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Tocotronic

Seit mittlerweile dreißig Jahren ist die Indie-RockGruppe Tocotronic eine prägende Konstante in der deutschsprachigen Poplandschaft. Das Quartett hat Gefühl für den Zeitgeist und bleibt sich dennoch selbst treu

VON FLORIAN KÖLSCH

»In Wahrheit war ich nie verreist / wie das Protokoll beweist« singen Tocotronic im 2007 erschienenen Song »Aus meiner Festung«. Die Realität war wohl eine andere: Zahlreiche Konzerte spielte die Band seit ihrer Gründung im Jahr 1993, gar mehr als fünfzig sollen es alleine in Österreich gewesen sein, dokumentiert die Website setlist.fm. Verwunderlich ist das nicht, denn Stillstand war für die deutsche Gruppe ohnehin nie eine Option.

Die Musik der frühen Tocotronic zeichnete sich durch prägnante Songzeilen, krachige Gitarrenriffs und popkulturelle Referenzen aus –nur echt mit Trainingsjacken-Outfit und einer Prise Coming-of-Age. »Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein«, »Michael Ende, du hast mein Leben zerstört« oder »Die Welt kann mich nicht mehr verstehen«: Das Spannungsfeld zwischen Außenseitertum und der Sehnsucht nach Zugehörigkeit wurde hier in griffige Titel gegossen; das Parolenhafte sollte sich Tocotronic auch über die Neunziger hinaus bewahren.

Ursprünglich in Hamburg als Trio, bestehend aus Dirk von Lowtzow (Gesang, Gitarre), Arne Zank (Schlagzeug) und Jan Müller (Bass), gegründet, wurde die Band Anfang der 2000er durch den US-amerikanischen Gitarristen Rick McPhail ergänzt – und vollzog in dieser Zeit einen Stilwechsel.

Die Entwicklung gipfelte im Album »Tocotronic« aus dem Jahr 2002 mit »Hi Freaks«, einem Erkennungsstück der Band. Der Song wurde trotz mehr als sechs Minuten Dauer zu einem Fan-Favoriten, der bei keinem Konzert fehlen darf. »Der sogenannte Realismus fällt nicht weiter ins Gewicht« heißt es darin – und anhand dieser Zeile lässt sich gut der Umbruch hin zum Diskurs-Rock ablesen, der die folgenden Alben prägen sollte. Die Band wandte sich kryptischen Lyrics, sanfteren Melodien sowie einer experimentierfreudigeren Instrumentierung zu – ohne die Eingängigkeit zu vergessen.

Auf die markigen Parolen verzichtet die Band aber auch seither nicht: Der Song »Sag alles ab« etwa, bereits 2007 auf dem Album »Kapitulation« erschienen und ursprünglich als slackerhafte Hymne gegen die Leistungsgesellschaft gedacht, bekam während der Corona-Pandemie eine neue Bedeutung. Mehr als ein Jahrzehnt nach Veröffentlichung war der Text also aktueller denn je.

Auf dem Titelsong ihres im Jänner 2022 erschienenen Albums »Nie wieder Krieg« heißt es noch: »Nie wieder Krieg / Das ist doch nicht so schwer«. Einen Monat nach Veröffentlichung der Platte brach mitten in Europa ein Krieg aus; eine solche Aktualität konnte sich niemand wünschen.

Die Lieder des jüngsten Albums tragen Trost und Optimismus in sich. In »Hoffnung« heißt es: »Wenn ich dich nicht bei mir wüsste / hätte ich umsonst gelebt«. Die Ballade »Ich tauche auf« singt Dirk von Lowtzow mit Anja Plaschg alias Soap & Skin; sie ist der erste und bisher einzige Feature-Gast auf einem Tocotronic-Album.

Auch nach dreißig Jahren und 13 Studioalben – acht davon erreichten die Top 10 der österreichischen Albumcharts – bleibt sich die in Hamburg und Berlin beheimatete Band treu. Für viele ist Tocotronic deswegen vor allem eines: ein musikalischer Weggefährte, der den Sound und das Lebensgefühl einer Generation prägte. Und dieser Weggefährte betritt nun erstmals die Bühne des Großen Saals im Wiener Konzerthaus.

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KONZERTTIPP

12/11/23
So, 19.30 Uhr · Großer Saal Stehkonzert

Tocotronic
Dirk von Lowtzow, Gesang, Gitarre
Rick McPhail, Gitarre, Keyboards
Jan Müller, E-Bass
Arne Zank, Keyboards, Schlagzeug

Karten:

https://konzerthaus.at/konzert/eventid/60671

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