Mathias Spohr
VERISMO UND DIE »SPALTUNG« DES ICHS »Es«, »Ich«, »Über-Ich« sind verschiedene Ebenen der Selbstobjektivierung. Sigmund Freud hat, wie ihm die neuere Literatur immer häufiger unterstellt,1 nicht die Natur des Menschen beschrieben, sondern vielmehr eine moderne Struktur des Bewusstseins, die sich von Medien wie Roman, Oper, Sport, Melodrama und dem aufkommenden Film herleitet.2 Manche der Freud’schen Ideen lassen sich wie eine Art ästhetische Theorie des Opernverismo lesen.3 All dies hängt mit der übermächtigen Tendenz seit dem späteren 19. Jahrhundert zusammen, das Bild für das Abgebildete, das Maß für das Gemessene, das Modell für das Wirkliche zu nehmen, also Eigenschaften der Beobachtung als Eigenschaften des Beobachteten auszugeben. Egon Voss hat in seiner Analyse von Mascagnis Cavalleria rusticana gezeigt, dass der gesellschaftliche Rahmen der Handlung genau genommen aus zwei ineinander verschränkten »objektiven« Ordnungen besteht, die den Figuren als »Über-Ich« dienen: dem Katholizismus der Dorfbevölkerung und einer archaischen, vorreligiösen Ordnung, die im Moment der Entscheidung Priorität beansprucht.4 Dieses in sich bereits gespaltene Über-Ich gerät nun noch in Widerspruch zur Triebhaftigkeit der Subjekte, zu ihrem »Es«: Das Ich ist gefangen zwischen den gesellschaftlichen Erwartungen und seiner »Natur«, zwischen Kausalitäten, die sich mit unerbittlicher Strenge vollziehen und das tragische Scheitern zur unausweichlichen Konsequenz eines determinierten Ablaufs machen. Wie das Bühnenereignis oder der Film eine objektive Folie für das subjektive Erleben des Publikums darstellen, so sind die technischen Regeln, mit denen die Figuren des Spiels, gleich wie die Sänger auf der Bühne, sich zu messen gezwungen sind, objektive Folien für ihr subjektives Verhalten, ohne die es ihre Subjektivität gar nicht gäbe. In der M AT HI AS SPOHR
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