungemischte, klar definierte, leuchtende Farben sollten seine Bilder bestimmen. In den folgenden Jahren – es waren Pesches Lehr- und Wanderjahre als Werbegrafiker – verlangte ihm die Berufsarbeit viel Kreativität ab. Auch seine maltechnischen und zeichnerischen Fertigkeiten konnte er im Beruf ausleben, denn zu jener Zeit wurden die grafischen Entwürfe für Verpackungen, Plakate und Inserate ausschliesslich von Hand mit Pinsel und Deckfarben, später dann mit den ersten Filzstiften, ausgearbeitet. In diese Jahre fiel auch seine Heirat mit Josiane, die er in der Kunstgewerbeschule kennengelernt hatte. Sie wurde für ihn all die Jahre zur wichtigen, kompetenten, oft wohl auch kritischen Begleiterin seines künstlerischen Schaffens. Die neu gegründete Familie und das Engagement im Turnverein füllten Pesches Feierabende weitgehend aus. So blieben seine weiteren künstlerischen Pläne für eine Weile Wunschträume.

(5) Seite 35 Bäri (6) Klebefilz Seiten 31 – 34 Alle ohne Titel

Ruedi Trauffer

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Seite 21 Der letzte Zug, 1973 Siebdruck, 23 Farben Auflage: 100 Exemplare 36,5 x 66,5 cm alle Privatbesitz

Seite 25 Fritz, 1986 Holzdruck auf Papier Auflage: 16 Exemplare 32 x 20 cm teilweise Privatbesitz

Seite 22 Grossvater Garaventa, 1965 テ僕 auf Hartplatte 90 x 40 cm Privatbesitz

Seite 26 Peter, 1986 Holzdruck auf Papier Auflage: 10 Exemplare 58 x 40 cm teilweise Privatbesitz

Seite 23 Trubschachen, 1965 テ僕 auf Hartplatte 105 x 148 cm Seite 24 Hohstullen, 1986 Holzdruck auf Papier Auflage: 9 Exemplare 20 x 32 cm teilweise Privatbesitz

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Seite 27 Traugott Merz, 1986 Holzdruck auf Papier Auflage: 14 Exemplare 58 x 40 cm teilweise Privatbesitz


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«Die Zwillinge»

Longo Hofer ist ein langjähriger Berufskollege von Pesche Merz.

Im Leben von Pesche Merz und mir gibt es einige Parallelen: Wir sind beide im Spital Oberdiessbach zur Welt gekommen, allerdings im Abstand von fünf Jahren. Die Wahrscheinlichkeit ist aber gross, dass wir mit dem Klaps der gleichen Hebamme ins Leben geschickt wurden. Pesche lernte Typograf und ich lernte Typograf. Pesche besuchte die Kunstgewerbeschule und ich besuchte die Kunstgewerbeschule. Dann trennen sich die Duplizitäten kurz. Ich absolvierte eine Handelsschule und wechselte in den Fotosatz. Nach einer längeren Auszeit kehrte ich per Anhalter von Formentera nach Thun zurück. Und nun kommt Pesche wieder ins Spiel. Ich erhielt einen Anruf von der Werbeagentur Sandmeier. Ich packte meine Unterlagen und fuhr nach Bern. Und Pesche stellte mich – trotz Hippie-Look – umgehend als Arbeitskraft ein. Unter ihm begann für mich eine schöne, aufregende und lehrreiche Zeit. Pesche forderte einem alles ab. Zu zweit kreierten wir Werbung mit Budgets in Millionenhöhe für Peugeot Suisse, Chocolat Suchard, Zenith Watches, Movado Watches, Ulysse Nardin, Langenthal Porzellan, Bangerter Lyss, Egger Pumpen Cressier und viele mehr. Überzeit, Nachtarbeit und Sonntagseinsätze gehörten einfach dazu. 1973 verliess Pesche die Agentur und wechselte zur SBB. Er machte mir die Bahn schmackhaft und ab 1979 waren wir im Werbedienst wieder ein Team. Kreativ in einem starren Beamtenumfeld bestehen zu können, war nur mit der Beharrlichkeit von Pesche Merz zu bewältigen. Er setzte rigoros alle unter Druck – auch sich selbst – und schuf sich so nicht nur Freunde. Zusammen lancierten wir die Kundenzeitschrift «Der neue Zug»: Auflage 3,5 Millionen in drei Sprachen und in 13 regionalen Splits! Ein Highlight war auch die Borromini-Halbtax-Aktion. Und das alles ohne externe Werbeagenturen! Klar, dass solche Kraftakte zu einigen Reibereien führten, aber bei einem Bier wurde jeweils alles wieder ins Lot gerückt. Ich habe Pesche Merz viel zu verdanken. Er war für mich ein Fels in der Brandung. Ein Fels mit Ecken und Kanten, aber gerade deswegen sympathisch und liebenswürdig. Merci Pesche! Longo Hofer

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Seite 31 ohne Titel, 1973 Klebefilz auf Hartplatte 70 x 50 cm Seite 32 ohne Titel, 1973 Klebefilz auf Hartplatte 50 x 70 cm Seite 33 ohne Titel, 1973 Klebefilz auf Hartplatte 50 x 70 cm Seite 34 ohne Titel, 1973 Klebefilz auf Hartplatte 50 x 40 cm Seite 35 B채ri, 1973 Klebefilz auf Hartplatte Holz, Glas 50 x 70 cm

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