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DIE KUNST DER UNGESCHMINKTEN WAHRHEIT
HISTORISCHE
UND KULTURHISTORISCHE
VORAUSSETZUNGEN DES VERISMO
In der Nacht zum 1. Oktober 1862 fielen an verschiedenen Plätzen Palermos dreizehn Menschen unter den Messern geheimnisvoller Mörder. Nur einer konnte verhaftet werden, der aber seinen Auftraggeber preisgab: Der Anführer war der Fürst von Sant’ Elia, einer der am meisten geachteten, mächtigsten und reichsten Männer Palermos, Senator im neuen Parlament in Rom. Im Zuge des Prozesses stellten sich Querverbindungen zu Rom heraus, die auf eine probourbonische Verschwörung schließen ließen. An einer genauen Aufdeckung der Vorfälle hatte jedoch niemand Interesse. (Der Staatsanwalt beim Prozess war übrigens Guido Giacosa, der Vater des späteren Mitautors vieler bekannter veristischer Opern, Giuseppe Giacosa.)
Francesco Crispi, sizilianischer Politiker zunächst an der Seite Garibaldis, dann radikaler Sozialist, der sich jedoch nicht scheute, 1894 als Ministerpräsident den Belagerungszustand über seine Heimatinsel zu verhängen, meinte damals im römischen Parlament: »Ich glaube, dass das Geheimnis fortdauern wird und dass wir die Dinge niemals so kennenlernen werden, wie sie sich tatsächlich abgespielt haben.« Und so war es auch. Leonardo Sciascia, prominentester lebender Schriftsteller Siziliens, der in seinen Büchern vor allem dem Geheimnis der Bewohner dieser Insel nachspürt, fügt sarkastisch an den Schluss seiner literarischen Untersuchung dieser Vorfälle: »So bereitete man sich darauf vor, Italien zu regieren.«
Dieses Ereignis führt zum Kern eines Problems, das für den literarischen Verismo von großer Bedeutung ist: dem Unterschied zwischen dem Norden und dem Süden des Landes, sowohl in wirtschaftlichen als auch sozialen Belangen. Das südliche Gebiet deckt sich mit den früheren Regionen des »Königreichs beider Sizilien«. Ein halbes Jahrhundert nach der Vereinigung Italiens schrieb der Historiker Enrico Ferri in seiner Untersuchung der sizilianischen Revolutionen und Aufstände: »Ich habe immer gedacht, dass die großen Unterschiede zwischen Nord und Süd in der sozialen Entwicklung vor allem und fast ausschließlich auf den verschiedenen Volkscharakter und das Klima zurückzuführen sind […] Der geringere soziale Aufstieg ist aber zum größten Teil die Auswirkung der rückständigen Bedingungen der lokalen Wirtschaft. Die Frage des Südens ist die Bleikugel an den Füßen der italienischen Zivilisation […] Man wird vergeblich um eine Verbesserung kämpfen, solange wir von Rom aus nach Süden das materielle und moralische Elend haben.«