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Musikalische Bergbesteigung
Der Portraitkünstler Alexander Melnikov präsentiert sich mit einem kammermusikalischen Abend, einem Orchesterkonzert sowie einem Klavierabend. Im Dezember steht letzterer mit einer Gesamtaufführung von Schostakowitschs Präludien und Fugen an
VON MARTIN WILKENING
Wie ein fremdartiges Gebirgsmassiv ragen die 24 Präludien und Fugen von Dmitri Schostakowitsch aus der Landschaft der Klaviermusik des 20. Jahrhunderts hervor. In einiger Entfernung davon liegt der nicht ganz so weitgestreckte, aber aus demselben Gestein gebildete Höhenzug des »Ludus tonalis« von Paul Hindemith, und ganz im Hintergrund zeichnet sich jene Bergkette ab, mit der die anderen beiden in unterirdischen Verbindungen zusammenhängen, das »Wohltemperierte Klavier« von Johann Sebastian Bach. Bach lieferte um 1730 herum mit seinen zweimal 24 Präludien und Fugen das modellhafte Opus, an das im 20. Jahrhundert neben Schostakowitsch nur Hindemith noch einmal anknüpfte, unter anderen Voraussetzungen allerdings und mit anderen Zielsetzungen. Hindemiths Sammlung entstand 1942 in den USA, Schostakowitschs Sammlung 1951 in der Sowjetunion.
Was alle drei Sammlungen gemeinsam haben, ist, neben der Beschränkung auf Variationen eines einzigen formalen Modells, die konstruktive zyklische Idee einer Spiegelung des Tonsystems. Handelt es sich deshalb auch aufführungspraktisch gesehen um zyklische Werke? Bei Bach sicher nicht, bei Hindemith mit Sicherheit ja, und bei Schostakowitsch ist die Antwort auf diese Frage umstritten. Es gibt gute Gründe für eine positive Antwort und eigentlich nur einen äußerlichen dagegen. Das ist die schiere Zeitdauer, die jedes normale Konzertformat sprengt: Zweieinhalb Stunden beträgt allein die reine Spielzeit der Musik. Es ist aber eine Bergbesteigung, die das Publikum reich beschenkt.
Als Schostakowitsch, wie es 1951 in der Sowjetunion üblich war, sein Opus 87 vor der Veröffentlichung im Moskauer Komponistenverband begutachten lassen musste, verteilte er seinen Vortrag der Musik auf zwei Tage. Ebenso hielt es die Pianistin Tatiana Nikolajewa bei der bald darauf folgenden öffentlichen Uraufführung. Und auch die Erstausgabe der 24 Präludien und Fugen erfolgte in zwei Bänden, von denen jeder eine numerische Hälfte umfasste, zeitlich ist die zweite Hälfte deutlich länger. Dass der Einschnitt nach dem zwölften Satzpaar allerdings nicht willkürlich ist, sondern als Ergebnis eines Formprozesses erscheint, wird bei einem genaueren Blick in die Noten verständlich, und es lässt sich in der musikalischen Darstellung Alexander Melnikows auch ohne diese Notenkenntnis erleben.
Melnikov gehört zu den entschiedenen Verfechtern einer geschlossenen Aufführung von Schostakowitschs Opus 87. Im Jahr 2010 hat er das ganze Werk in einer Tonaufnahme eingespielt, die bis heute Maßstäbe setzt – in der Durchhörbarkeit, der Genauigkeit und der Gestaltung des großformalen Bogens. Dieser allerdings gewinnt im Konzert erst seine eigentliche Spannung, denn hier gibt es mehr Möglichkeiten, die Zeit zu gliedern. So teilt Melnikov den Zyklus, vom Ganzen her gesehen, nicht in zwei sondern in drei Teile, indem er zwei Pausen einschaltet: die erste nach dem zwölften Satzpaar und eine zweite nach dem 16. Satzpaar. Dies hat mit dem besonderen Charakter und dem inhaltlichen Gewicht der Nummern 13 bis 16 zu tun, die so zu einem Zyklus im Zyklus werden und den Blick in besonderer Weise darauf lenken können, wie Schostakowitsch aus der immergleichen Wiederholung der Satzpaare von Präludium und Fuge eine spannungsvolle und vielschichtige Großform aufbaut. Diese wächst in Kontrasten und Korrespondenzen: bei der Wahl der Charaktere und Genres der unterschiedlichen Präludien oder Fugen, in der Art der Beziehungen innerhalb eines Satzpaares und schließlich auch im Verhältnis der Satzpaare zueinander.
Die mittlere Gruppe der Nummern 13 bis 16, die Melnikov durch Pausen besonders hervorhebt, besitzt einen klaren Höhepunkt, der in gewisser Weise auch einen Höhepunkt des gesamten Zyklus darstellt. Dies ist die Des-Dur Fuge Nr. 15. Sie steht im fortissimo und verlangt durchgehend einen als »marcatissimo« bezeichneten Vortrag. Die umgebenden Fugen dagegen benutzen jenen Tonfall, der insgesamt bei den Fugen dominiert, sie sind fließend gestaltet, im legato und in zurückgenommener Dynamik. Mit der Des-Dur-Fuge verlässt Schostakowitsch zum einzigen Mal im gesamten Zyklus den Boden der Tonalität, und auch ständige Taktwechsel tragen zum schwindelerregenden Charakter dieser Musik bei. Das Präludium davor ist ein schräger Walzer voll Spott und parodistischen Tönen. Melnikov sieht in dieser Gegenüberstellung den extremen Gegensatz zwischen Moskauer Straßenmusik der 1920er-Jahre und der gleichzeitig entstandenen Zwölftontechnik. Dieser unheimliche Höhepunkt ist ein kurzes Stück, zu dem die beiden vorausgehenden Satzpaare eine Einleitung bilden und das folgende einen weit ausschwingenden Ausklang. Die 16. Fuge ist eine der drei längsten. Ihr frei schweifendes Thema mit Verzierungen in der Art von Cembalo-Musik führt assoziativ weit in eine imaginäre Vergangenheit, die auf andere Weise auch in den Präludien Nr. 13 und 14 evoziert wird. Vieles von dem, was in diesem Mittelteil aufeinander trifft, spiegelt den Zyklus als Ganzen. So ist etwa die Schlussfuge des 1. Teils ebenfalls eine der wenigen Marcatissimo-Fugen, ein skeptisches, wenn nicht gar zerrissenes Stück. Die Schlussfuge dagegen, deren Thema schlichte Einfachheit im Stil eines Kinderliedes ausstrahlt, gibt sich ausgeglichen. Schostakowitsch erreicht hier die Tonart d-moll.
Die Wanderung durch je zwölf Dur- und Moll-Tonarten ist nicht wie im »Wohltemperierten Klavier« angelegt, sondern folgt der Anordnung in der Folge des Quintenzirkels, die Chopin bereits in der Sammlung seiner Préludes benutzte. Dur-Tonarten und parallele Moll-Tonarten werden dabei immer nebeneinandergestellt. Es beginnt also in C-Dur, dann folgt a-moll, dann G-Dur und e-moll und so fort. Schostakowitsch hatte jene Anordnung auch zuvor schon in seinen 24 Préludes von 1932 durchdekliniert. Ebenso verwendete er die Fugen-Form, die in der Dogmatik des sozialistischen Realismus grundsätzlich unter Formalismus-Verdacht stand, auch schon zuvor an prominenter Stelle: zusammen mit einem Präludium als Einleitungssatz seines zu Lebzeiten erfolgreichsten Kammermusikstückes, des Klavierquintetts von 1940 und sogar in seiner Propaganda-Kantate »Das Lied von den Wäldern« aus dem Jahr 1949.
Schostakowitschs Sammlung von Präludien und Fugen hat also eine Vorgeschichte in seinem eigenen Schaffen. Aber natürlich ist sie auch eine Auseinandersetzung mit Johann Sebastian Bach, ein Zwiegespräch über die Epochen hinweg – und dies über den äußeren Anlass hinaus, Schostakowitschs vielzitierter Reise zu den Leipziger Feierlichkeiten zu Bachs 200. Todesjahr 1950. Bach, der sich in seinem Alltag gegen allerlei Drangsalierungen der Leipziger Obrigkeit zur Wehr setzen musste, diente Schostakowitsch auch als Spiegel seiner eigenen gefahrvollen Situation im Sowjetstaat. Der Musikwissenschaftler Hans-Joachim Hinrichsen hat überzeugend analysiert, wie Schostakowitsch in seinem Opus 87 zum ersten Mal nicht nur seine später so oft hervortretende eigene Namenschiffre D-Es-C-H in die Musik klingend einarbeitet, sondern sie auch mit dem B-A-C-H-Motiv verbindet. Dies geschieht in der Fuge Nr. 8 in fis-moll, der längsten und nachdenklichsten des ganzen Zyklus. Und in die Fanfaren am Ende der scheinbar so affirmativen letzten Fuge, die sich von d-moll nach D-Dur wendet, blenden sich hartnäckig immer wieder die störenden Initialtöne der beiden Komponisten ein, das B und das Es. Dies bleibt als Zeichen des Widerspruchs, der Individualität in der zweieinhalbstündigen Darstellung einer Totalität des Lebens, demgegenüber Schostakowitsch, wie Melnikov im Text zu seiner CD schreibt, »immer wieder aufs Neue die übermenschliche Kraft findet, ihm die Stirn zu bieten und es zu nehmen, wie es ist – mit seiner Wechselhaftigkeit, seinen Widerwärtigkeiten und gelegentlichen Schönheiten.«
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KONZERTTIPP
19/12/24 Do, 19.00 Uhr · Mozart-Saal
Klavierabend
Alexander MelnikovSchostakowitsch: Präludien und Fugen
Dmitri Schostakowitsch 24 Präludien und Fugen op. 87
Karten unter: https://konzerthaus.at/konzert/eventid/61802
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PORTRÄT ALEXANDER MELNIKOV
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Nähere Informationen unter: https://konzerthaus.at/PAM