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ILLUSION UND REALITÄT Anmerkungen zu Pagliacci

Wenn schon das Ineinanderspiel von Ritus und persönlicher Handlung, dieses Geheimnis von Cavalleria rusticana, nicht gerade das spezifische Anliegen der Verismo-Schule ist, so hat das Libretto von Pagliacci ein noch geringeres naturalistisches Interesse, denn das Thema hier ist die psychologische Vexierfrage: »Wer bin ich eigentlich? Wer bist du eigentlich?« Sie wird durch drei Widersprüche dargetan. Erstens durch den Widerspruch zwischen dem Künstler, der aus reinen Freuden und Leiden sein Werk schafft, und seinem Publikum, das sich an diesem Werk ergötzt, das die imaginären Freuden und Leiden, welche wahrscheinlich von denen seines Schöpfers sehr verschieden sind, genießt. Zweitens durch den Widerspruch zwischen den Schauspielern, welche die Gefühlsregungen zumindest imaginativ empfinden. Und schließlich durch den Widerspruch zwischen den Schauspielern als Berufsschauspieler, die imaginäre Gefühle darstellen müssen, und den Schauspielern als Männer und Frauen, die ihre eigenen realen Empfindungen haben. Wir sind alle Schauspieler, wir müssen sehr oft die wahren Gefühle, die wir füreinander hegen, verbergen, und uns selbst überlassen, werden wir beständig das Opfer von Selbsttäuschungen. Wie sind nie dessen sicher, was im Herzen anderer vorgehen mag, wiewohl wir gewöhnlich unsere Kenntnis dieser Vorgänge überschätzen — doch das Entsetzen über die Aufdeckung einer Treulosigkeit und die Martern der Eifersucht entspringen dieser Ahnungslosigkeit. Andererseits sind wir überzeugt, dass niemand uns so sieht, wie wir wirklich sind. Im Prolog spricht Tonio von der Rollenbesetzung und erinnert die Zuschauer daran, dass Künstler und Schauspieler Menschen sind. Wenn wir zum Spiel im Spiel gelangen, kommen alle Widersprüche gleichzeitig zur Auswirkung. Nedda ist halb Schauspielerin, halb Frau, denn sie drückt ihre wahren Gefühle in einer imaginären Situation aus; sie ist verliebt, doch in den Beppe, der den Harlekin spielt. Beppe ist purer Schauspieler; als Mensch ist er in niemanden verliebt. Tonio und Canio sind sie selbst, denn ihre wahren Gefühle und die Situation, in welcher sie auftreten, entsprechen einander: was dem Zuschauer zu erhöhtem Genuss gereicht, denn dadurch wird ihr Spiel überzeugender. Schließlich ist da noch Neddas Liebhaber Silvio, der aus dem Publikum kommt, in die Handlung verwickelt wird, obzwar bislang noch unsichtbar. Wenn Nedda als Colombina von Harlekin den für ihren Part geschriebenen Vers »A sta flotte – e per sempre tua sarò!« rezitiert, erleidet Canio als Pagliaccio Qualen, weil er Nedda, als sie sie selbst war, die nämlichen Worte gegen den ihm noch unbekannten Liebhaber verwenden hörte. Man braucht sich nur auszumalen, wie es in der Oper zuginge, wenn, bei gleicher Situation zwischen den Figuren, die Commedia fortgelassen würde, um innezuwerden, in wie hohem Maße das Interesse an der Oper von der Frage nach Illusion und Realität abhängt: einem Problem, das angeblich nur die Idealisten beschäftigt …

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