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MARGINALIEN ZUR TRINKSZENE DER »CAVALLERIA RUSTICANA«

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RITUALE BEDEUTUNG

RITUALE BEDEUTUNG

Die folgenden dramaturgischen Notizen opponieren einer seit Hanslicks Kritiken unaufhaltsam schwelenden Unterstellung, die bis vor einem Jahrzehnt auch der Verfasser zu befestigen half: Veristische Opernszenen hätten, im Soge des Naturalismus, der mit dem Etikett »è vero« sich drapiert, grell ausgemalten Oberflächenbildern allein sich zugewandt, Darunterliegendes als überflüssig beiseitegelegt, vielsträngige Situations- und Aktionsgeflechte auf einzelne, sogenannt dramatische, weil zuschlagende Momente reduziert, die es glaubhaft zu machen, psychologisch auszustatten gegolten habe. Dabei seien musikalisch-dramaturgische Formen und Formungsprinzipe, denen sowohl in der französischen wie auch italienischen Opern hochgradige Bedeutsamkeit für eigentliche Vorgänge zukommt, ganz und gar unter den Tisch gekehrt worden.

IDer Gottesdienst ist zu Ende, man geht nach Hause; Männer und Frauen vergewissern sich des bevorstehenden sonntäglichen Mittagessens, des ehelich-familiären Zusammenseins, darin ein jeder seinen angestammten Platz hat – wehe dem, der ihn unerlaubt verlässt; die Zäune und Wände haben große Ohren, und es könnte tödlich für ihn ausgehen!

Turiddu versucht mit Lola zu reden, sie weist ab, da auch sie sich zuhause erwartet glaubt.

Turiddu lädt zum Umtrunk – auch das ist nicht ungewöhnlich: Männer, teilweise auch ihre Frauen dürfen unterwegs einkehren, solange das Mittagsmahl, das familiäre Zusammensein nicht gefährdet ist. Ohnehin erweist sich die Schenke als Reversbild der Kirche – beides ist Öffentlichkeit außer Haus, tuchfühlige Gemeinschaft, gemeinschaftliche Atzung – im Wein wird das Abendmahl prolongiert, profanisiert; man trinkt, nachdem man gebetet hat!

Turiddu stimmt ein Trinklied an, die anderen akklamieren. Toast auf Toast! Alfio kommt hinzu, begrüßt die anderen – auch dies kommt nicht unerwartet. Turridu bietet, wie sollte es anders sein, ihm Wein an. Alfio weist ihn zurück – erst dies kündigt an, dass etwas nicht stimmt, schlimmer noch, ein Eklat sich vorbereitet. Angstvoll verlassen die Frauen den Platz, Lola vorsorglich mit sich ziehend. Alfio und Turridu stehen als Gegner sich gegenüber, ihnen zur Seite die Männergemeinschaft.

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Rekapituliert sei das Vorgeschehen: Einst liebte Turiddu die schöne Lola; sie wies ihn zurück, also ging er zu Santuzza, sich zu trösten; Lola heiratete Alfio. Dass Turiddu jedoch anderweitigen Trost gefunden hatte, machte sie eifersüchtig – auf jenen, den sie abgewiesen hatte, auf jene, die ihn tröstete, liebte, liebt: Grund genug, um ihn zu werben, und dies mit erwartetem großem Erfolg. Turiddu liebt, begehrt Lola immer noch und aufs Neue; Santuzza, gut genug, ihn zu trösten, steht im Wege, brutal stößt er sie beiseite; damit gewinnt er ihren Hass. Und es ist ihr Weg zu Alfio sehr kurz; wenige Worte genügen, damit seine immerwährende Eifersucht wie eine Stichflamme an die Oberfläche dringt, in rasende Wut sich entlädt auf Turiddu und Lola gleichermaßen; sie verlangt, dass Blut fließe.

Also geht er auf den Platz vor der Schenke, um Turiddu zu treffen, und weist er den ihn angebotenen Wein ab, so wissen die Anwesenden, dass ein tödlicher Zweikampf bevorsteht. Alfio gibt das Zeichen, indem er seinen Feind umarmt und ihm ins Ohr beißt. Turiddu findet sich zu verzweifelter Bereitschaft, es gibt keinen Ausweg.

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Sein Trinklied scheint vor der Schwelle der Katastrophe: Strahlend sein Ton, ehern das Schrittmaß, dreiteilig in der Großform (A B A), geradtaktig, ein Viertakter soll dem anderen folgen; Fermaten am Zeilende mögen das Erwartete, Voraussehbare der Folgezeile genüßlich hinauszögern, damit es umso vehementer eintritt. Ehern scheint über weite Strecken auch das Verhältnis zwischen Singstimme und Orchester – letzteres, um mit Wagner zu reden, eine »riesengroße Guitarre« – einfache Bassfundamente, Akkordnachschläge. Regelmäßig scheint der Bau des einzelnen Zweitakters: Sechzehntelbewegung in der einen Taktzeit, Achtel in der anderen, Achtel wiederum zu Beginn des nächsten Taktes, während die zweite Takthälfte einen Ruhepunkt verheißt; wohlgeordnet scheint die Drehbewegung, das stufenweise Aufwärts, die Sequenzierung des ersten Zweitakters.

1. Und doch: Es fällt der Übereifer auf, der dem Sechzehntelbeginn eingeschrieben ist – warum beginnt Turiddu nicht mit den Achteln, um sie hernach in Sechzehntel aufzulösen, wieso fällt er mit den schnellsten Notenwerten gleich einer Türe ins Haus? Auch ist, im zweiten Takt, die zweite Zählzeit getilgt, das zweite Achtel der ersten übergebunden ins an- und abschließende Viertel. Kommt es dadurch zur Synkope, so schleppt sie sich diminuiert in die nächste Taktgruppe, in den Beginn des Nachsatzes; wird sie darin überwinden, so hat ihr Verunsicherndes anderen Parametern sich aufgeladen: Der zweite Zweitakter des Nachsatzes gehorcht dem Achtelschlag, jedoch er findet keinen gültigen Abschluss – er kurvt umher; die erwartete Dominante wird umkreist, der Weg dahin durch plötzliche Chromatik der Orchesterstimmen getrübt, ja, irritiert; ein Ritardando verstärkt solche Disproportion.

2. Aber nicht nur die anfängliche Verkehrung der Bewegungsabläufe, die Synkopierungen, das Umkreisen des erwarteten dominantischen Halbschlusses, die orchestrale Chromatik vor der Doppeldominante gehorchen der Irritation, sondern bereits die ersten Takte der Orchesterbegleitung: Es lassen die Fundamentschritte und Akkordnachschläge mitsamt den Streichinstrumenten auf sich warten bis zur Wiederkehr des gesamten Achttakters; Note gegen Note wird der erste vokale Viertakter begleitet – dies potenziert das Unwägbare der Synkope im zweiten und vierten Takt. Und es finden sich, anstelle der erwarteten Tragfläche der Streicher, nur wenige Holzbläser bereit zu einem dünnen, indessen vierstimmigen Satz als ob ein Organist Turridus Trinklied mit gedacktem Register wie Kirchengesänge traktiere! Der nächste Viertakter behält solch befremdliches Gewand, auf dass die Irritationen zunehmen – die Chromatik vor der Penultima spitzt dies nur zu.

Kontrastiert das dünnstimmige Bläserspiel höchst unerwartet die lärmenden Vortakte des Orchestertuttis, so bietet es dem Liedsänger eine überaus notdürftige Brücke, die seinen Schwankungen nachgibt, statt sie aufzufangen: Nicht einmal die dem Vokalpart innewohnenden harmonischen Verpflichtungen werden eingehalten – Ordnungsgemäß beginnt der Gesang in der Tonika G, umschreibt er im ersten Zweitakter die authentische Kadenz T

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T; im nächsten Zweitakter setzt er C, die Subdominante, als neue Tonika, im dritten Zweitakter führt er über die Dominante D zur Tonika G zurück. Die Holzbläser jedoch setzen, anstelle der anvisierten Dominante D, in der zweiten Hälfte des ersten Taktes, die Doppelsubdominant F ein, und wird dieser Schritt umstandslos rückgängig gemacht, so ist der authentischen Kadenz G – D – G des Vokalparts die potenziert plagale, G – F – G der Instrumente befremdlich zugesellt: Es wird just dieser Plagalschritt die Subdominanttransposition des kommenden Zweitakters wegnehmen; damit sind G und C nicht allein sukzessiv, sondern auch simultan verkoppelt, verfestigt harmonische Progression sich im Raume. Mit beklemmender Beflissenheit sucht das harmonische Geschehen des dritten und vierten Taktes diese Überlagerung aufzuheben – der c­g­Schritt der Bässe gehorcht der authentischen Kadenz, und wiederum sind die nachfolgenden eineinviertel Takte dem Schritt von der Dominant zur Tonika gewidmet; dann jedoch, im zweiten Achtel des zweiten Taktes, wird das mühselig Installierte chromatisch überspült.

3. Einmal installiert, werden Disproportionen um sich greifen: Im zweiten Teil der ersten Liedstrophe, nachdem die Wiederkehr des ersten Achttakters die langerwarteten, den Gesang als Tanzlied fundierenden Akkordnachschläge installiert, das Trinklied sich wenigstens partiell stabilisiert hatte. Es ist der Refrain, der das bislang verpflichtende Ebenmaß der Zwei- Vier-Achttakter außer Kraft setzt: Drei- statt Zwei- bzw. Viertakter folgen aufeinander; der erste Takt ist zwar durch ein leichtes Ritardando gedehnt – dieses aber verdoppelt ihn nicht, und so bleibt es beim zweimaligen Dreitakter; ihm folgt, des Unregelmäßigen nicht genug, ein Sechstakter, notdürftig in zwei Dreitakter unterteilt, überdies auf harmonische Umwege geraten aufs Neue – in die Dominantparallelvariante H, die sich im Orchester chromatisch auf den tonikalen Grundton G zurückgeführen lässt, dabei jedoch eine Dissonanz nach der anderen auf den Plan ruft. Gerät die eherne Quadratur zuschanden, so ist das harmonische Geschehen in Mitleidenschaft gezogen. Bedarf es der Anstrengung, die fortwährende Destalbilisierung des Gefüges aufzuhalten, so entpuppt sie sich als Überanstrengung – sie steht dem Singenden zu Gesichte als unerkannter Vorbote der Katastrophe.

4. Überanstrengung waltet auch im Ton: Geradezu brutal sind die Vortakte volles Orchester, Beckenschläge –, dann aber lässt das Orchestertutti den Sänger im Stiche; überlaut stimmt Turridu in beiden Strophen den Refrain an, jenen Liedteil allerdings, der die Periodik außer Kraft setzt; Fermaten kommen der Überanstrengung zuhilfe; später, am Schluss der zweiten Strophe, ist es geradezu wildwuchernde Chromatik – ein Fremdkörper im Diatonischen!

Und die Vivatrufe der anderen, mit denen die zweite Strophe, quasi der Mittelteil des Trinkliedes anhebt? Blockhaft und laut, erinnern sie an Jagd-, ja Hatzrufe, an brutales Zuschlagen; darin artikuliert sich eine Gemeinschaft, die den Faustschlag nicht verschmäht, wenn man ihr in die Quere kommt:

Nicht ausgeschlossen, dass sie den einzelnen, also auch Turridu in die Enge treibt, nötigenfalls erschlägt!

5. Ist der Überanstrengung, der martialischen Gewalt ebenso wie dem befremdlichen Rückzug des Orchesters am Beginn der ersten Strophe das Verhängnis eingeschrieben, so lässt es nicht auf sich warten. Nach einer donnernden, aufs Neue befremdlich chromatisch gesetzten Stretta zerbricht Turiddus Trinklied: Alfio kommt, ihn flankieren dröhnende, jedoch keineswegs formstiftende Fanfaren gleich Siegestrophäen, die entzweigebrochen sind. Turiddu greift sie auf, er will aus diesen Fanfaren ein neues Trinklied bauen, das jedoch misslingt, weil Alfio in der Untermediante synkopisch dazwischenfährt, sich im düsteren Posaunenklang als Nachfahre des Mozart’schen Komturs zu erkennen gibt, der sein Opfer in die Hölle bringen wird. Aber nicht erst sein Eingriff, der Einbruch von außen, bringt Turiddus Gelage und Trinklied zu Fall; Komtur-Alfio ist nur der Vollstrecker eines längst gefällten Gerichtsurteils: Unerkannt, unbegriffen nistet es in Turiddus Lied, in seiner Anstrengung, den inneren Zerfall aufzuhalten, die innere, unaufhebbare Gefährdung wenigstens zu übertönen, im Tuchfühligen denn auch der frenetisch akklamierenden Gemeinschaft, die den Sänger über weite Strecken alleine lässt und ihn dem Rächer eiskalt ausliefern wird, wenn die Zeit gekommen ist – es könnte die tuchfühlige Wärme der geschlossenen Gesellschaft auch im Faustschlag oder im Würgegriff sich entladen!

6. Gebietet Turiddu, vor der Heimkehr, das Trinkgelage, so liefert er sich eben dadurch dem unerkannten Todesurteil aus; tatsächlich erwartet er Alfio in der Schenke – als ob er ahnt, dass Alfio von seinem Verhältnis zu Lola weiß, dass Santuzza ihn Alfio verriet, ihm also mitsamt Lola zum Verhängnis geworden ist? Soll die gewaltsam angestrengte Trinkgemeinschaft ihm Sicherheit bieten, so gilt es daher, das Trinklied so emphatisch, so gemeinschaftsstiftend wie möglich anzustimmen, damit nichts dazwischenkomme: Dies misslingt. Was aber wissen, ahnen die anderen, was teilt sich ihrer donnernden Akklamation und ihrem emphatischen Aufgreifen des Trinkliedes mit – teils an mehr oder minder konturierter Vorahnung, teils an Sensationslust, Gewaltlust? Sicher ist, dass die so vehement gestiftete, in Wahrheit vorgeordnete Gemeinschaft keinerlei Sicherheit gibt vor dem Totschlag, dass sie, im Gegenteil, Turridu dem Tode ausliefern wird. Denn der Totschlag gehört zur Sache – wer sich an eherne Regeln nicht hält, wer sich im Seitensprung erwischen lässt (und nur dies verstößt gegen die Regel!), wird geopfert ohne Erbarmen.

Turiddu weiß also, dass er, wenn Alfio ihn fordert, alleine sein wird.

7. So verhängnisvoll das Trinklied selbst, so erwartet das heraufziehende Verhängnis, so bestürzend dennoch, wenn es eintrifft durch Alfios Feindschaftserklärung: Düstere, choralartige Posaunenklänge der Untermediante Des im Zeichen der Komturszene aus Mozarts Don Giovanni, im Zeichen der Wolfsschlucht – ihnen folgt Schweigen, die Musik verstummt, Turridu spricht, statt zu singen. Und dann ein langsamer, ja lähmender Marcia funebre, der die Frauen die Schenke verlassen, Lola mit sich ziehen lässt: Ostinato und irrelaufende Klagefiguren, Vorwegnahme einer Totenklage? Erneutes Verstummen des Orchesters, indessen die Kontrahenten das Nötigste verabreden. Schließlich – unerwartet? – die ariose Weheklage des Todgeweihten, der dem anderen an die Gurgel muss, wenn er nicht draufgehen will: Der Ton verrät, dass es keinen Ausweg, kein Überleben gibt, dass dem anderen zu drohen vergeblich sein wird. Alfios Antwort ist lakonisch beredt, nämlich blankes Rezitativ mit gedämpft drohenden Akkorden (diesmal Streicher statt Posaunen!) untersetzt: Alfio ist der Komtur, Turiddu Don Giovanni im Angesicht des Untergangs. Und dem Opfer bleiben wenige Augenblicke flatternder Angst mitsamt der Pflicht, eben diese Angst nicht den anderen – den männlichen Zuschauern, der geschlossenen Gesellschaft – kundzutun. Für ihn wird Musik zu reden haben – ariose Rezitative, schließlich die zweite klagende Arie, trostloser noch als die erste, weil das Ende naht.

8. Formen sind beredt für Außermusikalisches, für Normensysteme, denen sie aufs Haar gleichen, die in ihnen sich sedimentieren, für eherne Regelwerke also, diesseits und jenseits direkter Verabredung zwischen Einzelnem und Gruppe. Und sie haben die einzelne Artikulation im Griff, auch dann, wenn sie das Ganze zu beherrschen oder gar außer Kraft zu setzen vorgibt. Die Oper, seit der Seria, lebt davon, dass Einzelne von Regelwerken beherrscht werden, in ihnen sich bewegen, gegen sie sich auflehnen, um aufs neue vereinnahmt zu werden. Umso beredter die Handhabe einzelner Formmodelle, einzelner formgeprägter Gattungen, also auch bestimmter Lied- und Arientypen, die Handhabe vermeintlich eherner Bauregeln musikalischer Perioden, die Handhabe bestimmter Satztypen, jene der vokalen Homophonie eingeschlossen! Am Trinklied und an seinem Zerbruch, an der Totenbeschwörung des Komturs, am Wechsel von Lied, Rezitativ und Arioso bzw. Arie lässt sich ein Gutteil der »Vorgänge hinter den Vorgängen« (Brecht) entziffern. Mitnichten also ist die musikalische Dramaturgie der Cavalleria rusticana, auch der hier in Rede stehenden Szene, auf den Schlagabtausch von Oberflächenbildern reduzierbar oder gar dem blinden Nacheinander von Momenten ausgeliefert. Es gibt Regulative; sie haben ihre Traditionen, weil sie dramaturgisch beredt waren und sind; ihre Geschichte muss transparent gemacht werden um der Wahrheit willen, auf die der dem Verismo eingeschriebene Begriff vero = wahr verweist.

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