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Víkingur Ólafsson
VON ISABEL NEUDECKER
»Ich spiele nur die Musik, die ich absolut liebe.«
Der isländische Pianist und das Werk Johann Sebastian Bachs
Geboren 1984 in Reykjavík, Island, studierte in seiner Heimat bei Erla Stefánsdóttir und Peter Máté. An der Juilliard School in New York ausgebildet von Jerome Lowenthal und Robert McDonald. Gründete ein eigenes Plattenlabel und setzt sich für zeitgenössische Musik ein.
Ein Leben für die Musik – von Beginn an
»Urlaub am Strand oder Urlaub in den Bergen?« Víkingur Ólafsson lacht: »Urlaub im Kopf.« Um schlagfertige Antworten ist der Pianist nicht verlegen. Das passt zu seinem künstlerischen Selbstverständnis: Der 1984 in Reykjavík geborene Ólafsson zählt zu der Generation von Pianist:innen, der auch Yuja Wang (*1987) und Daniil Trifonov (*1991) angehören – Individualist:innen, die ihre Wege selbstbestimmt gehen.
Musik war Ólafsson in die Wiege gelegt: Seine Mutter, eine Pianistin, studierte in Berlin – einer Stadt, der Ólafsson heute noch verbunden ist. Der Vater, Komponist und Architekt, gestaltete in den 1990er-Jahren u. a. Programme für das isländische Radio über György Kurtág. So entdeckte der Sohn schon als Kind seine Liebe zu Kurtág, zur Neuen Musik. Bis heute bildet sie einen Schwerpunkt seines künstlerischen Schaffens – neben dem Dreh- und Angelpunkt Bach.
»Das Klavier war immer mein absolutes Lieblingsspielzeug«, bekannte Ólafsson einmal in einem Interview. Er verfügt einerseits über ein breites Spektrum an Interessen, ihm war aber andererseits früh klar, dass es die Musikerlaufbahn sein musste. Ein Studium an der renommierten Juilliard School in New York bei Jerome Lowenthal gab ihm den entscheidenden künstlerischen Schliff. Der 38-Jährige erhielt zahlreiche namhafte Preise, darunter in jüngerer Vergangenheit den Opus Klassik (zwei Mal) und den Rolf Schock Prize for Music (2022). Darüber hinaus wurde er vom Gramophone Magazine zum »Artist of the Year 2019« und von der Confederation of Scandinavian Societies zur »International Nordic Person of the Year 2023« ernannt.
Künstlerische Kompromisslosigkeit
Die Projekte, die Ólafsson in Angriff nimmt, zeugen von seiner Originalität und seiner Kompromisslosigkeit: So lässt er etwa in einer CD-Aufnahme Debussy auf Rameau treffen (2020), sein Projekt »Reflections« (2021) fügt zur Musik der beiden französischen Meister seine eigenen Reflexionen hinzu (Ólafsson komponiert, wie sein Vater, ebenfalls selber) und scheut auch Arrangements der polnischen Neoklassikerin Hania Rani für Klavier und Synthesizer nicht. Die Ausweitung des pianistischen Kosmos in den elektronischen Bereich illustriert auch sein Projekt »Bach Reworks« aus dem Jahr 2018, bei dem er die Grenzbereiche zwischen den künstlerischen Feldern »Komponieren« und »Reflektieren« auslotet – geleitet von der Idee, künstlerische Impulse des barocken Großmeisters aufzugreifen, ihnen zu folgen und sie weiterzuentwickeln. Seine Debüt-Aufnahme für die Deutsche Grammophon galt dem Klavierœuvre von Philip Glass (2017). Bei »From Afar« (2022) zeigt der Pianist seine Vorliebe für den von ihm verehrten Kurtág, den er auch per- sönlich kennenlernte. Mit »Mozart & Contemporaries« (2021) machte er einen Ausflug zu Mozart und Haydn wie auch zu den im Bereich der Klaviermusik weniger bekannten Komponisten Domenico Cimarosa und Baldassare Galuppi.
»Bach ist immer die Zukunft«
Angesichts dieser eindrucksvollen Hervorbringungen und Ólafssons dichten Tourplans fragt man sich: Was kommt als nächstes? Es folgt ein Projekt, von dem viele Tastenkünstler:innen jahrzehntelang träumen, an das sich aber nur wenige wagen: Bachs Goldberg-Variationen. Dem Bach’ schen Universum hat sich Ólafsson bereits 2018 im Rahmen einer Einspielung gewidmet: mit einer Auswahl von Präludien und Fugen aus dem »Wohltemperierten Klavier«, zwei- und dreistimmigen Inventionen und Choral-Bearbeitungen. Bach begleitet Ólafsson schon lange; er schreibt darüber im Booklet seiner ersten Bach-CD: »Für viele kommt eine Zeit, in der sie sich Bach stellen und einen eigenen Weg finden müssen. Bachs Werke gehörten zwar schon sehr früh zu meiner pianistischen Ausbildung, aber für mich kam diese Zeit, als ich mein Studium in New York gerade abgeschlossen hatte und nach England gegangen war, wo ich niemanden kannte und kaum Engagements hatte. Nach über 20 Jahren wöchentlicher Klavierstunden und ständig zunehmendem Druck durch Konzertauftritte war ich plötzlich ziemlich frei und ohne einen Lehrer. Damals vertiefte ich mich in Bachs Werke und wurde in gewisser Weise sein Schüler, zumindest in meiner Vorstellung. Ich fand, dass Bach genau der Lehrer war, den ich brauchte, einer, der dich lehrt, dein eigener Lehrer zu sein.«
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Ólafsson, der sich als Isländer in seinem Zugang zum Klavierspiel frei fühlte – ein Grund liegt seiner Auffassung nach darin, dass Island nicht wie etwa Russland eine selbständige Tradition hervorgebracht hatte –, fand nun einen eigenen Weg zu Bach. Dieser führte ihn über die Aufnahmen von Jahrhundertpianisten wie Edwin Fischer und Glenn Gould zu seinem eigenen Erleben der Musik Bachs.
Die Goldberg-Variationen: eine große Eiche?
Die Goldberg-Variationen zählen zu den unangefochtenen Meisterwerken der Tastenkunst – hinsichtlich ihrer kompositorischen Komplexität, der Tiefe und Vielfalt der dreißig Variationen und der Ansprüche an die Ausführenden: technische Herausforderungen wie oftmaliges Überkreuzen der Hände bei hohem Spieltempo, ein Sich-Einlassen auf die vielen Verzahnungen von Makround Mikrostruktur des Werks und die Ambiguität einer reichhaltigen, vieldeutigen Musik mit vergleichsweise spärlicher Notation, die viele Fragen zur Verzierungskunst aufwirft. Ólafsson erscheint das erstaunliche Werk nicht wie eine klingende Kathedrale, sondern eher wie eine große Eiche, deren »Formen sowohl reaktionsfähig als auch regenerativ sind, deren Blätter sich ständig entfalten, um durch eine metaphysische zeitverändernde Photosynthese musikalischen Sauerstoff für ihre Bewunderer zu produzieren«.
Das knüpft an seine Sicht auf das künstlerische Meisterwerk an: Es kann in jeder neuen Generation wiederbelebt, von jedem Interpreten, jeder Interpretin neu definiert werden. Für Ólafsson, den begeisterten Leser, der in die Lebensgeschichten »seiner« Komponist:innen eintaucht, ist Bach nicht nur Vergangenheit, sondern auch Zukunft – für Komponist:innen wie Interpret:innen und uns Hörer:innen gleichermaßen. Viel- gestaltig tritt Bach uns als Schöpfer einer eigenen Welt entgegen: als glänzender musikalischer Rhetoriker, als Freigeist, als Philosoph, als Provokateur. All dies ist nachzuhören in den Goldberg-Variationen, die Ólafsson bei seinem Rezital-Debüt im Großen Saal interpretiert. Wer tiefer eintauchen möchte, ergreife die Chance, das einzigartige Opus einige Monate später von einem weiteren Großen der Klavierwelt, Fazıl Say, zu erleben: Große Kunst weist nämlich immer, wie Ólafsson festhält, über den/die Künstler:in hinaus. So gibt es für all jene, die bei Bach, Ólafsson und Say »in die Lehre« gehen möchten, die außergewöhnliche Möglichkeit, hier hörend fürs Leben zu lernen – und zugleich einen faszinierenden »Urlaub im Kopf« zu erleben.
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KONZERTTIPPS
Fr, 03/11/23, 19.30 Uhr · Großer Saal
Klavierabend
Víkingur Ólafsson
Bach: Goldberg-Variationen
Johann Sebastian Bach
Aria mit verschiedenen Veränderungen.
Clavier-Übung IV BWV 988
»Goldberg-Variationen«
Karten:
https://konzerthaus.at/konzert/eventid/60648
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Mi, 17/04/24, 19.30 Uhr · Großer Saal
Klavierabend
Fazıl Say
Bach: Goldberg-Variationen
Johann Sebastian Bach
Aria mit verschiedenen Veränderungen.
Clavier-Übung IV BWV 988
»Goldberg-Variationen«
Karten: