Klaus Adam
ZWEI MINUTEN VOKALES SEELENPANORAMA Marginalien zu »Vesti la giubba«
»Lache, Bajazzo« ist wahrscheinlich eine der berühmtesten aller Tenorarien, bekannt auch manchem, der gar nicht weiß, wo und warum da einer lachen soll. Sie steht seit Jahrzehnten in der Hitparade der Ritter vom hohen C, obwohl sie gar kein C, sondern nur ein A erfordert; man kann sie auf zig Gesamteinspielungen hören, die Einzelaufnahmen sind Legion. Liegt die Würze in der Kürze? – Mit dem ausgedehnten Orchesternachspiel dauert die Arie etwas über drei Minuten; bei Wagner singen die Helden kaum je unter zehn. Sonzognos Preisausschreiben für Operneinakter, das zuwider der Tradition solch gutgemeinter Kulturförderung nicht zu Totgeburten oder Einabendfliegen führte, sondern Wiege des »Verismo« war – dieser Concours hatte Beschränkung der Mittel gefordert: Dramatisch geballte Handlung auf einer Szene (Pagliacci wurde ausschließlich wegen der zweiaktigen Form abgelehnt). Der Zwang zur Kürze erforderte lapidaren Ausdruck. Individuelle Schicksale und Konstellationen mussten stenografisch, mit der Härte eines Polizeiberichts formuliert werden. Epische Zaubermärchen, Historiengemälde, lyrische Tragödien waren hier nicht gefragt; wohl aber Destillate der Realität, Augenblicksaufnahmen aus jenem »wirklichen Leben«, das der Prolog zu Pagliacci als Keimzelle wahrer Kunst preist. Liegt vielleicht in der Kürze die Wahrheit? – Und ist sie es (oder beides?), was Interpreten und Hörer fasziniert in »Vesti la giubba«? Vergegenwärtigen wir uns die Situation, die Arie: Canio hat erfahren, dass seine junge Frau ihn betrügt. Gedemütigt, enttäuscht, verzweifelt ist er, in Rage – aber er muss KOLUMN EN T IT EL
88