Oliver Láng
DIE KLEINEN KATASTROPHEN DES HERRN GIOVANNI V. »Die einfache menschliche Geschichte wird uns immer zum Nachdenken bringen: Sie wird immer die Wirksamkeit haben, echte Tränen, Fieber und Empfindungen zu bieten, die durch das Fleisch gegangen sind«. So schrieb Giovanni Verga im Jahr 1880 an seinen Freund Salvatore Farina, in einem Brief, der als geheimes Programm des literarischen Verismo in die Geschichte eingehen sollte. Und: »Sie werden es aufrichtig begrüßen, sich mit den nackten, unverfälschten Tatsachen konfrontiert zu sehen, ohne sie zwischen den Zeilen eines Buches, also durch die Brille des Schriftstellers lesen zu müssen«. Was Verga hier in zwei Sätzen umreißt, ist die radikale, wenn auch nicht radikal gemeinte, Abkehr von einer poetisch-kolorierenden, einer ausschmückenden und künstlerisch filternden Literatur und gleichzeitig die Hinwendung zu einer dokumentierenden, in der der Autor (nur mehr) Berichterstatter sein will. Auf den Feldwegen, so sagt Verga, habe er seine Geschichten eingesammelt, was er beschreibe, sei also die Wahrheit, die Realität: vor allem aber die Realität des sogenannten kleinen Mannes. Die genannten Feldwege geben hier nicht nur Auskunft über die Örtlichkeit der Stoffe, die zumeist dem (Land-)Arbeiter-Milieu entstammen, sondern auch über deren Alltäglichkeit: Was man liest, ist eben nicht den Staatsgeschäften abgelauscht, sondern den zahllosen unauffälligen Wegen der Provinz. Und wenn der Naturalist Emile Zola zehn Jahre zuvor in seinem Vorwort zum Skandalroman Thérèse Raquin schreibt, ihn hätten die Temperamente und nicht die Charaktere seiner Figuren interessiert, so vollzieht Verga diesen OLI V ER LÁ NG
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