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DIE KLEINEN KATASTROPHEN DES HERRN GIOVANNI V.

»Die einfache menschliche Geschichte wird uns immer zum Nachdenken bringen: Sie wird immer die Wirksamkeit haben, echte Tränen, Fieber und Empfindungen zu bieten, die durch das Fleisch gegangen sind«. So schrieb Giovanni Verga im Jahr 1880 an seinen Freund Salvatore Farina, in einem Brief, der als geheimes Programm des literarischen Verismo in die Geschichte eingehen sollte. Und: »Sie werden es aufrichtig begrüßen, sich mit den nackten, unverfälschten Tatsachen konfrontiert zu sehen, ohne sie zwischen den Zeilen eines Buches, also durch die Brille des Schriftstellers lesen zu müssen«. Was Verga hier in zwei Sätzen umreißt, ist die radikale, wenn auch nicht radikal gemeinte, Abkehr von einer poetisch-kolorierenden, einer ausschmückenden und künstlerisch filternden Literatur und gleichzeitig die Hinwendung zu einer dokumentierenden, in der der Autor (nur mehr) Berichterstatter sein will. Auf den Feldwegen, so sagt Verga, habe er seine Geschichten eingesammelt, was er beschreibe, sei also die Wahrheit, die Realität: vor allem aber die Realität des sogenannten kleinen Mannes. Die genannten Feldwege geben hier nicht nur Auskunft über die Örtlichkeit der Stoffe, die zumeist dem (Land-)Arbeiter-Milieu entstammen, sondern auch über deren Alltäglichkeit: Was man liest, ist eben nicht den Staatsgeschäften abgelauscht, sondern den zahllosen unauffälligen Wegen der Provinz. Und wenn der Naturalist Emile Zola zehn Jahre zuvor in seinem Vorwort zum Skandalroman Thérèse Raquin schreibt, ihn hätten die Temperamente und nicht die Charaktere seiner Figuren interessiert, so vollzieht Verga diesen

Schritt der Entpersönlichung nicht: Die neue den Menschen erforschende, psychologisch-analytische »Wissenschaftlichkeit« der Literatur, die sein französischer Kollege propagiert, die ist Verga weitgehend fremd. Durchleuchtet Zola Figuren, »die unumschränkt von ihren Nerven und ihrem Blut beherrscht werden, ohne freien Willen sind und zu jeder Handlung in ihrem Leben hingerissen werden durch das Verhängnis ihres Fleisches«, so ist es bei Verga stärker das Korsett der sozialen Herkunft, das zum beherrschenden Motiv wird. Dieses wird aufgezeigt, aber nicht lautstark gewertet oder kommentiert: kein Klassenkampf, sondern Tatsachenbericht, trocken gebracht. Und auch wenn es das kleine, persönliche Schicksal ist, auf das Verga fokussiert, ist es weniger das höchstpersönliche Individuum als ein Typus, der zum Darsteller wird. Haben die Figuren auch ihre Geschichte, so sind sie dennoch weitgehend austauschbar. Alltäglich eben.

Die Hinwendung zum realistischen Erzählbericht war Verga nicht in die Wiege gelegt. 1840 wurde er in eine kleinadelig-großbürgerliche, jedenfalls aber wohlhabende Familie in Catania geboren, sein Weg wäre jener des Juristen gewesen. Das entsprechende Studium brach er allerdings nach ersten literarischen Erfolgen ab, wenn diese auch noch einem gänzlich anderem als dem späteren verististen Stil geschuldet waren. Verga versucht sich zunächst ausführlich an romantisierenden, milieuschildernden Stoffen, entwirft herzzerreißende Liebesgeschichten, die das Leiden und mitunter den Untergang der Heldinnen und Helden schildern, zuweilen blitzt Autobiografisches durch: nicht umsonst wählt er im Roman Eva etwa die Ich-Form des Erzählers. Ins Tragische weisende Liebeshandlungen, Schwindsucht, materielle Not, das Leben in Künstlerkreisen, Geisteskrankheit, Selbstmord, Tänzerinnen, Studenten und Maler bestimmen seine ersten Romane. Erst mit der Novelle Nedda schlägt er einen anderen Ton an: zwar geht es auch hier um Leid, Liebe, Tod, doch erlebt man nun ein neues Genre. Die junge Nedda, aus tiefster Armut kommend, erlebt Ungerechtigkeit und das Sterben ihrer Mutter, ist unscheinbar, die schwere, schlecht bezahlte körperliche Arbeit bestimmt alle ihre Lebenszustände: »Ihre durch enorme Lasten gedrückten oder von mühsamen Kraftanstrengungen überentwickelten Glieder waren plump geworden, ohne kräftig zu sein«, schildert Verga die Protagonistin. Kümmert sie sich auch um ihre Mutter, so zwingt sie die Not, ans Überleben zu denken – und sogleich erntet sie das Missfallen der sie umgebenden, hartherzigen Umgebung; ihre kleine Liebesgeschichte endet tragisch, die Gesellschaft verstößt die Schwangere, ihr Kind stirbt an Unterernährung.

Dass die Natur, ein zentrales Element der Verga’schen Geschichten, berauschend schön wie auch schicksalshaft unbezwingbar ist, verstärkt das Bewusstsein des Ausgeliefertseins des Menschen; dass Verga die Naturzustände mit wirtschaftlichen Nöten verbindet, indem ein anhaltender Regen die Erwerbstätigkeit der Erntehelfer einschränkt, ist ein dramaturgischer Kniff, der zu einer unterschwelligen Verdichtung der Ausweglosigkeit führt.

Verga berichtet all das sachlich, lässt seine Figuren nicht gegen soziale Umstände anfechten, doch liest sich die Novelle nicht so unpolitisch, wie mitunter behauptet. Denn gerade durch den mitunter lakonischen Stil, in dem die Welt, wie sie nun einmal ist, gezeigt wird und die Menschen, wie sie sich nun einmal verhalten, vorgeführt werden, verweist Verga auf das Ungleichgewicht und die Ungerechtigkeit. Die Schilderung des Leides wird durch die Geradlinigkeit der Sprache vor Rührseligkeit bewahrt, die faktische, knappe, fast unpersönliche Beschreibung schafft einen genauen Weltbefund. Verga wertet nicht als Erzähler, er schafft aber Tatsachen, die nur eine Wertung zulassen. Die Frage nach den Gründen muss nicht angesprochen werden: sie sind offenbar. »Das Aufzeigen des dunklen Bandes zwischen Ursache und Wirkung wird der Kunst der Zukunft gewiss nützlich sein«, befindet der Autor brieflich. Dass sich seine Figuren den Lebensumständen fügen, macht diese fast noch drastischer; dort jedoch, wo sie sich, wie in der Novelle Freiheit, tatsächlich auflehnen, schildert Verga nicht die Gründe der blutigen Revolte, sondern das entmenschlichte Gemetzel auf beiden Seiten. Die Ursache, die liegt auf der Hand. Der brutale, blutige Rausch der Revolution und das nachfolgende Sich-Einfügen in die alten Gesetzmäßigkeiten schaffen eine fatalistische Grundstimmung, die bitterer noch wirkt als jedes groß inszenierte Revolutionsdrama.

Dass die ungemeine materielle Not die Ursache, die unüberwindbare Ursache des persönlichen Leides ist, daran besteht in seinen Sizilianischen Erzählungen kein Zweifel. Es ist der wirtschaftliche Mangel, die die Familien auseinanderbringt, der den Menschen entmutigt, die Personen aus ihrer Heimat vertreibt. Es ist – auch jenseits der harten Not – aber oftmals das Geld an sich, das Handlungen bestimmt: Aus finanziellen Interessen wählt Lola in der kurzen Novelle Cavalleria rusticana Alfio. Im Roman La Malavoglia wiederum löst der riskante Versuch, ans dringend benötigte Geld zu kommen, eine anhaltende Folge an Unglücksfällen aus: Von nun an geht es mit der Familie Malavoglia zweihundert Seiten lang bergab.

Die Armut beschreibt Verga dokumentarisch, verweist schmucklos auf zahlreiche, situationsbeschreibende Details, so etwa in der Novelle Der Herr Lehrer, in der die Morgenroutine eines tragisch-armseligen Dorfpädagogen geschildert wird: »Mit der Linken nahm er den Kaffeekocher vom kleinen Ofen, der gleichzeitig als Herd diente, dann die Tasse ohne Henkel vom Wandbrett über dem Ofen, wusch diese in einer zersprungenen Schüssel aus, die zwischen zwei Steinen baumelte, und trug endlich das Licht in einen durch einen alten Vorhang abgetrennten kleinen Raum.« Kleiner Ofen, Tasse ohne Henkel, zersprungene Schüssel, alter Vorhang, kleiner Raum: gleich fünf Hinweise auf die Armut in einem einzigen Satz, der von einem ähnlichen gefolgt wird. Verga braucht hier keinen grimmig-gierigen Gutsherren zur ausbeuterischen Schandtaten zu nötigen: Die Geschichte erzählt sich auch so.

Gleichzeitig führt er auch die moralische Schwäche des Menschen vor: Ehebruch ist ein erstaunlich häufiger Topos in seinen Geschichten, wobei die Schuld gleichmäßig verteilt wird. Hier ist der Mensch gleich, ob arm oder reich, ob Mann oder Frau. Ob es nun der wohlhabende Alfonso ist, der eine Affäre mit der Frau seines armen Jugendfreundes Jeli hat (und diese mit dem Leben bezahlt) oder der Küchenjunge Brasi, der aus reiner Geldgier seine Verlobte in eine Affäre mit dem reichen Hausherren treibt: die Verwerflichkeit ihres Handelns ist vergleichbar. Diese ironisch auszugleichen versucht Verga in der Geschichte des eifrigen Nanni Volpe, der dem Ehebruch seiner Frau auf die Spur kommt und sich mittels eines Testamentschwindels rächt. Das ist das einzige Moment eines spitzbübischen Humors, das in den Sizilianischen Erzählungen zu finden ist; zu mehr als einer trocken-beschreibende Ironie reicht es an anderer Stelle nie.

Verga schrieb seine sizilianischen Geschichten aus der Erinnerung, teils fern der Heimat, und betrieb keine expliziten Fallstudien: gerade das kommt ihrem allgemein-dokumentarischen Charakter entgegen. Die – männlichen und weiblichen – Bauern, Arbeiter, Wirte und Fischer samt Familien wirken so allgemeingültiger, wenn sie auch genau beschrieben und benannt werden. Sie sind einzelne Schicksale, aber keine Einzelschicksale und beschreiben das Fehlen des gerechten Glücks der großen Mehrheit; weder Helden noch Anti-Helden, sondern Besiegte des Schicksals – war doch Die Besiegten der Übertitel eines, wenn auch nicht abgeschlossenen, Romanzyklus’ von Verga. Besiegte, deren Unglück die Weltgeschichte zwar nicht ins Wanken bringt, deren Leben aber von »weniger dramatischen, aber nicht minder schicksalsmäßig wirkenden Katastrophen« heimgesucht wird.

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