Nahe am Puls
Impressum
Alle Angaben in diesem Buch wurden vom Autor nach bestem Wissen und Gewissen erstellt und von ihm und dem Verlag mit Sorgfalt geprüft. Inhaltliche Fehler sind den noch nicht auszuschliessen. Daher erfolgen alle Angaben ohne Gewähr. Weder Autor noch Verlag übernehmen Verantwortung für etwaige Unstimmigkeiten. Alle Rechte vorbehalten, einschliesslich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe.
© 2022 Weber Verlag AG, 3645 Thun/Gwatt
Texte: Franz Eigenmann
Weber Verlag AG
Gestaltung Cover: Sonja Berger Satz: Andrea Dätwyler Lektorat: Madeleine Hadorn Korrektorat: Laura Spielmann
Der Weber Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.
ISBN 978-3-03818-409-6 www.weberverlag.ch
Inhaltsverzeichnis
März
März
Oktober
März
März
Februar
Dezember
Oktober
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89
89
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Vorwort
Diese Erinnerungen habe ich auf Anregung meiner Familie niedergeschrieben. Antonietta und die Kinder wünschen sich, dass die Geschichten und Geschichtlein, die ich zu erzählen habe, erhalten bleiben. Ihnen sind sie in erster Linie gewidmet.
Positive Reaktionen auf Manuskriptfragmente bewogen mich, die Frage einer Publikation zu prüfen, das Resultat liegt vor. Ich bitte um nachsichtige Beurteilung.
Es ist mir bewusst, dass ich – allein schon, wenn es um meine berufliche Laufbahn geht – enorm vielen Lebenden und Verstorbenen – und nicht zuletzt meinen Patientinnen und Pa tienten zu danken habe. Eine Auflistung wäre langweilig und unfair gegenüber denjenigen, die auch eine Erwähnung ver dient hätten. So mögen sich in meiner Danksagung alle diejenigen eingeschlossen fühlen, die mich in irgendeiner Weise unterstützt haben.
Die mit Namen erwähnten Personen sind in angenehmer Erinnerung und so realistisch wie möglich dargestellt. Die anderen und vor allem die Patienten und ihre Schicksale sind ein Konstrukt aus zahlreichen Elementen, sodass eine allfällige Überschneidung mit tatsächlich existierenden Personen als rein zufällig zu betrachten ist.
Der besseren Lesbarkeit halber habe ich manchmal nur die männliche Form verwendet. Gerade weil Frauen selbstver ständlich alles Mögliche machen oder sind, muss ich das nicht immer wieder betonen.
Es ist mir ein ganz besonderes Anliegen, bezüglich der Qua lität der Kliniken, in denen ich gearbeitet habe, speziell des Kantonsspitals in Baden (KSB), keine Missverständnisse auf-
kommen zu lassen. Wenn ich über etwas berichte, das aus meiner Sicht nicht ideal war, heisst dies keineswegs, dass etwas Grundsätzliches mit der Institution oder ihren Mitarbeiterin nen und Mitarbeitern nicht in Ordnung ist. Das wäre ein ganz falscher Schluss. Gerade das KSB, mit seiner idealen Grösse (nicht zu gross, nicht zu klein), leistet mit einem hervor ragenden Preis-Leistungs-Verhältnis sehr viel für die Bevöl kerung. Die Grösse ermöglicht noch eine auf gegenseitigem Vertrauen beruhende intensive Interaktion zwischen den einzelnen Fachbereichen.
Über 20 Jahre durfte ich als Chefarzt der Gastroenterologie mit grosser professioneller Autonomie tätig sein und bin dafür sehr dankbar. Aber individuelle Denkfehler sind Realität, auch bei mir. Die in bester Absicht handelnden Mitarbeiter (ich inbegriffen) bringen die kollektiven Denkfehler ihrer Fach disziplinen mit. Daher ist gerade meine Kritik zum Beispiel an gewissen Aspekten der medizinischen Onkologie (medika mentöse Tumorbehandlung) nicht personenspezifisch oder spezifisch für eine bestimmte Institution, sondern eine Kritik der Denkweise der gesamten Fachrichtung. Die wirklichen Exzesse sind eher in Privatkliniken oder allenfalls Universitätskliniken zu beobachten als in den öffentlichen Spitälern.
Die abnehmende Dichte der einzelnen Episoden in der Zeitachse hängt damit zusammen, dass, je länger man im Metier ist, umso seltener ein vollkommen neues oder überraschendes Erlebnis eintritt und Wiederholungen im Text nicht gerade für Spannung sorgen.
Meine Hoffnung ist es, mit meinem Opusculum eine unterhalt same und vielleicht auch zum Nachdenken anregende Lektüre zu bieten. Im besten Fall kann ich zeigen, wie Akutmedizin in der Realität meist keine reine Schwarz-Weiss-Angelegenheit, sondern eine Abfolge von Entscheidungen ist, bei denen man
oft sogar im Nachhinein nur beurteilen kann, ob sie vertret bar, nicht aber, ob sie richtig waren.
Baden, im Oktober 2022
Prolog
1958
Im Alter von vier Jahren geschah Entscheidendes. Ich hatte er kannt, wie Erwachsene Schriftdokumenten viele Informationen entnahmen, die mir fehlten. Zum Beispiel das Angebot an Spei sen im Restaurant und deren Preis. Ich wollte nun unbedingt lesen lernen und brachte es mir weitgehend selber bei, mithilfe einer ausrangierten Schreibmaschine. Von diesem Moment war ich, nach Aussagen meiner Mutter, viel ruhiger geworden und habe mich ausgiebig mit Lektüre, ob kindgerecht oder nicht, beschäftigt.
März 1970
Ich bin wieder einmal mit meinem Vater unterwegs. Er war als Bauernsohn ein kompromisslos für seinen Beruf engagierter Tierarzt, der meist von Hof zu Hof fuhr und sich in erster Linie um Kühe kümmerte. Diese waren damals wertvoll, in vielen Fällen wurde gar der überwiegende Teil des bäuerlichen Einkommens mit ihnen erwirtschaftet. Es ist ein Notfall gemeldet auf einem circa zehn Kilometer entfernten Hof. Trotzdem fährt mein Vater auffallend gemächlich. Ich mache ihn auf die Diskrepanz aufmerksam und erhalte zur Antwort, es sei bei manchen Notfällen ganz gut, erst nach einer gewissen Zeit auf dem Hof zu erscheinen. Bis dann habe sich nämlich ent schieden, ob der Fall hoffnungslos sei oder ob eine Chance bestünde, dem Bauern mit vertretbarem Aufwand ein wirt schaftlich nutzbares Tier zu erhalten. Ich habe etwas Zeit gebraucht, um diese Erkenntnis nachzuvollziehen.
September 1970
Bei der Kastration eines Katers assistiere ich meinem Vater. Es fällt mir auf, wie er die Hoden wegreisst und nicht etwa weg-
schneidet. Dies, obschon er im Umgang mit Tieren zwar unsentimental, aber jeder Brutalität abgeneigt ist. Ich frage ihn, warum er so vorgehe. Er meint, nach dem Wegreissen bestünde so gut wie keine Blutungsgefahr, da die Adern sich einrollen, während das Abschneiden eine aufwendige Blutstillung nötig mache. Diese Beobachtung macht sich inzwischen auch mein Fachgebiet zu nutze, indem wir viele Dickdarmpolypen mit der kalten Schlinge bei minimalem Blutungsrisiko abtragen respektive wegreissen.
Februar 1973
Ich teile meinen Eltern mit, dass ich mich für das Medizin studium entschieden habe. Dieser Beruf scheint mir unter Be rücksichtigung vorhandener respektive nicht vorhandener Talente, meiner Neigungen und der beruflichen Aussichten die beste Wahl. Ein wenig hoffe ich auch, mir im Krankheits fall besser selbst helfen zu können. Den Vorschlag, römischkatholischer Priester zu werden, habe ich schon lange gänzlich desillusioniert weit von mir gewiesen. In Frage kommen für mich noch Jurisprudenz und Ingenieurwissenschaften. Vom ersterem hält mich das gänzliche Fehlen eines praktischen Aspektes und die politische Unsicherheit ab. Wir befinden uns in der 68er Zeit und ich halte es für möglich, wenn auch nicht wünschenswert, dass die Gesellschaftsstruktur völlig umgekrempelt wird. In einem solchen Fall wäre das juristi sche Wissen auf einen Schlag obsolet, während kompetente Ärzte immer gebraucht werden. Beim Ingenieurberuf scheint mir die berufliche Selbständigkeit mit eher zu grossen Hürden und Risiken verbunden. Auch ist der zwischenmenschliche Kontakt je nach Tätigkeitsfeld eingeschränkt.
Mein Vater meint, Medizin sei in Ordnung, ich würde wahrscheinlich das Ziel erreichen, aber das gemütliche Leben sei mit diesem Entscheid beendet. Es war ihm nicht entgangen, welch bequemes Leben ich in den höheren Klassen der Kantonsschule Solothurn damals führte. Diese Schule ist in dieser Zeit so nahe an der Feuerzangenbowle-Idylle, wie die Realität überhaupt sein kann.
Der Stein kommt ins Rollen
Oktober 1973
Der Hörsaal in Basel mit 240 Studenten kommt mir riesig vor. Prof. Hans-Ulrich Zollinger, der äusserst autoritäre Ordinarius für Pathologie, macht uns als Erstes klar, dass nur die Hälfte von uns die erste Vorprüfung in einem Jahr bestehen wird. In der Pause begegnet mir Rolf. Er hatte im Herbst 1972 mit sechs weiteren Absolventen der Kantonsschule Solothurn in Basel das Medizinstudium aufgenommen. Davon habe genau einer mit der absolut minimalen Punktzahl die erste Vor prüfung bestanden, die anderen seien alle durchgefallen, meist zweimal. Rolf hat dann später nach zirka neun Studien jahren das Staatsexamen bestanden. Ich bin also gewarnt und arbeite von diesem Tag an mit grosser Konsequenz auf mein Ziel hin, bis zum Tag meines Rücktritts als Chefarzt stets nahe am Limit meiner nachhaltigen Belastbarkeit.
Untergebracht bin ich in unmittelbarer Nähe der Universität im Hause einer etwas schrulligen Tante väterlicherseits, und zwar in einer der ehemaligen Dienstbotenkammern. Nachts ist das Knacken im Gebälk und das Trippeln der Mäuse zu hören. Bezüglich Komfort herrscht etwa der Stand von 1918 und – da meine Tante sehr auf «Gesundheit» achtet – muss ich jeden Morgen ein Glas aufgewärmten Orangensaft trinken. Da sie gleichzeitig sehr sparsam ist, kauft sie grosse Flaschen, die bis zum letzten Tropfen aufgebraucht werden müssen. Der Inhalt beginnt mit der Zeit zu gären und schmeckt besonders im aufgewärmten Zustand schauerlich.
November 1973
Das Chemiepraktikum ist recht anspruchsvoll. Mit einer doch ganz ordentlichen Vorbildung in Naturwissenschaften und Mathematik und dem entsprechenden Fleiss kommen wir drei Klassenkameraden aus Solothurn einigermassen zurecht. Schon in der ersten Stunde allerdings bemerke ich einen Mit studenten am Labortisch gegenüber, der offensichtlich über fordert ist. Ich denke mir erfreut, dass ich ihn bei der Prüfung auf jeden Fall überflügeln werde. Vier Wochen später ist er nicht mehr zu sehen. Er hat sich aus Verzweiflung umgebracht, in dem er den Gashahn öffnete. Das Stadtgas ist in jener Zeit durch seinen Gehalt an Kohlenmonoxid hochtoxisch. Ich habe heute noch manchmal ein schlechtes Gewissen, weil ich ihn damals nicht unterstützte.
Das Fach medizinische Psychologie ist Freifach, das heisst, es wird nicht geprüft. Die Masse der präsentierten Informationen scheint mir reichlich banal. Die einzige für mich über raschende neue Erkenntnis, vom Dozenten x-mal wiederholt: «Der Patient hat Angst vor Ihnen.» Dies trifft leider oft zu. Die Angst lässt sich mildern, aber nicht vollständig eliminieren.
Juli 1974
Am Tag nach den Prüfungen hängen jeweils die Resultate aus. Eine gute Note nach der anderen. Ich bin mit mir und der Welt zufrieden und nun überzeugt, das Studium erfolgreich absolvieren zu können.
November 1974
Im Rahmen des Anatomiekurses sind wir im Seziersaal. Es riecht nach Formalin. Unter feuchten Leintüchern liegt die Leiche des Mannes, dessen Körper wir im Verlauf des nächsten halben Jahres sezieren dürfen, um eine praktische Vorstellung von der menschlichen Anatomie zu bekommen. Wie Körper innen aussehen, habe ich im Schlachthaus häufig gesehen. Als
Erstes soll ich am rechten Oberarm die Haut entfernen. Ich umschneide ein Areal, fasse eine Ecke mit der Pinzette und ziehe kräftig. Tadelloses Resultat. Ich komme zügig voran, bis der aufsichthabende Assistent mein Wirken beobachtet und mich rüffelt. Den Rest erledige ich, wie er es sich vorstellt, im Klein-Klein-Verfahren. Bezüglich Resultat ist kein Unter schied zu sehen.
August 1975
Die zweite Vorprüfung, beinhaltend eine Masse an eingetrich tertem Sachwissen, ist geschafft, problemlos dank grossem Fleiss und gutem Gedächtnis. Es ist mir mehr oder weniger bewusst, dass ich beträchtliche Teile dieses Wissens wohl nie mehr brauchen werde – ich weiss allerdings nicht, welche. Ich bin nun ein stolzer cand. med., ein Kandidat der Medizin.
Als nächstes ist ein Pflegepraktikum zu absolvieren. Ich finde mich auf einer Station im Bürgerspital Solothurn wieder. Als Pflegepraktikant bin ich hierarchisch auf der untersten Stufe, was gut ist, da ich ja von Tuten und Blasen keine Ahnung habe. Ich lerne regelmässig Kaffee zu trinken, das Zigarettenrauchen lasse ich zum Glück bleiben. Die Krankenschwestern sind im Ganzen sehr nett zu mir und nachsichtig. Einigen von ihnen werde ich später als Unterassistent oder als Assistenz arzt wieder begegnen. Wir begrüssen uns stets herzlich. Ich beobachte das Geschehen aufmerksam. In beruflicher Hinsicht fällt mir auf, wie viele Stunden der Stationsarzt im Büro verbringt und im Zweifingersystem auf der Schreibmaschine herumhackt. Ich beschliesse, die verbleibenden Semesterferien unter anderem für das Erlernen des Zehnfingersystems zu nutzen, was sich im weiteren Verlauf meiner Ausbildung als ausgesprochen nützlich erweist.
Mir begegnen die ersten Patientinnen und Patienten. Wiederholt erschrecke ich, wie wenig offenbar getan werden kann, um
klar sich anbahnende Desaster abzuwenden. Da ist zum Bei spiel ein Bäuerlein aus dem Bucheggberg, abgemagert bis auf die Knochen mit Rückenschmerzen. Die Diagnose eines Mor bus Kahler (Plasmocytom, ein die Knochen zerfressender Tumor) ist gestellt. Beim Waschen fällt mir jeden Tag auf, wie die Bewegungen und auch die Sinneswahrnehmungen in seinen Beinen abnehmen, bis schlussendlich eine komplette Quer schnittlähmung vorliegt. Wie ich höre, erliegt er kurz nachdem mein Praktikum zu Ende ist, einer Lungenentzündung, was einer Erlösung gleichkommt. Eine andere eher betagte Patientin setzt tagelang Blut ab. Immer wieder wird Blut trans fundiert. Zuletzt setzt sie frisches rotes Blut ab. Ich werde aufgefordert, mit dem Assistenzarzt zur Autopsie zu gehen. Man zeigt uns das 2 cm grosse Zwölffingerdarmgeschwür, von dem die Blutung ausgegangen war.
Mittwochs um 9 Uhr ist Chefvisite. Die Patientinnen und Patienten müssen im Spitalnachthemd kerzengerade im Bett liegen, Leintuch und Decke auf der Seite zur Eingangstür glattgezogen. Chefarzt, Oberarzt und Stationsarzt gehen zu sammen mit der Stationsleiterin von Bett zu Bett. Ich hintendrein. Der Stationsarzt stellt die Patienten kurz vor und beantwortet Fragen. Ich bin beeindruckt, was der Chefarzt alles zu erzählen weiss und an Untersuchungen und Behandlungen anordnet. Alles wird von Stationsschwester und Assistenzarzt fein säuberlich notiert. Etwas verwirrt bin ich, als der Chefarzt eine Woche später und – ich bin inzwischen sehr aufmerksam – auch zwei Wochen später bei den gleichen Patienten ziem lich den gleichen Kommentar abgibt und ziemlich die gleichen Verordnungen macht. Er ist sich offensichtlich nicht bewusst, diese Patienten schon einmal gesehen und Anweisungen ge geben zu haben. In der Folge realisiere ich, wie nach jeder Chefvisite das Trio von Oberarzt, Assistenzarzt und Stations leitung sich im Stationsbüro hinsetzt und die meisten Verordnungen wieder rückgängig macht. Der kurz vor der Pensio -
nierung stehende Mann muss eine Kurzzeitgedächtnisstörung haben, wird aber offensichtlich von allen gedeckt.
Januar 1976
In der Pharmakologievorlesung ist PD Dr. Kai Brune unser Dozent. Er stellt mir eine Frage. Ich gebe Antwort. Er bemerkt: «Sie haben wohl eine schlimme Nacht hinter sich.» Grosses Gelächter. Nichts könnte falscher sein als das. Ich habe und hatte eine grosse Abneigung gegen Festivitäten, die andauern, wenn ich eigentlich bettreif bin. Und Alkohol in grösseren Mengen habe ich noch nie gut vertragen.
April 1976
Pathologievorlesung bei Prof. Zollinger. Er stellt mir eine Frage. Ich antworte grundsätzlich korrekt, aber sehr vorsich tig, um ja nicht negativ aufzufallen. Der Kommentar lautet: «Seien Sie nicht so ängstlich, Herr Kollege, so finden Sie nie eine Frau.». Grosses Gelächter im Saal.
September 1976
Nun habe ich die dritte Vorprüfung bestanden und nutze die Semesterferien, um etwas Erfahrungen zu sammeln. Der Zu fall verschlägt mich in die Medizinische Hochschule Hannover, damals eine der modernsten Hochschulen Deutschlands. Ich sehe zahlreiche Patientinnen und Patienten, darunter solche mit seltenen Krankheitsbildern, die ich später nie mehr sehen werde, zum Beispiel eine Frau mit einem Insulinom, einem insulinproduzierenden Tumor. Sie muss stets ein Glas mit Puderzucker in der Nähe haben, den sie bei drohender Unterzuckerung mit etwas Wasser zu sich nimmt, da sonst ein lebensbedrohender Zustand eintreten würde. Obschon einige Assistenz- und Oberärzte nett zu mir sind, ist der ag gressive Umgangston unter den Ärzten für mich unangenehm. Man gönnt einander kaum etwas und der Hauptgedanke bei
jedem Patientenkontakt ist, was man anstellen könnte, um eine Publikation zu generieren, zwecks Karriereförderung. «Wer schreibt, bleibt.» Viele dieser Assistenzärzte sind später tatsächlich Ordinarien geworden. Die Chefvisite entspricht etwa meinen Vorstellungen vom preussischen Offizierskasino. Erst später ist mir aufgegangen, dass ein 60-jähriger deutscher Chefarzt von 1976 sein Staatsexamen zu Beginn des Zweiten Weltkrieges absolviert haben musste und somit höchstwahrscheinlich einige Jahre als Sanitätsoffizier der Wehrmacht in Europa unterwegs war.
November 1976
Im Rahmen des praktischen Kurses in Innerer Medizin lerne ich Prof. Hans Bürgi in Solothurn kennen. Er beeindruckt mich sehr mit seiner nüchternen sachlichen wissenschaftsba sierten Argumentation. Ich habe ihm viel zu verdanken, ins besondere habe ich bei ihm dissertiert und als Unterassistent und Assistent enorm viel gelernt. Er hat mich auch für die Ausbildung zum Gastroenterologen nachdrücklich empfoh len, was für mich entscheidend war. Einer seiner Grundsätze lautet: «Wenn keine nachweislich wirksame Behandlungsmöglichkeit existiert, ist meistens der Verzicht auf eine Behandlung die beste Entscheidung.» Dies ist ein radikal anderer Ansatz als das noch in den Lehrbüchern der Sechzigerjahre gängige Prinzip «keine Krankheit ohne Behandlung». Im Grunde beruht die Homöopathie ebenfalls auf einem, allerdings nicht expliziten, Therapieverzicht.
Dezember 1976
In der chirurgischen Vorlesung werden regelmässig auch schwerverletzte Patienten demonstriert. Ziemlich schlimm finde ich den Fall des frisch eingelieferten Arbeiters, der eine Hochspannungsleitung berührt hat. Seine rechte Schulter und sein rechter Oberarm sehen wie gekocht aus. Er hat den Unfall, wie ich höre, nicht überlebt.
März 1977
Der Chirurgiekurs führt mich in den Operationssaal des Kantonsspitals Basel. Es ist Fasnacht und das heisst, es ist sehr wenig Personal vorhanden. Es stehen zwei Nierentransplantationen an. Ich werde angefragt, ob ich bei der Organentnahme und der anschliessenden Transplantation assistieren will. Ich bin begeistert und als mir der Operateur, der spätere Chefarzt PD Dr. Felix Harder, am Schluss noch die Hand drückt, auch sehr gerührt. Es ist recht eindrücklich zu beobachten, wie bei der hirntoten Organspenderin nach Ab stellen der künstlichen Beatmung ohne jede weitere Reaktion die Herztätigkeit erlischt und nach dem Hirntod nun also auch der Herztod eintritt.
November 1977
Es wird höchste Zeit, sich um eine Stelle als Assistenzarzt nach dem Staatsexamen kümmern. Da ich meinen manuellen Fähigkeiten nicht besonders traue, bemühe ich mich um eine Stelle in der Inneren Medizin. Im Gegensatz zur Situation 1973 sind Ausbildungsstellen sehr knapp geworden. Dies ist einerseits auf die Zunahme der Staatsexamensabgänger im Rahmen der Expansion von Mittelschulen und Universitäten, andererseits auf die Rezession als Folge der Erdölkrise 1973 zurückzuführen. Im Kanton Solothurn wird die Rezession verstärkt durch den nach Einführung der Quarzuhr erfolgten Zusammenbruch der auf billige mechanische Uhren spezialisierten Uhrenindustrie. Überall, wo ich anfrage, werden ein bis zwei Jahre Erfahrung gefordert. Meine Angst, leer auszu gehen, ist beträchtlich. Es bietet sich aber doch eine Chance, ich darf mich in der Höhenklinik Allerheiligenberg bei Dr. Hanswerner Iff vorstellen und fahre mit einem Stellenangebot glücklich in den Jurasüdfussnebel zurück.
Ins kalte Wasser geschmissen
Mai 1978
Als cand. med. ohne praktische Erfahrung finde ich mich als Stellvertreter in der Praxis des äusserst kompetenten und freundlichen Dr. Reto Scartazzini in Gerlafingen. Er muss ins Militär, die Stellvertreterin hat das Bein gebrochen, und ich kann die Anfrage kaum ablehnen. Ich habe ziemliche Angst davor, zu versagen. Zum Glück ist Frau Dr. Scartazzini Ärztin und kann bei Problemen befragt werden, ausserdem habe ich mir zusichern lassen, dass ich diverse Spitalärzte an rufen darf, ohne mich wegen naiver Fragen schämen zu müssen. Auch sind die anderen Ärzte im Dorf anwesend. So komme ich auf etwa 40 Patientenkontakte pro Tag, rund die Hälfte des normalen Pensums des Praxisinhabers.
Schon bei der Einführung komme ich ins Staunen. Es gibt zwei Patienten mit fortgeschrittenem Tumorleiden, denen ich dreimal pro Woche mehrere Gramm Vitamin C intravenös applizieren soll. Ich wende ein, die Wirkungslosigkeit die ser Therapie sei doch durch die kürzlich erschienene Studie nun endgültig bewiesen. Ich werde eher dezidiert angewiesen, die Behandlung nun einfach so durchzuführen. Da Vitamin C harmlos ist, verzichte ich auf weitere Einwände. Die Patienten kommen regelmässig und sind sehr zufrieden. Ich mache mir Gedanken über Sinn und Unsinn von Pseudothe rapien. Prof. Jean Claude Reubi in Bern soll stets gesagt haben: «Faites les gestes nécessaires.» Viele Jahre später erscheint im New England Journal of Medicine eine sehr solide Studie, die zeigt, wie Patienten und Angehörige auch im Nachhinein Ärzte bevorzugen, die Prognose und Behandlungsmöglichkeiten überoptimistisch, also unehrlich, dargestellt haben. Wie die
Römer schon wussten, «mundus decipi vult ergo decipiatur» (Die Welt will getäuscht werden, also wird sie getäuscht). In der Medizin und ihrem Umfeld lebt ein beträchtlicher Teil der Akteure bewusst oder unbewusst sehr gut von der Täuschung. Ein Mann stürzt ins Sprechzimmer. Er ist mager und blass und ruft mir zu: «Herr Doktor, ich will nur eines von Ihnen: Krankschreiben und Röntgen.» Es handelt sich um einen der damals nicht so seltenen Magengeschwürpatienten, der sogenannten «Magenkrüppel», die wegen der praktisch inexis tenten Wirkung damaliger Medikamente mehrfach operiert worden waren. Diese Menschen können sich nur mit Mühe ernähren, sind dementsprechend leistungsunfähig und oft invalidisiert.
Ein Mädchen klagt über Schmerzen im rechten Knie, sie ver langt ein Turndispens. Ich denke, sie habe keine Lust sich anzustrengen, und untersuche sie in der Erwartung, nichts Auffälliges zu finden. Aber weit gefehlt. Das Schienbein zeigt am oberen Ende eine flache, aber eindeutige Vorwölbung, die Haut fühlt sich in diesem Bereich überwärmt an. Die Qualität der sogleich angefertigten Röntgenbilder ist zwar miserabel, aber sie zeigen doch eindeutig einen Knochentumor. Auf die von der medizinischen Praxisassistentin (MPA) angeregte Wiederholung der Bilder verzichte ich. Stattdessen wende ich viel Zeit auf, die Eltern des Mädchens von der Notwendigkeit einer dringlichen Spitalbehandlung zu überzeugen.
Ein Mitarbeiter der nahegelegenen Grossmetzgerei kommt not fallmässig mit hohem Fieber. Eine Schnittwunde am Finger ist offensichtlich infiziert, der rote Streifen am Arm und die schmerzhaften Lymphknoten in der Achselhöhle sind innert Stunden entstanden. Wir haben gelernt: Streptokokkeninfekte sprechen oft gut auf Antibiotika an, der Zeitfaktor ist wichtig. Da die Praxis selbstdispensierend ist, kann der Patient un-
verzüglich die erste Medikamentendosis vor meinen Augen schlucken. Bei der Kontrolle am nächsten Morgen geht es ihm schon viel besser. Ich bin hell begeistert von meinem Erfolg.
Hausbesuche sind selbstverständlich. Die MPA schicken mich notfallmässig zu einem bettlägerigen älteren Herrn, dem es sehr schlecht gehe. Er ist bläulich verfärbt, atmet nicht sicht bar und ich spüre auch keinen Puls. Ich erkläre den Angehörigen, er werde nun wohl sterben, was für mich in Ordnung sei. Die Angehörigen finden das aber gar nicht in Ordnung. Sie wollen auch nicht, dass ich die Ambulanz bestelle. Im Spital habe man den Vater schon letztes Mal sterben lassen wollen. Ich müsse selbst etwas tun. Ich öffne den Arztkoffer und finde eine Ampulle Adrenalin, die ich tel quel intravenös injiziere. Nach 30 Sekunden spüre ich einen Puls, er beginnt zu atmen und öffnet nach einer gewissen Zeit die Augen. Ich muss zu rück in die Praxis. Am Abend sieht er noch ziemlich zerzaust aus, ist aber sonst wieder etwa der Alte.
Die junge Primarlehrerin kommt zur Wundversorgung. Sie hat sich mit dem Teppichmesser in den Handrücken geschnitten. Die Prüfung der Nerven- und Sehnenfunktion fällt normal aus. Aber zum Glück fällt mir bei der Wundrevision auf, wie zwei Strecksehnen bis auf einen dünnen Gewebsfaden durch schnitten sind. Ich breche ab, verbinde die Wunde und schicke sie ins Spital.
Ein älterer Herr erscheint. Er zeigt mir eine grosse Hydrozele (Wasserbruch, Flüssigkeitsansammlung um den Hoden herum) des Hodens, die ich unschwer als solche erkenne. Ich erkläre, es sei eine Operation nötig, ich würde ihn im Spital anmelden. Er ist gar nicht einverstanden und meint, der Doktor würde jeweils das Wasser herausziehen. Tatsächlich ist dies in der Krankenakte so notiert. Ich denke mir, das könne ja nicht so schwierig oder gefährlich sein. Nach gründlicher Desinfek-
tion steche ich mit einer Injektionsnadel in den flüssigkeits gefüllten Sack und entleere ihn. Der Patient geht sehr zufrie den und vorübergehend erleichtert nach Hause, die MPA sind beeindruckt.
Die 50-jährige Frau kommt mit Bauchschmerzen. Sie zeigt mir ihren eingeklemmten Nabelbruch, einen faustgrossen schmerzhaften Knollen. Auch ihr schlage ich die Spitaleinweisung zur Operation vor. Sie protestiert gegen diese Absicht und behauptet, der (richtige) Doktor bringe das jeweils wieder in Ordnung. Mit sanftem konzentrischem Druck gelingt es mir innerhalb einer Viertelstunde tatsächlich nach und nach, den Inhalt des Bruchsackes zu verkleinern, worauf der eingeklemmte Darm in die Bauchhöhle zurückrutscht. Von Opera tion will sie nun erst recht nichts mehr wissen.
Eine betagte Witwe kommt schwer atmend. Die Herzfrequenz ist viel zu schnell und unregelmässig. Über den Lungen höre ich Blasengeräusche als Folge des Rückstaus. Mit Digitalis präparaten und harntreibenden Mitteln erziele ich einen prächtigen Erfolg. Drei Tage später geht es ihr viel besser. Leider muss ich sie eine Woche später mit einem schweren Hirnschlag, an dem sie bald darauf verstirbt, hospitalisieren.
Samstagnachmittag. Die MPA sind längst weg. Die Hornusser stehen vor der Praxistür, einer blutet kräftig aus einer Platzwunde an der Stirn, an der ihn die Schindel getroffen hat. Sonst geht es ihm gut. Es ist irgendwie Ehrensache, diese Wundversorgung zu übernehmen. Von den Begleitern wähle ich für Handreichungen denjenigen aus, der mir noch am nüchternsten erscheint. Für den Patienten ist es Ehrensache, die Wundversorgung ohne Lokalanästhesie über sich ergehen lassen. Eine Starrkrampfimpfung wird nicht vergessen. Bei der Kontrolle am Mittwoch freue ich mich über die tadellose Wundheilung.
Juli 1978
Bei Prof. Bürgi soll ich als Unterassistent eine Bettenstation führen, bin hoffnungslos überfordert, darf das aber möglichst nicht zeigen. Ich weiss recht genau, diese Bewährungsprobe sichert mir im Erfolgsfall eine der hochbegehrten Assistenten stellen. Mein Oberarzt Dr. Jürg Frank und der Assistent auf der benachbarten Station unterstützen mich, wo sie können. Der aus Österreich stammende Assistent ist karriereorientiert. Leider hat er sich einige Jahre später während eines Amerikaaufenthaltes suizidiert, scheinbar, weil seine Projekte nicht nach Wunsch liefen. Dieses Erlebnis hat wesentlich dazu bei getragen, dass ich mich später stets dagegen gesträubt habe, mich irgendwo im fernen Ausland einige Jahre mit experimenteller Forschung zwecks Karriereförderung zu beschäf tigen.
Am Montag übernehme ich die Station, auch wenn eigentlich Monatsbeginn erst am Dienstag ist. Um 9 Uhr ist Chefvisite und obschon ich bereits am Sonntag die Krankengeschichten durchgesehen habe, bin ich nicht gut vorbereitet. Der dritte Patient hat eine Diskushernie und riecht nach Zigarettenrauch, wobei eigentlich absolute Bettruhe verordnet ist. Der Chef schickt ihn kurzerhand nach Hause wegen Nichtbefolgen der Anweisungen. Ich staune über diese Radikalität.
Ein paar Betten weiter erleidet ein Patient vor unseren Augen einen typischen epileptischen Anfall im Rahmen des Alkohol entzugs. Am Abend meldet er Schmerzen im Beckenbereich und will nicht aufstehen. Die am folgenden Tag durchgeführte Röntgenuntersuchung zeigt eine beidseitige zentrale Hüftgelenksluxation. Bei beiden Hüftgelenken hat die unkontrol lierte, durch den Anfall verursachte Muskelkontraktion den Hüftkopf durch die Gelenkpfanne gedrückt. Der Mann hat seine verbleibenden Lebensjahre im Rollstuhl verbracht.
Ein mir wegen seiner Lektüre, nämlich «Der Schweizer Sol dat», in Erinnerung gebliebener älterer Herr leidet an Speise röhrenkrebs, genauer gesagt an einem Rückfall nach Opera tion. Er kann nicht mehr essen. Ich starte eine intravenöse Ernährung, bis der Chef auf der Visite alles stoppt, da es sinn los und teuer sei. Ich verstehe das im Moment nicht recht, heute weiss ich – es war ganz richtig.
Oberarzt Dr. Gianpiero Lupi betreut meine Bemühungen, Venenkatheter zu legen und Ähnliches. Im Gegensatz zu mir ist er extrem extravertiert. Er lobt jeden noch so ungeschick ten Versuch: «Saubere Punctio, Herr Kollege». Ich freue mich extrem, bis ich erkenne, dass er das immer sagt. Persönlich bin ich als Instruktor in späteren Jahren mit dem Lob etwas zurückhaltender, da ich nur glaubwürdig bin, wenn ich von meinen Äusserungen wirklich überzeugt bin.
Nach sechs Wochen übernimmt Dr. Christoph Urech glück licherweise die Abteilung. Ich ziehe mich auf die normale Tätigkeit eines Unterassistenten zurück. Wir betreuen einen Patienten, bei dem ich die Diagnose eines Pseudohypoparathyreoidismus stelle. Meine Überzeugung wird durch die Aussage der Mutter bestärkt, ihr Sohn sei vor Jahrzehnten in Zürich als «interessanter Fall» untersucht worden. Dr. Urech lässt mich komplizierte Rechnungen bezüglich des Calciumstoffwechsels anstellen und kommt zum Schluss, meine Diagnose treffe nicht zu. Ich habe das in der Krankenakte so vermerkt, aber auch festgehalten, ich sei weiter von der Rich tigkeit überzeugt. Beim nächsten Spitalaufenthalt des Patienten erregt dieser Eintrag eine gewisse Aufmerksamkeit. Die aussergewöhnliche Diagnose wird bestätigt.
Dezember 1978
Als Unterassistent im Spital Laufen auf der Chirurgie. Die Lernkurve ist notgedrungen steil. Zwei Assistenten und ein
Unterassistent sind vorhanden. Damit die Assistenten über haupt Ferien beziehen können, muss der Unterassistent nach vier Wochen Einführung Dienst leisten, nämlich 3 x 24 Stun den pro Woche. Ich bin stolz und maximal gestresst. Ebenfalls gestresst ist der Chef. Der bedauernswerte Mann muss 335 Tage im Jahr ganz allein die Versorgung rund um die Uhr sicherstellen. Er lässt uns das auch spüren, indem wir Mit arbeiterinnen und Mitarbeiter, obschon wir uns extrem anstrengen, immer wieder zusammengestaucht werden.
Eines Abends, so um 23 Uhr, bringt die Ambulanz zwei Ver letzte. Der eine hat üble Wunden im Bereiche des Mundes und eine Prellung des Brustkorbes, wenn nicht gar einen Bruch des Brustbeins, der andere einen beidseitigen Vorderarmbruch. Es stellt sich heraus, dass es sich um einen Taxifahrer und seinen Fahrgast handelt. Der Fahrgast wollte den Taxifahrer ausrauben, worauf dieser sein Fahrzeug in ein Hindernis lenkte. So liegen die beiden nun leidend nebeneinander und werden von mir erstversorgt.
Die internistische Betreuung ist eher lückenhaft, mit meiner mehr gefühlten als tatsächlich vorhandenen Erfahrung traue ich mir doch einiges zu. Da gibt es einen älteren Herrn, dem es gar nicht gut geht. Insbesondere ist auch die Nieren funktion ungenügend. Die Diagnose ist nicht klar. Dass seine Nase merkwürdig aussieht, fällt mir zwar auf, beschäftigt mich aber nicht weiter. Ich versuche, mit Infusionen die Nieren funktion zu verbessern und brauche dafür unbedingt einen Venenzugang. Ich muss zahlreiche Male stechen, da niemand vorhanden ist, der mir innert nützlicher Frist helfen würde. Endlich ist es gelungen, worauf der Patient äussert, ich sei ja noch schlimmer als damals die Aufseher im KZ. Blitzartig wird mir klar, die merkwürdig aussehende Nase wurde von plastischen Chirurgen rekonstruiert, nachdem sie von den Schergen zertrümmert worden war. Ich erschrecke mächtig ab
mir selbst und der Situation und gebe dann zu verstehen, dass ich eigentlich nur darauf aus sei, mit den mir zur Verfügung stehenden Mitteln – zugegebenermassen mit höchster Ener gie – sein Überleben zu ermöglichen. Er äussert darauf sehr ernsthaft den Wunsch, möglichst in Ruhe gelassen zu werden, den ich ihm gerne erfülle. Er stirbt einige Tage später – ohne zu leiden, aber auch ohne definitive Diagnose; eine kleinere narzisstische Kränkung für mich.
An einem Abend bringt die Ambulanz einen Motorradfahrer, der die Böschung der Birs heruntergestürzt ist, unglücklicher weise mit dem Gesäss direkt auf einem Pfahl landend. Es liegt eine Pfählungsverletzung vor mit schweren Zerstörungen im Bereich von Anus und Damm. Ich assistiere meinem Chef bei der chirurgischen Versorgung. Persönlich kann ich in dieser Wunde keine Strukturen eindeutig identifizieren. Es ist mit bleibenden Problemen zu rechnen. Auf Grund dieser Erinnerung habe ich, obschon es mich mehr als nur ein wenig gereizt hätte, stets auf die Anschaffung eines Motorrads verzichtet.
März 1979
Nun arbeite ich in der Abteilung für Gynäkologie und Geburtshilfe im Bürgerspital Solothurn. Ich setze mich maximal ein und werde durch die Möglichkeit, diesen oder jenen kleineren Eingriff unter Aufsicht durchzuführen, belohnt. Der Chef Dr. Alfred Wacek erzählt mir begeistert wie ein kleines Kind, er habe nun gerade in London das erste deutsche, 1513 erschie nene Lehrbuch des Arztes und Apothekers Eucharius Rösslin zum Thema Geburtshilfe, nämlich «Der schwangeren Frauen und Hebammen Rosengarten» ersteigern können. Ich kann seine Begeisterung intuitiv nachvollziehen.
August 1979
Das Staatsexamen, das heisst eine Abfolge von etwa 20 höchst unterschiedlichen Prüfungen im Verlauf von sechs Monaten,
ist in vollem Gange. Ich bin zwar fleissig, aber entspannt. Är gerlich ist einzig die Note 4 in Chirurgie mündlich bei Prof. Martin Allgöwer. Ich weiss und kann doch so viel. Irgendwie haben der Examinator und ich, aus was für Gründen auch immer, keinen Draht zueinander gefunden, was ich vorher und nachher nie mehr erlebt habe. Viele Jahre später sind wir einander an einem Anlass begegnet. Es erscheint mir schäbig, dieses alte geschrumpelte Männlein auf mein schlechtes Erlebnis 24 Jahre zuvor anzusprechen. Zufrieden bin ich mit der doppelten 6 in Gynäkologie und Geburtshilfe bei Prof. Otto Kaeser. Er war bei meiner Geburt als Geburtshelfer tätig gewesen, was ich ihm nach diesem Erfolg gerne berichte und was ihn, wie ich meine, freut.