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Blickpunkt: Dmitri Schostakowitsch
Schostakowitsch in Bild und Ton: Das Luzerner Sinfonieorchester bringt die zehnte Symphonie zur Aufführung. Dazu läuft der Animationsfilm »Oh to Believe in Another World« des südafrikanischen Künstlers William Kentridge
VON ANNELIE LECHNER
Michael Sanderling gilt als Schostakowitsch-Spezialist. Zu dem sowjetischen Komponisten hat der Dirigent eine spezielle Beziehung: Sanderlings Vater, der Dirigent Kurt Sanderling, pflegte mit Schostakowitsch bis zu dessen Tod 1975 eine enge Freundschaft. Vor nahezu einem halben Jahrhundert begegnete Michael Sanderling dem berühmten Komponisten erstmals in Berlin: »Dmitri Schostakowitsch war damals ein alter und verbitterter Mann, der nur leise und am liebsten gar nicht sprach. Ich habe erst viel später begriffen, dass diese Verbitterung und dieses Schweigen zu einem viel komplexeren Gesamtbild seiner Persönlichkeit gehörten.«
Mit den Dresdner Philharmonikern, deren Chefdirigent Michael Sanderling acht Jahre lang war, spielte er Schostakowitschs fünfzehn Symphonien ein. Der gebürtige Ost-Berliner überzeugte mit seinen klaren, analytischen Interpretationen. Das symphonische Schaffen Schostakowitschs umfasst ein halbes Jahrhundert: Es berührt und fesselt zugleich – und ist Zeugnis einer dramatischen Epoche. Der Cellist Mstislaw Rostropowitsch sah in den Symphonien gar eine »Geheimgeschichte Russlands«. Seine Kritik am totalitären System versteckte Schostakowitsch in der Musik. Mehr noch: »Karikatur, Ironie und Sarkasmus sind einer Chiffrierung untergeordnet, von der wir wissen, dass sie überlebensnotwendig war für einen Künstler der damaligen Zeit. Darin besteht ein ganz großer Teil der Genialität Schostakowitschs. Etwas zu sagen, ohne dass es von den ›Falschen‹ erkannt werden konnte«, so Sanderling.
Im Wiener Konzerthaus bringt der Dirigent am Pult »seines« Luzerner Sinfonieorchesters die zehnte Symphonie zur Aufführung. Doch das ist nicht alles: Im Auftrag des Orchesters produzierte der südafrikanische Künstler William Kentridge den Animationsfilm »Oh to Believe in Another World« zur Symphonie. Kentridge ist Besucher:innen der Wiener Festwochen ein Begriff: Vor mehreren Jahren visualisierte er Schuberts »Winterreise« und inszenierte heuer im Juni das bilderstarke Musiktheater »Sibyl«.
In »Oh to Believe in Another World« illustriert der Künstler poststalinistische Symphonik: Dmitri Schostakowitsch komponierte seine Zehnte unmittelbar nach dem Tode Stalins 1953. Schostakowitschs Leiden an dessen Gewaltherrschaft hinterließ Spuren in seinem Werk. 1948 hatte er seine Professur am Moskauer Konservatorium verloren, er wurde des Formalismus und abstrakter Sprache bezichtigt. Acht Jahre vergingen nach der Komposition der neunten Symphonie. Entsprechend groß dimensioniert sollte sein nächstes Werk dieser Gattung ausfallen.
Wenn man mir die beiden Hände abhacken würde, so würde ich weiter Musik schreiben, mit der Feder zwischen den Zähnen.
DMITRI SCHOSTAKOWITSCH
Kentridge betrachtet in seinem Animationsfilm sowohl »Schostakowitschs komplizierten Werdegang im Sowjetregime als auch den der Künstler:innen während dieser Zeit.« Ziel sei der Versuch, »im Film und mit visuellen Mitteln einige der schwierigen, mehrdeutigen Situationen aufzuzeigen, mit denen Schostakowitsch immer wieder konfrontiert war – nicht nur in dieser Symphonie, sondern in allem, was er schrieb.« Der Film spielt in einem scheinbar verlassenen sowjetischen Museum – collagenhaft ist die eindrückliche Filmszenerie aus Pappe sowie die Hauptfiguren, die als Puppen erscheinen, aber auch von Schauspieler:innen gespielt werden. Das Publikum sieht eine »Reise durch dieses Museum, in dem die Charaktere für immer feststecken, endlos ihre Rollen spielen und ihr Leben leben«, so Kentridge.
Wie viele andere Stücke im Schaffen des Künstlers beschäftigt sich auch dieses mit der Frage der Utopie. Für ihn ist es ein seltsames Paradoxon, »dass wir Utopie brauchen. Wir brauchen ein Gefühl für Utopie. Wenn wir glauben, dass die Welt nur das ist, was wir haben – ich meine TikTok und Netflix und Golf –, dann ist das sehr deprimierend.« Eine Zeile im Film lautet: »Wir werden die Menschheit mit eiserner Faust ins Glück schlagen.« Für Kentridge eine zentrale Aussage: »Das ist das große Problem mit der Utopie: zu wissen, wie die Dinge sein sollten, diese aber mit autoritärer Gewalt durchsetzen zu müssen, die wiederum die ursprüngliche Idee zerstört. Deswegen müssen wir auf viel mehr, partielle, kleinere Ideen hoffen.«
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Sa, 02/12/23, 19.30 Uhr · Großer Saal
»Oh to Believe in Another World«
Luzerner Sinfonieorchester · Michael Sanderling · William Kentridge
Zu Beginn des Konzerts Gespräch mit William Kentridge, Matthias Naske und Numa Bischof
William Kentridge: »Oh to Believe in Another World« · Dmitri Schostakowitsch: Symphonie Nr. 10 e-moll op. 93
Karten: https://konzerthaus.at/konzert/eventid/60701
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