Pestalozzi-Agenda 2022 / 23

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2022/23

PESTALOZZI AGENDA 2022/2023



KINDHEITSAGENDA PESTALOZZI 2022/23


Diese Agenda gehört Name Vorname Strasse Ort/PLZ Schule E-Mail Handy-Nummer


Vorwort Der Wind pfeift, dünne Grashalme tanzen in der Luft, verschleierte Wolken ziehen so schnell am Himmel vorbei, man könnte meinen, sie hätten an jenem Tag noch etwas anderes vor. An solchen Tagen fliegen Drachen besonders gut. Die aus dem alten China stammenden Flugdrachen sind nicht nur ein beliebtes Spielzeug, sie wurden auch im Krieg oder für das Erforschen von Elektrizität eingesetzt. So vielfältig wie ihre Geschichte ist auch das Erwachsenwerden in der Schweiz. Welche Figuren aus den Medien prägen unsere Kindheit, wie schauen bekannte Personen auf ihre Zeit als Kind zurück und unter welchen Umständen leben junge Menschen in der Schweiz früher und heute? Antworten darauf findest du im Kalendarium, das deinen Alltag 365 Tage lang mit überraschenden und inspirierenden Tipps, Fakten und Zitaten versorgt. Wie das Wetter beim Drachen, so haben auch Kinder verschiedene Voraussetzungen, die ihr Leben beeinflussen: Familienform, soziale Herkunft, Gesundheit. In Reportagen und informativen Texten tauchst du in das Leben von verschiedenen jungen Menschen ein und kannst im Mini-Chancengleichheits-Lexikon dein eigenes Wissen testen. Apropos Wetter: Nicht nur Drachen sind von ihrer Umwelt abhängig, auch Menschen. Viele Kinder und Jugendliche gestalten ihre Umwelt deshalb politisch mit, so beispielsweise die Klimaaktivistin Annika Müller. Nebst den genannten Voraussetzungen sind es auch Geschichten, die sich in Kindheitserinnerungen festsetzen. Weshalb das so ist, erzählt die Kinderbuchautorin Claudia de Weck. Auch den sozialen Medien wird Aufmerksamkeit geschenkt: Eine Jugendpsychologin erzählt, wie sich TikTok und Co. während der Pandemie auf dich auswirken. Nicht zuletzt erfährst du etwas über die Kindheit von Schweizer Schriftstellerinnen und Schriftstellern, darunter etwa Sunil Mann oder Margrit Schriber. Und weil nebst der Vergangenheit umso mehr die Gegenwart zählt, erzählen junge Menschen selbst – über Schule, Alltag, Liebe und Freundschaft. Nuria Rogger


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Inhaltsverzeichnis 8 Stundenplan 12 Meine Adressen 14 Jahresübersicht 20 Kalendarium 179 Schweizer Gesamtbundesrat 2022 181 Sieben Fragen an Bundesrätin Viola Amherd 183 Kapitel 1: Stichwort Familie 184 Aufwachsen mit vier Vätern 187 Wenn sich die Eltern trennen 192 Verloren in der Mitte? Der Mythos der Sandwichkinder 195 Auf sich allein gestellt 197 Kapitel 2: Stichwort Politik 198 Sollen wir mit 16 stimmen gehen dürfen? 201 Kinderrechte 203 Was Parteien mit Kindern machen wollen

205 Jung und politisch: Die Klimajugend 208 Schule, Alltag, Hobbys: Interview mit Cansu Dogan 210 Wer war Maria Montessori 211 Kapitel 3: Stichwort Bildung 212 Leben mit besonderen Bedürfnissen: Zu Besuch in der Rafaelschule 215 Schule, Alltag, Liebe: Interview mit Pearl und Vivien 217 Haben wir alle dieselben Chancen? 219 Mini-Chancengleichheits-­Lexikon 221 Das Wandtelefon 223 Kapitel 4: Stichwort Pandemie 224 «Mich beeindruckt, wie die Jungen die Massnahmen mittragen» 230 Schule, Alltag, Freunde: Interview mit Darija Knezevic 232 Kindheit im Krieg 235 Kapitel 5: Stichwort Soziales


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236 Von Beeren und Geheim­sprachen – Kinder mit Migrationshintergrund erzählen 240 Schule, Alltag, Hobbys: Interview mit Verona und Enea 242 Die Schweiz und ihre Verdingkinder 245 Schule, Alltag, Hobbys: Interview mit Matilda Rengger 247 Kapitel 6: Stichwort Geschichten 248 «Mit einer Tierfigur kann sich jedes Kind identifizieren» 251 Bücher für Wissensdurstige und ­Leseratten 252 Wer war Janusz Korczak 253 Kapitel 7: Stichwort Medien 254 «Mit dem Handy würde ich viel ­verpassen» 255 Wie TikTok & Co. glücklich machen – oder eben nicht

258 Wer war Alexander Sutherland Neill 259 Kapitel 8: Stichwort Herkunft 260 Paradiesvogel 262 Wenn Babys mit dem Flugzeug zur Welt kommen – eine Reportage über Adoptivkinder 266 Beruf, Alltag, Liebe: Interview mit Paola und Timon 269 «Die Schule behandelt uns wie ­Erwachsene» 272 Wer war Johann Heinrich Pestalozzi 273 Telefonnummern und Adressen 286 Formeln und Masse 292 Römische Zahlen und M ­ orsealphabet 293 Editorial und Sponsoring 294 Impressum 320 Bestelltalon


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Stundenplan

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Stundenplan

ZEIT

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Jahresübersicht 14

August 2022

September 2022

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30


1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30

Jahresübersicht

November 2022

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Oktober 2022


August

20 Kalendarium

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Montag Bundesfeiertag

Urmel ist ein Wesen mit einer Nilpferdschnauze und kurzen Gliedmassen, das aufrecht auf zwei Beinen geht, einen langen Hals und einen Krokodilschwanz hat. Erstmals tauchte es 1969 in Max Kruses UrmelBuchreihe «Urmel aus dem Eis» auf, am populärsten wurde es in der 1996 gestarteten 26-teiligen Urmel-­ Zeichentrickserie von Gerhard Hahn im deutschen Sender ARD.

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Dienstag

«Erziehung besteht hauptsächlich darin, ein Kind zu dem zu machen, was es schon ist.» Alice Miller


«Ich bin eigentlich im Wasser zur Welt gekommen. Meine Mutter hat mich geboren und in die Sihl geschmissen. Da hat mich ein Sportschwimmer gerettet und ins Kinderspital gebracht. Vielleicht bin ich deswegen so eine gute Schwimmerin.» Mariella Mehr

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Donnerstag

99 % der 12- bis 19-Jährigen haben ein eigenes Handy/Smartphone.

Kalendarium

Mittwoch

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August 5

Freitag

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Samstag

«Ich habe mein ganzes Leben gebraucht, um zeichnen zu lernen wie ein Kind.» Pablo Picasso

22 Kalendarium

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Rudi Rüssel ist ein Rennschwein aus dem gleichnamigen Buch von Uwe Timm, das den Alltag einer fünfköpfigen Familie durcheinanderbringt und das Rennfinale einer Schweine-­ Weltmeisterschaft gewinnt. Ausser dem von Gunnar Matysiak illustrierten Kinderbuch von 1989 gibt es auch den gleichnamigen Film von 1995, in den Uwe Timm Regie führte.

Sonntag

«Die strengsten Richter eines Mannes sind seine Kinder.» Thornton Wilder


Montag

In den ersten zwei Lebensjahren eines Kindes verlieren die Eltern circa sechs Monate Schlaf.

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Dienstag

Schon vor 2500 Jahren schickten die Chinesen seidene Drachen in den Himmel: als Machtzeichen des Kaisers, Kriegsboten oder Vogelscheuchen über Feldern.

23 Kalendarium

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August

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Kalendarium

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Mittwoch

Die jüngste Friedensnobelpreisträgerin ist Malala Yousafzai (2014 war sie erst 17 Jahre alt). Ausgezeichnet wurde sie für ihre Arbeit als Kinderrechtsaktivistin und als Verfechterin des Rechts von Mädchen auf Bildung.

11

Donnerstag

Laut mehreren Studien entwickeln Kinder, die täglich mindestens zwei Stunden lang im Freien spielen, im späteren Leben seltener Kurzsichtigkeit – selbst wenn die genetische Vorbelastung gross ist, weil beide Elternteile Brillenträger sind.


12

Freitag

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Samstag

«Es gibt kein problematisches Kind, es gibt nur problematische Eltern.» Alexander Sutherland Neill

«Weisst du, was du machen musst, wenn du frustriert bist? Einfach schwimmen, einfach schwimmen!» Dorie in «Findet Nemo»

Kalendarium

«Alle grossen Leute waren einmal Kinder, aber nur wenige erinnern sich daran.» Aus «Der Kleine Prinz» von Antoine de Saint-Exupéry

Sonntag

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August

26

Kalendarium

15

Montag

Mit zwei Jahren hat ein Kind so viele Synapsen (Informationen, von einer Zelle zur andern geleitet) wie ein Erwachsener, mit drei Jahren das Doppelte. Deshalb ist sein Gehirn auch doppelt so aktiv.

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Dienstag

«Ein Kind kann einem Erwachsenen immer drei Dinge lehren: grundlos fröhlich zu sein, immer mit irgendetwas beschäftigt zu sein und nachdrücklich das zu fordern, was es will.» Paulo Coelho


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Schweizer Gesamtbundesrat 2022

Schweizer Gesamtbundesrat 2022


Ueli Maurer (SVP) Im Bundesrat seit 2009 Eidgenössisches Finanzdepartement EFD

Simonetta Sommaruga (SP) Im Bundesrat seit 2010 Eidgenössisches Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation UVEK

Alain Berset (SP) Vizepräsident Im Bundesrat seit 2013 Eidgenössisches Departement des Innern EDI

Schweizer Gesamtbundesrat 2022

Ignazio Cassis (FDP) Bundespräsident Im Bundesrat seit 2017 Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten EDA

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Viola Amherd (Die Mitte) Im Bundesrat seit 2019 Eidgenössisches Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport VBS

Guy Parmelin (SVP) Im Bundesrat seit 2016 Eidgenössisches Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung WBF

Walter Thurnherr Bundeskanzler seit 2016

Karin Keller-Sutter (FDP) Im Bundesrat seit 2019 Eidgenössisches Justizund Polizeidepartement EJPD


Sieben Fragen an Bundesrätin Viola Amherd Gibt es prägende Erfahrungen aus Ihrer Kindheit, die auch heute noch von Bedeutung für Sie sind? Meine Sommerferien: Ich konnte jeweils die gesamten Sommerferien auf der Alp verbringen; die eine Hälfte mit meinen Eltern und die andere Hälfte mit meinen Grosseltern, Cousins und Cousinen!

Welche Rolle spielen Kinder in Ihrem persönlichen Leben? Ich liebe Kinder und hatte die Chance, das Aufwachsen meiner Nichte sehr eng begleiten zu können. Ich freue mich auch immer, wenn ich mit Kindern und Jugendlichen etwas unternehmen oder mit ihnen diskutieren kann. Gibt es spezifische Kinder und Jugendliche betreffende Anliegen, die Sie als Mitglied des Bundesrats mit Nachdruck vertreten? Sport: Kinder und Jugendliche sollen mit Freude Sport treiben können. Wir müssen alles daran setzen, dass sie gesund bleiben, psychisch und physisch …

181 Sieben Fragen an Bundesrätin Viola Amherd

An was für Kinderbücher- oder Filme erinnern Sie sich? Gelesen habe ich unter anderem die verschiedenen Bücher von «Fünf Freunde» und von der «Burg Schreckenstein». Gerne gesehen habe ich die Filme mit Pippi Langstrumpf.


Wie stehen Sie zur Frage der Kinderrechte? Sind die Interessen der Kinder in der Schweizer Politik angemessen berücksichtigt? Bereits als Nationalrätin habe ich mich für Kinderrechte und die Anliegen von Jugendlichen eingesetzt. Ich habe damals auch verschiedene Vorstösse dazu eingereicht, so z. B. verlangte ich mit einer parlamentarischen Initiative, dass eine Verfassungsgrundlage für ein Bundesgesetz über die Kinder- und Jugendförderung sowie über den Kinder- und Jugendschutz zu schaffen ist. Für mich ebenfalls wichtig war die Motion, mit der ich den Bundesrat beauftragte, das dritte Fakultativprotokoll zur UNO-Kinderrechtskonvention zu ratifizieren. Damit die Interessen der Kinder in der Schweizer Politik angemessen berücksichtigt werden, müssen wir weiter wachsam bleiben und immer wieder intervenieren, damit Kinder und Jugendliche zu ihrem Recht kommen.

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Sieben Fragen an Bundesrätin Viola Amherd

Was fällt Ihnen beim Namen Greta Thunberg ein? Eine engagierte junge Klimaaktivistin aus Schweden, die es verstanden hat, sehr viele, vor allem Jugendliche, für den Klimaschutz zu interessieren und sich öffentlich dafür einzusetzen! Was versprechen Sie sich vom Engagement der Jugend in unserem Land? Ich freue mich, dass sich Jugendliche vermehrt zu politischen Themen äussern und engagiert mitdiskutieren. Für mich ist es wichtig, dass sich alle, junge und ältere Menschen, Frauen und Männer, mit ihren Erfahrungen und Ideen einbringen. Es geht um die Zukunft unseres Landes, und die muss von allen mitgestaltet werden. Es braucht auf der einen Seite die Erfahrung der Älteren und auf der anderen Seite die Ideen und Visionen der Jüngeren, um gute, tragfähige und nachhaltige Lösungen zu finden.

Interview: Hanna Fröhlich; Foto: PD


Kapitel 1: Stichwort Familie

Von Stiefmüttern, Halbbrüdern und Sandwichkindern Sechs oder sieben Geschwister zu haben, war vor 70 Jahren noch ganz normal. Im Laufe der Zeit ist die Anzahl Kinder pro Familie aber gesunken. Gleichzeitig hat sich das Bild der traditionellen Familie gewandelt, wie die amerikanische Fernsehserie «Modern Family» mit viel Humor aufzeigt: Die neue Frau des Vaters ist plötzlich jünger als man selbst, der neue Stiefbruder jünger als die eigenen Kinder. Tönt alles sehr verwirrend — doch sogenannte Patchworkfamilien («Patchwork» heisst auf Deutsch «Flickwerk») sind im 21. Jahrhundert keine Seltenheit mehr. Auch in der Schweiz gibt es viele, wie unsere Reportage zeigt. Sie sind meist das Resultat von einer oder zwei Scheidungen. Vor allem für die Kinder kann eine solche Situation speziell sein. So sind wir der Frage nachgegangen, wie Scheidungskinder die Trennung ihrer Eltern erlebt haben. Zudem sind wir einem Mythos nachgegangen – jenem der sogenannten Sandwichkinder.


Aufwachsen mit vier Vätern

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Aufwachsen mit vier Vätern

Joan ist in eines der zahlreichen Kinder in der Schweiz, die in Patchworkfamilien aufwachsen. Meine Patchworkfamilie ist sehr gross und auch sehr verzettelt. Ich habe vier Väter, einerseits meinen leiblichen Vater, dann den Vater, der mit meiner Mutter zusammen war, als ich auf die Welt gekommen bin, meinen Grossvater und den jetzigen Freund meiner Mutter, meinen Stiefvater. Meine Eltern haben sich getrennt, bevor ich zur Welt gekommen bin. Meine Mutter war damals erst 20. Danach ist sie mit einem neuen Mann zusammengekommen. Mit ihm war sie zusammen, bis ich etwa drei Jahre alt war. Er hat gesagt, dass er immer für mich da sein möchte. Ich habe viel mit ihm unternommen. Wir sind zusammen in die Ferien gefahren, gingen klettern, haben kulturelle Anlässe besucht. Er hat mich unter anderem zu der gemacht, die ich heute bin. Auch diese Weihnacht habe ich mit ihm verbracht, seit ein paar Jahren habe ich auch zu seiner Familie ein gutes Verhältnis. Mein leiblicher Vater ist kurz darauf mit seiner jetzigen Frau zusammengekommen, mit der hat er vier Kinder. Eine lange Zeit bin ich jedes zweite Wochenende zu ihm gegangen, im Teenageralter hat sich das dann verflüchtigt. Ich habe mich dort auch nie wirklich wohlgefühlt, obwohl wir eigentlich ein gutes Verhältnis haben. Meine Mutter und ich waren zu zweit, bis ich neun war. Mit elf ist meine Schwester Lovis und danach mein Bruder Vincent auf die Welt gekommen. Ich sage nicht gerne Halbgeschwister. Ich bin mit ihnen aufgewachsen, sie sind meine grössten Schätze. Deswegen sind sie meine Geschwister. Im Ganzen habe ich also sechs Geschwister. Ich habe so viele Windeln gewechselt und zu Kindern geschaut – ich bin halt einfach die grosse Schwester. Das finde ich schön.


Aufwachsen mit vier Vätern 185

Als ich auf die Welt kam, waren meine Grosseltern 40 und 46 Jahre alt und meine jüngste Tante war 12 Jahre alt, altersmässig hat sie den gleichen Abstand zu mir wie zu meiner Mutter. Sie sind sechs Schwestern, und ich habe irgendwie zu ihnen gehört. Ich war sehr oft bei meinen Grosseltern und habe zu ihnen auch Mami und Papi gesagt, weil ja alle Geschwister meiner Mutter sie so genannt haben. Meine Mutter ist wie eine beste Freundin für mich. Wir erzählen uns alles. Es war eher meine Grossmutter, die die klassische Mutterrolle einnahm. Dann habe ich noch die Familie meines Stiefvaters, mit der machen wir auch sehr viel. Das ist unglaublich schön. Ich weiss, dass so viele Menschen für mich da wären, wenn irgendwas wäre. Natürlich ist es auch anstrengend. An Weihnachten ist man an 100 verschiedenen Orten. So viele Kontakte pflegen ist zeitintensiv. Früher gab es Momente, in denen ich mich schon manchmal alleine gefühlt und mich gefragt habe, wo ich überhaupt hinge­höre. Die Erkenntnis über meine verschiedenen Vaterfiguren habe ich erst kürzlich gehabt. Eigentlich war es immer meine Mutter, an die ich mich gehalten habe. Ich könnte mir mein Aufwachsen nicht anders vorstellen. Ich denke, es gibt da nichts Schlechteres oder Besseres. Ich finde es auch schade, wenn man als klassische Familie nur noch der Kinder wegen zusammenbleibt. Die Kinder merken doch sowieso, wenn sich die Eltern nicht mehr verstehen. Es ist doch wertvoller, dass alle glücklich sind.


Aufwachsen mit vier Vätern

Das Einzige, was ich schade finde, ist, dass meine Mutter und mein leiblicher Vater nicht viel zusammen machen. Es wäre schön, wenn auch mal alle zusammen in die Ferien gingen. Meine Geschwister von der Mutterseite haben meinen leiblichen Vater noch nie gesehen. Ich fühle mich verpflichtet, das irgendwann hinzukriegen. Vielleicht lade ich an meinem 25. Geburtstag einfach alle ein.

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Text: Hanna Fröhlich; Fotos: Joan


Wenn sich die Eltern trennen

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Was ein Paar für Pflichten hat Wenn sich ein Paar dazu entscheidet, Kinder zu haben, sind damit Rechte und Pflichten verbunden. Diese Rechte und Pflichten beziehen sich auf die Sorge, die Erziehung und die Bildung der gemeinsamen Nachkommen. Verheiratete Paare oder jene in einer eingetragenen Partnerschaft teilen sich in der Regel das Sorgerecht. Das bedeutet, dass sie die Verantwortung für ihre Kinder gemeinsam tragen und wahrnehmen. Kommt es zu einer Trennung, dann muss das Sorgerecht neu organisiert werden. Wenn beide Eltern einverstanden sind, wird das Sorgerecht geteilt, d. h., beide Elternteile kümmern sich um die Nachkommen (obwohl sie kein Paar mehr sind). In besonderen Fällen, beispielsweise falls ein Elternteil gewalttätig ist, kann das alleinige Sorgerecht auch an einen Elternteil gehen. Hinzu kommen finanzielle Abklärungen: Die E ­ ltern müssen im Falle einer Trennung klären, welche Gelder benötigt

Wenn sich die Eltern trennen

Pflegeeltern, Adoptiveltern, Eltern bestehend aus zwei Müttern oder Vätern, Alleinerziehende – Elternschaft ist vielfältig und längst nicht mehr den klassischen Rollen eines Vaters und einer Mutter zuzuordnen. In allen Fällen ist eines besonders wichtig: Kinder sind gerade in jungen Jahren auf eine Person angewiesen, der sie vertrauen können. Eine Bindungsperson zu haben – das gehört zu den Grundbedürfnissen von jungen Menschen. Doch wenn sich Eltern dazu entscheiden, getrennte Wege zu gehen, wird das Familienleben, wie man es von klein auf kennengelernt hat, auf den Kopf gestellt. Sicher hat auch dich schon einmal jemand gefragt, ob deine Eltern noch zusammen sind. Je nachdem, ob auf die Frage ein «Ja» oder ein «Nein» folgt, fallen die Reaktionen unterschiedlich aus. Es scheint, als wäre es positiv, wenn die Eltern noch zusammen, und negativ, wenn sie getrennt sind. Aber welche Folgen hat die Trennung der Eltern eigentlich und welche Gefühle verbinden ehemalige Trennungskinder damit?


werden, damit ihr Kind seinen gewohnten Lebensstandard beibehalten und die ihm zustehende Ausbildung erhalten kann. Und was ist mit den betroffenen Kindern? Kinder und Jugendliche spüren meist sehr genau, ob ihre Eltern harmonisch miteinander umgehen oder ob es oft zu Spannungen kommt. Das kann beispielsweise dazu führen, dass ein Kind an Ess- oder Schlafschwierigkeiten leidet – vor, während und/oder nach einer Trennung seiner Eltern. Auch kann eine Trennung kurzfristig zu Verlustängsten führen. Wenn nach einer Trennung aber beispielsweise Streitereien aufhören, kann sie auch positive Auswirkungen haben. Denn nicht die Familienform entscheidet über eine glückliche Kindheit, sondern deren Funktionsfähigkeit. Erwachsene erinnern sich an die Trennung ihrer Eltern:

188 Wenn sich die Eltern trennen

Hanna Dedial, 24, Kommunikationsstudentin aus Winterthur Wie alt warst du, als sich deine Eltern getrennt haben, und welche Gefühle verbindest du damit? Ich war 15 Jahre alt. Wenn ich daran zurückdenke, fühle ich Erleichterung. Ich verbinde mit der Tatsache, dass sich meine Eltern getrennt haben, keine negativen Gefühle. Schade finde ich nur, dass sie sich heute nicht wahnsinnig gut verstehen. Aber über die Trennung an sich war, glaube ich, die ganze Familie froh. Wie hältst du den Kontakt zu beiden Eltern aufrecht? Ich verstehe mich mit meinen Eltern sehr gut, und zwar am besten separat. Darum fällt es mir nicht schwer, den Kontakt zu beiden zu halten.


Konntest oder musstest du entscheiden, bei welchem Elternteil du leben möchtest? Es war mir überlassen, wo ich wohnen wollte. Ich habe mich aber entschieden, meinem Vater «nachzuziehen». Das hatte wenig mit der Trennung der Eltern zu tun, sondern mehr damit, dass meine Mutter und ich uns oft gestritten haben, als ich ein Teenie war und ihr neuer Partner in ihr Leben trat.

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Denkst du, dass dich die Trennung deiner Eltern geprägt hat? Auf jeden Fall. Ich habe am eigenen Leib erfahren, dass es Kindern nichts bringt, wenn die Eltern ihretwegen als unglückliches Paar zusammenbleiben. Ich weiss, dass man ein gutes Verhältnis zu seinem Nachwuchs haben kann, auch wenn man ihn nicht gemeinsam grosszieht – da sehe ich keinen Zusammenhang. Und dass es nie zu spät ist, um sein Glück mit der richtigen Partnerin oder dem richtigen Partner zu finden. Die Scheidung hat mich positiv geprägt.

Wenn sich die Eltern trennen

Würdest du dir wünschen, dass deine Eltern noch zusammen sind? Nein, gar nicht. Es ist schön, mit den Partnern meiner Eltern weitere Bezugspersonen in meinem Leben zu haben. Das würde ich nicht missen wollen.


Michèle Degen, 31, Social Media Managerin aus Basel Wie alt warst du, als sich deine Eltern getrennt haben, und welche Gefühle verbindest du damit? Ich war etwa 22 Jahre alt, vielleicht auch 21. Die Trennung meiner Eltern fühlte sich an, als würde eine grosse dunkelschwarze Wolke über mich ziehen. Das Konstrukt Familie, das bis dahin meine Wertvorstellung prägte, ist zerbröckelt, und Gefühle von Trauer und Einsamkeit machten sich in mir breit. Wie hältst du den Kontakt zu beiden Eltern aufrecht? Zusammen essen, in die Berge fahren oder durch die Stadt flanieren. Einmal mit Mama, einmal mit Papa. Also abwechselnd, ohne starren Fahrplan. Wichtig ist mir, dass ich nicht als «Messenger» benutzt werde und Botschaften von einem Elternteil zum anderen tragen muss.

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Wenn sich die Eltern trennen

Konntest oder musstest du entscheiden, bei welchem Elternteil du leben möchtest? Zum Glück lebte ich schon nicht mehr zu Hause. Ich hätte aber wählen können, wo ich wohnen will. Würdest du dir wünschen, dass deine Eltern noch zusammen sind? Nicht mehr. Ganz am Anfang war das anders: Ich wünschte mir die Familie zurück, die ich kannte. Meinen sicheren Hafen, in den ich ein- und ausfahren konnte. Aber das ist meine Selbstschutz-Sicht. Für die Eltern war es gut, separate Wege zu gehen. Warum an etwas festhalten, das nicht mehr ist? Das Wichtigste, was ich lernte: Ich bin nicht für die Gefühle anderer zuständig.


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Text: Nuria Rogger; Fotos: Hanna Dedial, Michèle Degen; Illustration: Nina Fröhlich

Wenn sich die Eltern trennen

Denkst du, dass dich die Trennung deiner Eltern geprägt hat? Ich bin misstrauischer geworden, wenn es um Liebe geht. Und auch bewusster: Nicht alles ist für immer. Gefühle können sich wandeln – das ist Teil des Lebens.


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