Auf der Herzroute

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Mit Pedal, Poesie und Prominenz unterwegs

auf derHerzroute

Christian von Aster Paul Dominik Hasler

Mit Pedal, Poesie und Prominenz unterwegs

auf derHerzroute

Vorwort

des Autors

Was Sie hier in Händen halten, ist ein Erlebnisbericht aus erster Hand. Genauer, aus zwei ersten Händen, die beide nötig waren, den Lenker zu halten, welcher dieses Buch ermöglicht hat.

Entstanden ist es im Rahmen der ganzheitlichen Durchquerung eines ebenso kleinen wie grossartigen Landes: Der Schweiz.

Weitgehend unvertraut mit ihren Bräuchen und Gepflogenheiten habe ich dieses auf einem elektrogestützten Zweirad von Ost nach West durchmessen und war dabei bemüht, Landschaft wie Bewohner und ihre Eigenarten gewissenhaft zu beobachten. Diese Beobachtungen wiederum habe ich, bestrebt, mich dem wahren Wesen der Schweiz zu nähern, in verständliche Worte gebracht und niedergeschrieben.

Letzteres ist tatsächlich mein Beruf, in dessen Rahmen ich mich als Autor vorwiegend fantastischer und satirischer Inhalte betätige, was vielleicht auch den Ton dieses Berichtes erklärt, der sich der Schweiz liebevoll, irgendwo zwischen Satire, Poesie und gehobenem Erlebnisbericht, zu nähern versucht.

Ich habe in meinem Leben also bereits einiges niedergeschrieben, noch nie aber ein

Land. Die Schweiz schien mir jedoch nicht nur die richtige Grösse für derlei zu haben, sondern verfügt darüber hinaus auch noch über ein vorzügliches, ein solches Vorhaben begünstigendes Konstrukt: die Herzroute. Und eben diese ist, in Verbindung mit meiner Neugier, Abenteuerlust und Leichtgläubigkeit, der Grund dafür, dass sie diesen Erlebnisbericht in Händen halten. Dazu kommt freilich noch die Tatsache, dass diese Herzroute vor nunmehr zwanzig Jahren von meinem Freund Paul ersonnen ward, dem ich an einem launigen Frühlingsabend unvorsichtigerweise das Angebot machte, besagte Route zu fahren und ein Buch darüber zu schreiben. Dabei habe ich weder meinen Mangel an Sportlichkeit noch die zu überwindenden Höhen­ und Kulturdifferenzen ausreichend bedacht. Ganz zu schweigen davon, dass ich mich am Ende, in völliger Unkenntnis dessen, was mich am jeweiligen Folgetag erwarten würde, ganz in die Hand meines einheimischen Begleiters begeben musste, der damit wohl den fantastischen Teil meiner Autorenpersönlichkeit stimulieren

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wollte. Was ihm tatsächlich auch gelungen ist. Im Nachhinein war diese Tour eine der besten dummen Ideen, die ich jemals hatte. Weil ich die Erlebnisse, Bekanntschaften und Znünis, die sie mir beschert hat, nicht missen möchte. Weil diese helvetische Zweiradmysterientour mich inspiriert, dem Wesen der Schweiz ein wenig näher gebracht und auf vielfältige Weise bereichert hat. Und weil ich das, was ich erlebte, darüber hinaus in der mir eigenen poetischen Frivolität ausschmücken, frisieren und nachföhnen durfte. Denn was wäre die Schweiz, wenn man von ihr nur das Übliche preisgäbe? In diesem Sinne sei an dieser Stelle eine Lanze für die partiell fantastische Reiseliteratur gebrochen, in welche ich mich mit diesem Werk einzureihen erlaube.

Ich hoffe, dass Sie als Leser dieses gewagte Unterfangen zu würdigen vermögen und das Buch nicht vorschnell aus den Händen legen. Anders aber hätte ich dieses Buch nicht schreiben können. Weil es schlicht nicht recht wäre, sich einem ausserordentlichen Land auf einer exquisiten Radroute Kraft eines profanen Erlebnisberichtes zu nähern.

Viel Vergnügen auf der Herzroute wünscht Christian von Aster

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«IM NACHHINEIN WAR DIESE TOUR EINE
DER BESTEN DUMMEN
IDEEN, DIE ICH JEMALS HATTE. WEIL ICH
DIE ERLEB NISSE, BEKANNT SCHAFTEN UND ZNÜNIS, DIE SIE MIR BESCHERT HAT, NICHT MISSEN MÖCHTE.»

Vorwort

des Co-Autors

Man mag Christian von Aster anhand unterschiedlicher Gesichtspunkte beurteilen. Ich selber finde, dass seine Sätze das Maximum bieten, was die deutsche Sprache so hergibt. Dies beflügelt den Leser insofern, als er auch das Maximum dessen benötigt, was das Hirn so hergibt. Und das ist zuweilen viel. Dafür möchten wir uns gleich hier entschuldigen. Auch haben wir darauf verzichtet, eine einfachere Version des Textes für Schweizerinnen und Schweizer herauszugeben. Auch das eine Unterlassung, die uns ein leicht schlechtes Gewissen macht.

Umgekehrt bedenke man: Wir haben den thematisch fernsten Autoren gesucht, der sich dem Thema E­Bike, Schweiz und Hügel noch stellen wollte und dabei einen Anflug von guter Laune zeigte. Den haben wir mit Sicherheit gefunden. Auch waren seine Honorar­ und vor allem Haftpflichtforderungen gegenüber anderen Schriftstellern geradezu vorteilhaft, was wohl damit zu tun hat, dass er nicht wusste, worauf er sich einlässt. Wir haben regelmässig mit Schokolade aufgerundet, um ihn zu einem weiteren Tag auf dem martialischen Kampfross zu bewegen.

Es stimmt nicht, dass er auf der Fahrt 16 Kilo abgenommen habe. Das mag allenfalls

eine mentale Metapher sein für das, was er durchstehen musste. Liest man seinen Text, erkennt man bald, dass emotionale und körperliche Nöte ihn nur noch weiter beflügelt haben. Sein Manuskript lesend, fiel uns allerdings auch schmerzlich auf, dass wir im Vertrag die Zeichenzahl nicht begrenzt und den Satzbau nicht auf das allgemeinverträgliche Mass reduziert hatten. So stehen wir nun mit Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, vor der Situation, dass wir nicht nur die Herzroute literarisch vor uns haben, sondern einen Text bezwingen müssen, der in vielerlei Hinsicht der topografischen Virtuosität der Herzroute in nichts nachsteht. Mit dem kleinen Unterschied, dass man fürs Radeln eine Batterie und ein E­Bike bekommt, fürs Lesen solches aber noch nicht entwickelt wurde.

Seine Texte zu lesen, setzt also einiges an Berggängigkeit voraus, was in der Schweiz aber ansatzweise doch verbreitet ist. Ebenso hilfreich sind Heissgetränke und Kaminfeuer, welche beide für eine leichtere Verdaubarkeit seiner verbalen Selbstent­

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fesselungsavancen sorgen. Trotzdem bleibt da und dort ein Rest an Kopfschütteln bei der Leserin, beim Leser, was letztlich den Reiz des Erstaunens und gelegentlich das repetitive Scheitern an einem Satz anzeigen dürfte.

Nach 14 gemeinsamen Tagen, Hunderten von Kilometern und tagelanger gemeinsamer Textarbeit muss ich Folgendes konstatieren: Christian ist ein famoser Kollege, ein liebreizender Troubadour des Herzens, ein erstaunlich guter Velofahrer und ein vielseitig inspirierter Tourist der allerbesten Sorte. Da verschmerzt man doch seine zuweilen etwas umständliche Ausdrucksweise, oder?

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«SEINE TEXTE ZU LESEN SETZT ALSO EINIGES AN BERGGÄNGIGKEIT VORAUS, WAS IN DER SCHWEIZ ABER ANSATZWEISE DOCH VERBREITET IST.»

Inhaltsverzeichnis

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Tag 3

LUSTMÜHLE LICHTENSTEIG 66

Von der Kunst, sich dem Appenzellischen zu entwinden und in eine magischrustikal anmutende Gegend zu gelangen.

Tag 0

ARBON.......................................... 8

Helvetische Einstimmung zwischen Kaninchen und Beton.

Tag 1

ARBON ALTSTÄTTEN ............... 18

Erste Etappe, welche das Velo beschnuppern, die Hügel ertasten und den flachen Bodensee vermissen liess.

Tag 2

ALTSTÄTTEN LUSTMÜHLE ....... 40

Von Aprikosen, chinesischen Weisheiten und schweizerischen Ausblicken.

Tag 4

LICHTENSTEIG RAPPERSWIL 90

Vom Versuch, es mit den Profis aufzunehmen, Zürich mit St. Gallen zu verbinden und den höchsten vorstellbaren Punkt eines Kantons zu erklimmen.

Tag 5

RAPPERSWIL EINSIEDELN 106

Vom Erstaunen ob der Tatsache, dass nicht immer die Sonne scheint, das Sonnige uns aber trotz Wolken findet, ja geradezu verwöhnt.

Tag 6

EINSIEDELN ESCHENBACH ... 126

Von der Wirkung heiliger Vorsätze, dem unerwarteten Auftritt Konfuzius’ im katholischen Zugerland und der beschwichtigenden Wirkung von Nebel.

Tag 7

ESCHENBACH SUNNSITE 148

Wie wir eine volle Portion Kanton Luzern geniessen und am Abend sowohl an seine wie auch unsere Grenzen gelangen.

6 Vorwort des Autors 2 Vorwort des Co­Autors

Tag 8

SUNNSITE BURGDORF .......... 168

Von der Kunst, sich dem Emmental angemessen zu nähern und dabei nicht verführt und nicht gemolken zu werden.

Tag 9

BURGDORF MÖRISEGG ........ 190

Von der sommerlichen Innigkeit des Emmentals und dem Wohnfass meiner (Alp­)Träume.

Tag 10

MÖRISEGG THUN ................. 210

Vom Übermut, die schönste aller Etappen und die tollsten aller Gäste zu erfahren.

Tag 11

THUN LAUPEN ...................... 230

Vom Höhepunkt der Sommerhitze und dem stetig plätschernden Quell von Herzlichkeit in diesem Land.

Agentenintermezzo 246

Aufbruch zu stupenden Höhen, die zwar Schwindel, aber auch neue Erkenntnisse zu diesem Land evozieren.

Tag 12

LAUPEN ROMONT ................ 256

Wie wir stilvollendet die langersehnte Westschweiz betreten, um uns hernach angemessen in selbiger zu verfahren.

Tag 13

ROMONT LAUSANNE ........... 270

Ode an die letzte Etappe, die in dieser Opulenz unerwartet, aber genau richtig kam.

Nachtrag:

DIE HERZROUTE – EINE

GEBRAUCHSANLEITUNG 284

Die Autoren 288 Impressum 288

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Los gehts!

Tag 0Arbon

HELVETISCHE EINSTIMMUNG ZWISCHEN KANINCHEN UND BETON.

Den ausnehmend karg behügelten Osten Deutschlands mit der majestätisch umbergten Schweiz vergleichen zu wollen, ist derart verwegen, dass derlei nur ein geländeunkundiger Nichtschweizer zu versuchen wagen kann. Es ähnelt dem Vergleich von Äpfeln mit Birnen, nachdem man die einen oder anderen gegen Zucchini ausgetauscht hat. Dennoch war es dieser ebenso naive wie unangebrachte Vergleich, der meiner Gewissheit, die anstehenden 700 km zurücklegen zu können, zugrunde lag.

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Nachdem ich mich also entsprechend vorbereitet habe und im Hintergrund ohne mein Wissen bereits allerlei schweizumspannende Fäden gezogen und verschwörerische Vergnügungen konzipiert wurden, folgt ein nicht unemotionaler Abschied von jener noch immer an mir zweifelnden Frau. Diese signalisiert mir zwar deutlich ihre Bereitschaft, mich gegebenenfalls zu beerben, nötigt mir jedoch, bevor wir uns trennen, um die Chancen meiner Heimkehr zu steigern, mit mahnendem Blick einen Fahrradhelm auf. Weder ich noch sie ahnen zu diesem Zeitpunkt, was für eine bedeutsame Rolle ihm im Lauf des anstehenden Abenteuers noch zuteilwerden wird …

Dann trete ich mit Tasche, Helm und Rucksack, bereit, Deutschland hinter mir zu lassen und mich ganz und gar in den unbekannten Weiten der Schweiz zu verlieren, auf die Fähre und setze über. Und während die Leute um mich der Hitze mit alkoholischen Kaltgetränken und vergnügten Frotzeleien trotzen, werde ich, die Lindauer Hafenanlagen nach und nach schwinden sehend, tatsächlich noch einmal ein wenig nachdenklich.

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Mein erstes innerhelvetisches Ziel ist Arbon, wo mir, bevor die erste Pedale getreten, der erste Kilometer zurückgelegt und der erste Hügel erfahren ist, noch ein wenig Zeit vergönnt sein wird. Mit der Fähre übergesetzt und am Hafen zunächst in Rorschach in den Zug umgestiegen, darf ich die letzten Meter nach Ankunft in Arbon zu Fuss bewältigen, was mir die Gelegenheit gibt, mir noch ein paar Gedanken über die Unverhältnismässigkeit von Weg und Gepäck zu machen. Da es dementsprechend mehr Gepäck als Weg ist, erscheint mir die Aussicht, in Bälde zumindest auf ein Fahrrad umsatteln zu können, redlich verlockend.

Rucksackgebeugt bewege ich mich am Ufer entlang, blicke auf den hochsommerlichen Bodensee hinaus und kann mich des Gefühls nicht erwehren, dass er von dieser Seite aus anders aussieht. Bis zum Horizont erstreckt sich dieser See, und da ist nichts als Wasser. Eine grosse ebene Fläche, die visuelle Reduktion sämtlicher Höhenunterschiede, wie ein stiller Gegenpol zu dem, was mir in den nächsten Tagen zu erfahren bleibt. Die mir angedrohten vierstelligen Höhenmeterdifferenzen, vor denen meine Frau daheim mich gewarnt hat, sind beim Anblick dieses Sees jedenfalls noch nicht vorstellbar. Ich versuche es nicht einmal, schreite weiter am See entlang, schaue bis zum Horizont und ahne dabei doch, wie er sich bald schon verändern wird …

Von der Julisonne leidlich vorgegart und hinsichtlich meiner Wasservorräte noch immer nicht dazugelernt habend, erreiche

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Die Kaninchen sind letztlich nicht wirklich zahm. Weder hören sie auf die Namen Tim und Struppi, noch geben sie Antwort, wenn man sie nach dem Getränkeautomaten fragt.
Strim? Tuppi?

ich unterhalb des Schlosses Arbon einen Brunnen. Und während dieser einer jungen schönheitsoperationsgeschädigten Influencerin als Kulisse für das Fotografieren hochpreisiger Kosmetikprodukte dient, stillt er doch zugleich meinen Durst und hilft, meine erhitzte Stirn zu kühlen. Noch immer über dieses Gleichnis sinnierend, erreiche ich wenig später das Hotel Wunderbar, wo man mir ein Nachtlager gebucht hat, das mich zugleich vom unverhältnismässigen Luxus grossbildfernseherbestückter Hotelzimmer entwöhnen und angemessen auf den Zauber der kommenden Tage vorbereiten soll. Nicht zuletzt, weil es sich bei besagtem Nachtlager um eine Betonröhre mit knapp zwei Meter Durchmesser handelt, gelingt dies vorzüglich. Meine Unterkunft ist eine von zwei sogenannten Traumröhren, in denen sich tatsächlich nur das Notwendigste befindet. Ein exakt eingepasstes Bett, etwas Ablagefläche, ein kleines, ans Bett gebautes Tischchen mit einer ansprechenden Trockenblume und ein paar Haken an der Innenseite der Tür. Das Ganze platziert im lediglich über die Hintertür des Hotels zu erreichenden Garten, in dem es abgesehen von zwei meist frei laufenden Kaninchen beachtlicher Grösse eine kleine Sofaecke, einige Sonnenstühle und einen überschatteten und umstuhlten Gartentisch gibt, an dem ich mich alsgleich niederlasse, um im Schweisse meines Angesichts eilig die ersten Eindrücke von Röhre, See und Kaninchen zu notieren. Zu diesem Zwecke habe ich mir im Vorfeld sowohl ein Moleskine­Notizbuch und ein kleines Pad mit faltbarer Tastatur besorgt, mit denen ich die analoge und die digitale Notizerstellungstradition zu verbinden gedenke. Best of both books. Heute gewinnt jedoch die analoge. Denn es ist heiss. Tatsächlich sogar zu heiss für besagtes elektronisches Gerät, das sich, um mir die Gelegenheit zur Mischung von Schweiss und Tinte zu geben, auszuschalten beschliesst. Dies als ein Zeichen wertend, begebe ich mich noch einmal an den See, der sich vor den weitschweifigen Sitzgelegenheitssammlungen der «Wunderbar» noch immer bis zum Horizont erstreckt und auf dessen schim­

Die Hand weist nicht etwa auf die bevorstehende

Schweiz hin, sondern auf das eben zurückgelassene

Deutschland im Hintergrund, das mit flachen Landen und soliden Speisen eine letzte Portion Sicherheit geboten hatte.

11 TAG 0 ARBON

merndem Wasser sich vereinzelt Ruderer, Stand­up­Paddler und kleinere Boote tummeln. Ich setze mich an die steinerne Bootsrampe, sehe der Sonne dabei zu, wie sie auf dem kaum bewegten Wasser tanzt, und weiss, dass dies meine letzte Chance für einen Rückzieher wäre. Doch der Ausweg ist versperrt, soeben trifft Paul ein, mein einheimischer Führer, der mich durch dieses komplizierte bis vertrackte Land, über diesen doch nicht ganz trivialen Weg der 1000 Kurven und 999 Hügel geleiten wird. Wir kennen uns von früheren Begegnungen, haben aber unsere Beziehung bisher nie der Belastung einer pedalösen Verschränkung dieses Ausmasses ausgesetzt. Noch dazu wird das thematisch vorgegebene Hierarchiegefälle es vermutlich nicht leicht machen, die Balance aus Rechthaberei und gesundem zi­

vilem Widerstand zu finden. Da ich inzwischen aber psychologisch geschult genug bin, um mit Kritik umzugehen, zumindest solange diese nicht mich betrifft, habe ich beschlossen, das anstehende Abenteuer mit einer Sportlichkeit zu begehen, die mir zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht gegeben ist.

Martin Angehrn

Martin Angehrn hat neben seiner technischen Seite als Betriebsingenieur ETH ein Herz für Handel und Lebensmittel entwickelt. Er war viele Jahre als Grosshändler in der eigenen Familienunternehmung tätig und konzentriert sich heute auf innovative Projekte für Regionalprodukte, Lebensmittel und Technik. Er lebt mit seiner Frau in Engelburg bei St.Gallen.

Unsere erste Eskapade soll allerdings weder mit Velo noch mit Anstrengung zu tun haben. Es geht zunächst vielmehr darum, mich auf Schweizer Sitten, Gepflogenheiten und Tischmanieren einzustimmen. Gemeinsam mit Pauls Herzensdame Kerstin, die einen Dialekt spricht, der mich wohlig an das heimatliche Leipzig erinnert, begeben wir uns zunächst zu Pauls Jugendfreund MARTIN. Dieser wohnt zusammen mit seiner Frau Maja auf einem Hügel und hat besagtes Wohnen inzwischen recht gekonnt inszeniert. Das Haus ist, nachdem man mir in bekannt helvetischer Manier von einem bescheidenen Heim erzählt hatte, wider Erwarten geräumig. Zumal noch ein Hundehaus und ein Pferdestall dazugehören, was das Bild des gesitteten Schweizeinstieges abrundet.

Dabei ist Martin nichts weniger als ein Zeuge der frühesten Testfahrten auf der damals noch nicht existierenden Herzroute. Wir reden über den Anfang der 1980er­Jahre, als er und Paul mit urigen Dreigangvelos durch Frankreich vagabundierten, um zwischen Rotwein und Camembert die beste Route zu suchen. Das war, da das Land noch von diesem kapillaren Netz kleiner Strassen geprägt war, die allenfalls stündlich von einem R4 in

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gemässigtem Tempo befahren wurden, anscheinend nicht schwer. Darauf aufbauend entstand quasi die Basiskultur der Herzroute, welche sich heute um das reine Vergnügen, in der Landschaft verloren zu gehen, dreht. Ein Verlorengehen, das vor allem metaphysisch gemeint ist. Aber ich möchte nicht zu viel vorwegnehmen.

Martin und Maja platzieren uns an einem grossen Tisch, der Schauplatz eines «einfachen» Mahls werden soll, was aus dem Mund des gastronomisch und lebensmitteltechnisch vorbelasteten Martin etwas irreführend scheint. Und das ist es denn auch. «Einfach» ist an diesem Abend nichts, allenfalls selbst gemacht, und dies noch in der vorzüglichsten Fertigung martinschen Enthusiasmus. Martin, selbst eine Einkaufskette für die gehobene Gastrobranche geleitet habend, versteht sich auf die kleine Form, welche mit regionalen und unspektakulären Zutaten Gelungenes auf den Tisch zaubert, allenfalls noch akzentuiert durch einen Wein, der alles andere als einfach und unspektakulär ist und dem Mahl diesen typisch helvetischen Pseudozufälligkeitsdrall versetzt, der hier mit dem gesitteten Reichtum einhergeht. Aber ich lerne schnell.

Was denkt die Schweiz Betonröhren?über

Betonröhren wurden in der Schweiz zu weitherum beachteter Perfektion gebracht. Sie werden in allen Längen und Breiten gehandelt, finden zum Beispiel im trauten Zuhause in klein (Abwasserlei- tung) und gross (Zivilschutzbunker, gegen anrückende Russen) ihre Anwendung. Seit sich die ganze Nation den Betonröh- ren (Auto- und Eisenbahntunnel) emotional verschrieben hat, wurde auch das Landeswappen neu gedeutet. Heute zieren zwei sich im Bergesinneren kreuzende Betonröhren auf rotem Grund die Nationalflagge.

Während Martin dieser Tage Rum destilliert und Maja mit Pferden flüstert, bleiben wir vor allem beim Thema Velo und bei Pauls und Martins einstigen Frankreicheskapaden, zu denen das Abfüllen zweier Flaschen Calvados am Frühstückstisch einer zufällig angefragten Bauernfamilie ebenso wie der Kauf von zwei Motorradoveralls gehören, der nötig wurde, da die beiden naiv und gutgläubig ohne Regenzeug in die Normandie gestartet waren. Das war etwa 1987. Was erahnen lässt, wie alt sie heute sind.

13 TAG 0 ARBON

Leicht beruhigt ob der Tatsache, dass törichte Fehler auch im Tourenrahmen verzeihlich scheinen, werde ich, der ich hinsichtlich solcher Fehler gewisse Talente habe, zurück ins nächtliche Arbon gefahren, wo ich eine letzte Nacht Bedenkzeit in der Traumröhre verbringen werde, bevor meine Konfrontation mit der Schweiz abseits der bekannten Wege ihren Anfang nehmen wird.

Nachdem ich die Namen der Kaninchen erfahren habe – es handelt sich um Max und Weissichnicht ­, mich mehrmals ins Gras geworfen habe, um sie zu fotografieren, und das hoteleigene WLAN mich zu einigen Standortwechseln genötigt hat, erweist sich die vermutlich mit voller Absicht ausserhalb des Interneteinzugsbereichs gelegene Röhre des Nachts als erstaunlich bequem.

Auch die Temperaturen des Folgetages erweisen sich als maximal sommerlich. Ich dusche halbkalt und trinke zum Frühstück mehr, als ich esse. Paul setzt sich dazu. Ohne den ich in diesem fremden Land, in dem der lediglich Schriftdeutsch Sprechende zu gleichen Teilen verachtet wie bewun­

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Auch Tiny-Häuser machen Fortschritte. Sie wirken längst nicht mehr so beengt wie früher.

dert wird, vermutlich verloren wäre. Er soll gegebenenfalls meine sprachlichen Unzulänglichkeiten kompensieren und Konflikte mit Einheimischen verhindern. Zu diesem Zeitpunkt habe ich noch keine Zweifel an seiner Aufrichtigkeit und ahne noch nicht, was mein charismatischer Velosherpa mir noch alles zumuten wird. Zunächst ist die Zumutung freilich überschaubar. Wir speisen gemeinsam, planen anstehendes Abenteuer und besuchen schliesslich das benachbarte Saurer­Museum. Hier erfahre ich etwas über die gloriosen, aber überschaubaren und inzwischen auch etwas zurückliegenden Erfolge der Schweizer Automobilindustrie, deren Wiege eben hier in Arbon stand. Das Museum selbst ist beeindruckend. Vom kuriosen Zweisitzer über burleske Militärfahrzeuge bis zu einem 1910 gebauten LKW, der bis vor Kurzem noch in Südamerika im Betrieb war, glaubt man hier, in der Abbildung der Kraftfahrzeugerfolgsgeschichte der Firma Saurer, noch immer den Nachhall des Herzens der Schweizer Hubkolbeneuphorie zu vernehmen.

Adolph Saurer und seine Nachfolger schufen Lastkraftwagen von betörender Langlebigkeit. Manche davon haben es in den Himmel des gleichnamigen Museums geschafft und dürfen liebevoll gestreichelt und geduzt werden.

Saurers textilmaschinenorientierte Tätigkeit ist allerdings nicht minder beeindruckend und manifestiert sich in diesem Museum in diversen Stickmaschinen, riesigen lautstarken Ungetümen und ihren zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert weiterentwickelten Varianten. Rumorende Moloche, die feinste Stoffe filigran zu bemustern vermögen und deren Anblick mir einiges an Respekt abnötigt. Wir dürfen sie in Aktion sehen, die groben Programmierstreifen in Händen halten und den Stoff betasten. Die Mischung aus männlich­ingeniösem Wirken und weiblich­grazilem Gewirk (um an dieser Stelle ein paar veraltete Rollenbilder zu bemühen) ist beeindruckend. Schmunzelnd erkennen wir den Schalk der Geschichte: Ungetüme aus Technik und Stahl, die filigrane Stoffe schaffen, um weibliche Vorzüge zu betonen.

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Im Rahmen eines gemeinsamen Abendessens bekomme ich noch die Gelegenheit, Bedenken und Befürchtungen bezüglich der anstehenden Tour zu äusseren und Steigungsintensitäten sowie Etappenlängen zu erfragen. Mein erfahrener und psychologisch geschulter Begleiter versteht es, mich zu beruhigen. Wobei seine Antworten, wie mir im Nachhinein auffallen wird, grösstenteils vage und nicht immer wahrheitsgemäss sind. Zugleich werde ich darüber aufgeklärt, dass der Termin für den Start unserer Tour keinesfalls zufällig gewählt wurde. Ist doch dieser letzte Tag, den ich am Rande des Bodensees und

in meiner Betonröhre noch zum Ankommen und zur Einstimmung begehen darf, nichts weniger als der erste August und somit einer der bedeutendsten Tage des helvetischen Kalenders. Nationalfeiertag der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Bundesfeier. Deren Bedeutung für die Schweizer Volksseele nicht zu unterschätzen ist, weshalb sie im ganzen Land auch zu einer Vielzahl abendlicher Veranstaltungen mit bedeutsamen Ansprachen und dem ausgiebigen Hissen von Flaggen führt. Wenn ich es richtig verstehe, muss jeder Schweizer, der in irgendeiner Weise bekannt, kompetent oder womöglich auch

Der Schatten Der Poet

Die Wespen Olga und Heinz hatten sich bisher noch nicht kennengelernt. Das Aufeinandertreffen im Confi-Bad wird von beiden nachher als bestimmend für den weiteren Lebensverlauf beschrieben.

beides ist, an diesem Abend irgendwo eine Rede halten, damit jedes Dorf im Land eine abbekommt. Auch wir wollen in Arbon einer lauschen. Schliesslich gilt es, mich ganzheitlich vom Geist der Schweiz erfüllen zu lassen, damit ich die anstehenden Erfahrungen auch zur Gänze erfassen kann. Das Ziel ist die Rede von Regula Rytz aus dem fernen Bern. Und Paul kennt den Weg. Er ist schliesslich mein Führer. Während wir im Schein der Laternen an der Seepromenade entlangschreiten, bemerke ich, dass Paul weniger ein Ziel hat, als sich vielmehr an grösseren, potenziellen Veranstaltungsorten zuzurechnenden Lichtern und Menschenansammlungen orientiert. Von denen es an diesem Abend einige gibt. So touchieren wir etwa ein Open­AirKino, in dem gerade die «Minions» gegeben werden, gelangen an den Rand einer Bühne, auf der eine motivierte Band gesetzteren Alters Tina­Turner­Songs covert, und erlaufen uns schliesslich, ohne die Rednerin zu finden, einen Grossteil der nächtlichen Stadt.

Als wir schliesslich irgendwann nach Mitternacht zur «Wunderbar» und den längst schlafenden Kaninchen zurückkehren, führen Arbons nächtliche Schönheit und unsere anregenden Gespräche dazu, dass ich, statt die Fähigkeiten meines offenbar nur bedingt zielgerichteten Führers in Zweifel zu ziehen, rundum zufrieden ins Bett falle. Auch ohne die Bedeutung dieses Tages erfasst zu haben. Aber mir bleiben ja noch mehr als 700 Kilometer, um dies nachzuholen.

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