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ZWEI MINUTEN VOKALES SEELENPANORAMA
Marginalien zu »Vesti la giubba«
»Lache, Bajazzo« ist wahrscheinlich eine der berühmtesten aller Tenorarien, bekannt auch manchem, der gar nicht weiß, wo und warum da einer lachen soll. Sie steht seit Jahrzehnten in der Hitparade der Ritter vom hohen C, obwohl sie gar kein C, sondern nur ein A erfordert; man kann sie auf zig Gesamteinspielungen hören, die Einzelaufnahmen sind Legion.
Liegt die Würze in der Kürze? – Mit dem ausgedehnten Orchesternachspiel dauert die Arie etwas über drei Minuten; bei Wagner singen die Helden kaum je unter zehn. Sonzognos Preisausschreiben für Operneinakter, das zuwider der Tradition solch gutgemeinter Kulturförderung nicht zu Totgeburten oder Einabendfliegen führte, sondern Wiege des »Verismo« war –dieser Concours hatte Beschränkung der Mittel gefordert: Dramatisch geballte Handlung auf einer Szene (Pagliacci wurde ausschließlich wegen der zweiaktigen Form abgelehnt). Der Zwang zur Kürze erforderte lapidaren Ausdruck. Individuelle Schicksale und Konstellationen mussten stenografisch, mit der Härte eines Polizeiberichts formuliert werden. Epische Zaubermärchen, Historiengemälde, lyrische Tragödien waren hier nicht gefragt; wohl aber Destillate der Realität, Augenblicksaufnahmen aus jenem »wirklichen Leben«, das der Prolog zu Pagliacci als Keimzelle wahrer Kunst preist.
Liegt vielleicht in der Kürze die Wahrheit? – Und ist sie es (oder beides?), was Interpreten und Hörer fasziniert in »Vesti la giubba«? Vergegenwärtigen wir uns die Situation, die Arie: Canio hat erfahren, dass seine junge Frau ihn betrügt. Gedemütigt, enttäuscht, verzweifelt ist er, in Rage – aber er muss sich für die Abendvorstellung der Komödie vorbereiten, die ironisch seine eigene Lebenssituation widerspiegelt: Er spielt den Bajazzo, den Clown, den Hopf. Das Schminken will ihm nicht von der Hand gehen: »Bist du ein Mensch?« fragt er sich – ein bitteres Lachen: »Du bist nur Bajazzo …« – »Und wenn Harlekin mit Colombina davonläuft, dann lache, Bajazzo, und das Publikum wird applaudieren« – und noch einmal »Lache, Bajazzo, auch wenn dein Leben zerstört ist, lache, auch wenn das Leid dein Herz vergiftet …« Welch eine Situation, welch ein Seelenpanorama – zwei Minuten nur und ein paar Sekunden vergönnt Leoncavallo seinem Sänger, das Publikum in Gefährten seines Grams zu verwandeln.
Die Arie besteht aus einem Einleitungsrezitativ, a-Moll, im 4/4-Takt rhythmisch zu deklamieren; dann folgt das e-Moll/E-Dur-Arioso »Vesti la giubba«, für dessen Tempo Leoncavallo Adagio angibt. Es fordert nur dreimal das A, aber sein Höhepunkt bringt eine Stimmeruption, die Notenfolge Fis, G, A muss gleichsam gehämmert werden. Der Komponist hat in diesen Passagen jede Note mit Ausdrucks- und Vortragszeichen versehen, und jeder Sänger, der genau diese Anweisungen befolgt, die Notenwerte exakt beachtet, muss allein dadurch dramatische Überzeugungskraft gewinnen.
Canio ist vom Tage der Uraufführung an eine Paraderolle aller Tenöre aller Länder gewesen – und sie alle werden noch immer an Caruso gemessen. Enrico Caruso hat Canio in allen großen Opernhäusern der Welt gesungen, natürlich auch in Wien … an der Metropolitan Opera allein 127mal. »Vesti la giubba« hat er dreimal aufgenommen – und von der Aufnahme 1907 darf man sagen, dass sie Interpretationsgeschichte gemacht hat. Trotz der für unsere Hörgewohnheiten sehr beeinträchtigten Stimmwiedergabe übertragen sich noch immer die Intensität Carusos, die Verschmelzung von Wort und Ton, von Menschenseele und musikalischer Formung, man spürt die vollkommene Identifizierung mit Gestalt und Geschick. Ein Blick auf die Partitur lehrt, dass Caruso ihr objektiv peinlich genau folgt und subjektiv an den frei zu gestaltenden Ritardandi-Stellen geradezu nachtwandlerisch sicher ein musikalisch überzeugendes Verhältnis zum Grundtempo und Grundrhythmus herzustellen weiß.
Die Interpretation Enrico Carusos hat die Zeitgenossen fasziniert. Die Epoche, in der Hans von Bülow seine Sopranistinnen mit »Meine WagnerPrimatonnen« vorgestellt hatte, ging erst zu Ende, dickbäuchige Lohengrine und schwammige Tristane wirkten nicht komisch, Violettas siechten vergnügt, anderthalb Zentner schwer, an Schwindsucht dahin … Caruso, der dramatische Gestalter, muss da wie ein Meteorit eingeschlagen haben.
Alexander Berrsche hat 1913 dessen Interpretation des Canio zu analysieren versucht – und unter Berücksichtigung der Individualität müsste noch heute jeder Canio im Idealfall ähnlich beschrieben werden:
»Als Canio stand Caruso auf der höchsten Höhe seines Künstlertums. Hier hatte er keine Puppe, sondern einen lebenden und atmenden
Menschen darzustellen, hinter dem sein eigenes Ich völlig verschwinden konnte. Hier stand ein Stück Natur auf der Bühne, der süditalienische fahrende Komödiant mit der kindlichen Treuherzigkeit und der jähen Wut, dem der Spaß so rasch von der Lippe fährt wie der Dolch aus der Scheide. Da war jeder Ton getränkt von lebendigem Empfinden; der freundliche Humor und das tiefste Weh lachten und weinten in dieser Stimme. Das ist ja das Merkwürdige: Der Sänger Caruso wird von dem Schauspieler Caruso angeregt, ja er ist förmlich das Instrument des Schauspielers. Das ist nicht nur so zu verstehen, dass die Art seines Gesangsvortrages in Tempo, Tonstärke und Akzentuierung von der dramatischen Situation beeinflusst wird. Nein, Caruso beherrscht alle stimmtechnischen Kunstmittel der Schauspieler. Und diese Amalgamierung der Techniken zweier Künste ist das Wunder seiner Persönlichkeit. Man stelle sich vor, in welchem Ton ein großer Schauspieler Romeos Klage an der Bahre Julias sprechen würde, wie ein Meister eine Kantilene vorzutragen weiß. Und nun male man sich mit einiger Phantasie aus, wie Caruso, der beide Kunstmittel verbindet, ›Vesti la giubba‹ singt: In jedem Ton das schluchzende Leid des Verzweifelten und doch in jedem Ton Gesang und strenges Wahren der musikalischen Linie.«
»Vesti la giubba« in Carusos Interpretation bedeutet den Anfang einer Epoche neuen Gesangsausdrucks. Man begnügt sich nicht mehr mit der Stimme als Kunstinstrument von äußerster Feinheit, Biegsamkeit und Kultiviertheit, man erwartet darüber hinaus die Bewahrung der Natur, die Identität von Stimme und Persönlichkeit, Timbre und Charakter, Musikalität und Ausdrucksvermögen; bei aller Bravour soll die Primadonna, der Primo uomo nicht den Menschen verdecken. Carusos »Cri de cœur« wurde Bestandteil des Singens; von Caruso noch sparsamst eingesetzt, entartete er freilich bald zum billigen Schluchzer, den drittklassige Tenöre auch heute noch als vokale »Italianità« verkaufen. Die großen Sänger aber haben von Caruso und gerade dieser Aufnahme von 1907 gelernt, Schönheit des Gesanges nicht als allein seligmachend zu werten, sondern sie zu verlebendigen durch die Wahrheit des Gefühls, das Singen zum Mittler der äußeren und inneren Situation zu machen. Natürlich haben alle die erlauchten Interpreten nach Caruso – der heldische Giovanni Martinelli, die eher lyrischen Beniamino Gigli oder Giuseppe di Stefano, Giacomo Lauri-Volpi, Jussi Björling, Carlo Bergonzi, der zu theatralischer Emphase tendierende Richard Tucker, die heroischen Franco Corelli und Mario del Monaco, zuletzt Luciano Pavarotti und Plácido Domingo – ihre Individualität eingebracht, ihr unverwechselbares Timbre. Aber sie alle zollen Reverenz Caruso: Seine gültige Interpretation haben sie sich anverwandelt, um sie für sich – und uns – zu besitzen.
»Ridi, Pagliaccio, sul tuo amore infranto!«
Diese Verzweiflung ist total und muss betroffen machen, so wie die Nacktheit des Schreis und des Schmerzes, dessen sublime und schreckliche Schönheit die eines überströmenden Herzen ist.