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VERISMO UND DIE »SPALTUNG« DES ICHS
»Es«, »Ich«, »Über-Ich« sind verschiedene Ebenen der Selbstobjektivierung. Sigmund Freud hat, wie ihm die neuere Literatur immer häufiger unterstellt,1 nicht die Natur des Menschen beschrieben, sondern vielmehr eine moderne Struktur des Bewusstseins, die sich von Medien wie Roman, Oper, Sport, Melodrama und dem aufkommenden Film herleitet.2 Manche der Freud’schen Ideen lassen sich wie eine Art ästhetische Theorie des Opernverismo lesen.3
All dies hängt mit der übermächtigen Tendenz seit dem späteren 19. Jahrhundert zusammen, das Bild für das Abgebildete, das Maß für das Gemessene, das Modell für das Wirkliche zu nehmen, also Eigenschaften der Beobachtung als Eigenschaften des Beobachteten auszugeben.
Egon Voss hat in seiner Analyse von Mascagnis Cavalleria rusticana gezeigt, dass der gesellschaftliche Rahmen der Handlung genau genommen aus zwei ineinander verschränkten »objektiven« Ordnungen besteht, die den Figuren als »Über-Ich« dienen: dem Katholizismus der Dorfbevölkerung und einer archaischen, vorreligiösen Ordnung, die im Moment der Entscheidung Priorität beansprucht.4 Dieses in sich bereits gespaltene Über-Ich gerät nun noch in Widerspruch zur Triebhaftigkeit der Subjekte, zu ihrem »Es«: Das Ich ist gefangen zwischen den gesellschaftlichen Er wartungen und seiner »Natur«, zwischen Kausalitäten, die sich mit unerbittlicher Strenge vollziehen und das tragische Scheitern zur unausweichlichen Konsequenz eines determinierten Ablaufs machen. Wie das Bühnenereignis oder der Film eine objektive Folie für das subjektive Erleben des Publikums darstellen, so sind die technischen Regeln, mit denen die Figuren des Spiels, gleich wie die Sänger auf der Bühne, sich zu messen gezwungen sind, objektive Folien für ihr subjektives Verhalten, ohne die es ihre Subjektivität gar nicht gäbe. In der
Oper ist es der Kontrast von Begleitung und Melodie, von Chor und Solist, von rhythmisch-harmonischem Raster und individueller Ausgestaltung, die in der symbolischen Befreiung von der Konvention deren produktiven Zwang feiern soll – Konvention, die zur technischen Regel transformiert und damit beherrschbar gemacht ist. Mit ihrer Reproduktion auf dem Theater wird die Verfügbarkeit des Unverfügbaren oder die Regularität des Irregulären gefeiert. Vor der Folie eines vorgezeichneten gesellschaftlichen oder natürlichen »Funktionierens« vollzieht sich das Drama der Einzelsubjekte. Es ist nicht der Wille der Götter wie in der antiken Tragödie, sondern es sind die Kausalketten der modernen Technik, an denen das Individuum sich reibt. In Ruggero Leoncavallos Pagliacci (1892) ereignet sich das Eifersuchtsdrama vor der Folie eines Bühnenspiels, das dieselbe Ehebruchsgeschichte mit derselben Rollenverteilung darstellt, wenn auch als Komödie. Die Konstellation des »Mediums im Medium«, der »Reproduktion in der Reproduktion«, der Subjektivierung einer Objektivierung als individuelles Lesen des veröffentlichten Geschriebenen, ist hier in ihrer traditionellsten Erscheinungsform, dem Theater auf dem Theater, verdeutlicht. Das Ich der Protagonisten verdoppelt sich dabei wie das Ich der Sänger, die in ihre Rollen schlüpfen, und das Ich der Zuschauer, die sich von ihrem Platz aus in das fiktive Geschehen hineingezogen fühlen. Und alle blicken subjektiv auf ein Objektives.
Der Illusionsbruch des wirklichen Mords nach dem Schema »aus Spiel wird Ernst» als Canio Nedda ersticht und damit der doppelten Fiktion der Komödie ein Ende macht, der dem Sänger seinerseits die Möglichkeit gibt, sich »ganz« mit Canio zu identifizieren, wirkt authentisch, denn im selben Moment gewinnt das Publikum Distanz zur Bühnenillusion, indem es sich klar macht, dass der »wirkliche« Mord nur Illusion, ein Opernkunststück ist und dass es die darstellerische Leistung des Protagonisten bewundern soll. Die übermäßige Identifizierung der Figur mit ihrer Rolle des Eifersüchtigen beendet zugleich das Rollenspiel, und Desillusionierung wirkt stets authentisch. Der Distanzverlust der Figur sowie der Distanzgewinn des Zuschauers macht die Differenz der Akteure zu ihren Rollen, also ihre Doppelung in eine ausgeübte Funktion und ihren Beobachter, bewusst. Beobachtung instrumentalisiert das Ich zu einem Medium, dem »Formen« aufgetragen werden, sowie der Theatertruppe das Komödienspiel.
Die objektivierende oder desillusionierende Strategie des Bühnengeschehens, Loslösung von einer angenommenen und Hinwendung zu einer »wirklichen« Identität, reproduziert sich ein weiteres Mal zwischen Bühne und Zuschauerraum. Dieser parallele Vorgang bringt stets die großen Wirkungen hervor. Demaskierung des Akteurs scheint sein wahres Gesicht aufzudecken, und seien noch tausend Masken darunter, aber damit wird dem Beobachter eine Maske aufgesetzt. Die solcherart gefundene gemeinsame Dimension der Beobachter, als ihr Modell, ihre Perspektive, so lautet die immer gleiche Botschaft dieses Vorgangs, überwindet Differenzen, macht tote Zeichen lebendig, führt Wirkungen auf ihre Ursachen zurück, ob das nun Musiknoten oder Klischeevorstellungen seien. Dramaturgische Konzepte dieser Art, die zu den klarsten Erscheinungsformen »doppelter Reproduktion« gehören, gibt es in zahlreichen Melodramen, etwa in Carmine Gallones Film Amami Alfredo! (1940), in dem eine Opernsängerin, die die Titelpartie von Verdis Traviata (1853) darstellt, von einer eigenen, allerdings fälschlich diagnostizierten Lungenkrankheit erfährt.5
1 Siehe Elaine Showalter, Hystories. Hysterical Epidemics and Modem Media, New York 1997; Mikkel Borch-Jacobsen, Anna O. zum Gedächtnis. Eine hundertjährige Irreführung, München 1998
2 Erwähnt sei hier nur Sigmund Freuds Interesse am Witz als einer Technik, unter Ausnützung eines »Lustmechanismus«ein Publikum zu punktueller Identität zu bringen; eine Betrachtungsweise, die sich ohne das populäre Theater seiner Zeit, ohne Schwank und Operettendialog, nicht denken ließe: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten, in: Ders., Studienausgabe, Bd. 4, Frankfurt am Main 1970, S. 13–219
3 Besonders auffällig in Freuds Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921) mit seinem zentralen Begriff der »Identifizierung«, in: Ders., Studienausgabe, Bd. 9, Frankfurt am Main 1982, S. 61–134
4 E. Voss, Pietro Mascagni: Cavalleria rusticana, in: Carl Dahlhaus, Sieghart Döhring (Hrsg.), Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters, Bd. 3, München 1989, S. 705–708
5 Zur Oper im italienischen Film siehe Cristina Bragaglia, Fernaldo Di Giammatteo, Italia 1900–1990. L’opera al cinema, Florenz 1990
»Über die normale Eifersucht ist analytisch wenig zu sagen. Es ist leicht zu sehen, dass sie sich wesentlich zusammensetzt aus der Trauer, dem Schmerz um das verlorengeglaubte Liebesobjekt, und der narzisstischen Kränkung, soweit sich diese vom anderen sondern lässt, ferner aus feindseligen Gefühlen gegen den bevorzugten Rivalen und aus einem mehr oder minder großen Beitrag von Selbstkritik, die das eigene Ich für den Liebesverlust verantwortlich machen will.«