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DER TOD IM VERISMO KOMMT SCHNELL
Oliver Láng im Gespräch mit Jendrik Springer
Cavalleria rusticana und Pagliacci werden zumeist an einem Abend gegeben. Nun sind es verwandte Werke, deren Beziehung zueinander stark durch das Sujet gegeben ist, sie sind aber keine echten Geschwisterstücke: denn es gibt auch Trennendes. Vielleicht wollen wir als erstes den Aspekt der Verwandtschaft skizzieren?
JS: Immer wieder finde ich es in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass Mascagni mit Cavalleria rusticana das erste der beiden Werke geschrieben hat und Leoncavallo rund zwei Jahre später mit Pagliacci tatsächlich eine Oper ähnlicher Faktur nachsetzen wollte. Oder sogar sollte, denn der Verlag Sonzogno war zweifellos eine treibende Kraft hinter dem Pagliacci-Projekt. Es ist also nicht verwunderlich, dass sich aus der Situation dieses »Nachschaffens« heraus in formaler Hinsicht starke Entsprechungen und Zusammenhänge ergeben haben. Ich nenne nur zwei Beispiele: Das Vorspiel ist in beiden Opern nicht rein instrumental – im Falle von Cavalleria wird es durch die Siciliana des Turiddu unterbrochen, bei Pagliacci gibt es (zum Vorspiel gehörig, weil noch vor dem geschlossenen Vorhang) den Prolog des Tonio. In der Mitte beider Opern wird, vor der finalen Zuspitzung, ein instrumentales Zwischenspiel eingefügt. Die formalen Parallelen sind also nicht zu übersehen.
Was beide Werke ganz offensichtlich verbindet, ist die Kürze. Einakter gab es schon zuvor, doch waren sie eher dem heiteren Genre zugeordnet. Nun haben wir kurze, tragische Opern. Wie hat sich diese Kürze, dieser zeitliche Rahmen auf die kompositorische Verarbeitung des Stoffes ausgewirkt?
JS: Die Kürze war sicherlich auch eine Folge der Vorlage. Ausgangspunkt von Cavalleria war eine knappe Novelle von Giovanni Verga. Dieses Gedrängte, Punktgenaue der Novelle ist über den Umweg der Dramatisierung des Stoffes auch in die Oper übergegangen. Man hat sich auf das Wesentliche reduziert. Natürlich darf nicht vergessen werden, dass der Wettbewerb, für den Mascagni seine Oper schrieb, explizit einen Einakter gefordert hat. All das hatte seine Auswirkung auf die innere Form: Die einzelnen Nummern sind kürzer, sehr straff. Alles passiert sehr schnell, alles zielt direkt auf den Höhepunkt hin. Selbst wenn Mascagni Vorspiel und Eingangschor recht breit angelegt hat – die Zuspitzungen passieren rasch.
Wenn wir über die Form hinausgehen: Leoncavallo wird im Allgemeinen, sofern man solche Begriffe anwenden möchte, als der »intellektuellere« Komponist bezeichnet, Mascagni als der »erdigere«.
JS: Diese Etikettierungen, die in ihrer Knappheit natürlich immer heikel sind, drücken etwas aus, was man anhand der Partituren sehr gut nachvollziehen kann. Cavalleria hat im Klangbild – vor allem in der Art, wie die Blechbläser eingesetzt werden – oftmals etwas Ungeschliffenes, fast Grobes, ich würde sagen: Rustikales. Die Instrumentation wirkt manchmal beinahe unbeholfen, wobei ich nicht entscheiden kann, ob das gewollt war oder ob es Mascagni, der ja noch ein sehr junger Komponist mit wenig Erfahrung war, einfach »passiert« ist. Da war Leoncavallo eindeutig der Versiertere, der Geschicktere, der feiner instrumentieren konnte.
Womöglich hat Mascagni versucht, das Holzschnitthafte der literarischen Vorlage, die in ihren sprachlichen Übergängen sehr hart sein kann, musikalisch zu imitieren?
JS: Das ist freilich eine Möglichkeit. Aber ich möchte ein Beispiel anführen, das mir bei jeder Aufführung auffällt, und zwar im Duett Santuzza-Alfio: Santuzza eröffnet Alfio den Ehebruch seiner Frau Lola, und nach dieser für Alfio bestürzenden Nachricht, nach Santuzzas «e vostra moglie lui rapiva a me!« klingt das Orchester fast »besinnlich« aus. Unmittelbar danach folgt musikalisch unerwartet Alfios Entgegnung in dramatischem Forte – ein seltsamer, unvermittelter Kontrast. Natürlich kann man das unter die Schlagworte »holzschnitthaft« oder »ungeschminkt« subsummieren, aber ich bin mir nicht sicher, ob Mascagni diesen Übergang später, mit mehr Erfahrung nicht anders gelöst hätte. Leoncavallo hingegen schafft flüssigere Übergänge, auch bei ihm gibt es Ecken und Kanten, gibt es das Brutale, aber es ist kompositionstechnisch organischer eingebunden.
Du sprachst davon, dass Leoncavallo in puncto Instrumentation eine versiertere Hand gehabt hat.
JS: Er gibt in der Partitur mehr und differenziertere spieltechnische Angaben als sein Kollege Mascagni. Immer wieder teilt Leoncavallo zum Beispiel die Geigen, verlangt bei den Streichern Flageolett-Effekte und anderes, also ausgefallene Spiel- und Klangformen. Und er kümmert sich um kleine Nuancen – auch das kann ich an einem Beispiel demonstrieren: Neddas Vogellied wird durch zwei ineinander verwobene Harfen eingeleitet, dazu lässt Leoncavallo die Geigen komplexe Figuren geteilt spielen und setzt über das Ganze noch vier Soloviolinen, die eine Oktave höher ausgehaltene Akkorde intonieren. Von der Klanglichkeit her ist das eindeutig französisch beeinflusst. Das soll jetzt aber nicht dazu verleiten, Mascagni als schlechten Komponisten zu sehen. Nur war Leoncavallo einfach geschickter.
Ändert sich auch der Einsatz der verfügbaren Instrumente?
JS: Bis Verdi war es gebräuchlich, dass man Posaunen und Trompeten eher als akkordisch-harmonische Stütze oder als rhythmische Impulsgeber eingesetzt hat. Nun kommen sie stärker als Melodieinstrumente ins Spiel. Das hat eine nicht zu unterschätzende Folge. Denn oftmals wird die Gesangslinie nun mit einem Blechblasinstrument verdoppelt und nicht mehr mit Streichern oder Holzbläsern wie zuvor. Wir erleben also Sopran plus Trompete oder Bariton plus Posaune: Das sind allerdings Kombinationen, die in jeden Kompositionsunterricht als sinnwidrig dargestellt wurden (teilweise noch werden), denn die Gefahr des Übertönens durch das Instrument ist groß. Diese Kombinationen können ein erdiges Klangbild ergeben, sie führen aber auch dazu, dass die Sänger mehr Stimmvolumen brauchen. Und das war im Belcanto kein Thema: Da durften zum Beispiel Tenöre hohe Noten in einer Art gestütztem Falsett singen. Nun braucht es mehr Durchschlagskraft – und es wurde auch in der italienischen Oper eine Richtung eingeschlagen, die man in der deutschen seit Wagner schon kannte.
Ein Letztes zum Kompositionshandwerk: Mascagni erinnert sich später daran, dass er für seine Kontrapunktik explizit gelobt wurde. Hat das eine tatsächliche Grundlage oder handelt es sich hier nur um vergoldete Erinnerungen des späteren Mascagni?
JS: Mir fällt da eigentlich nur eine Stelle ein, die dieses Lob rechtfertigen würde: der Chorsatz im Auftrittslied des Alfio. Sonst ist alles deutlich homophon, nicht kontrapunktisch, sondern auf die Oberstimmen hingearbeitet.
Vielleicht wollte Mascagni mit dieser Erinnerung nur dem allgemeinen Befund, er hätte mit der Cavalleria ein ungemein schnell niedergeschriebenes Werk geschaffen, entgegentreten?
JS: Das ist gut möglich! Denn so genial Cavalleria rusticana auch ist – gerade den Tatbestand einer hochstehenden KontrapunktKunstfertigkeit erfüllt die Oper nicht.
Wir haben zuvor Verdi angesprochen. Wenn wir nun Mascagni und Leoncavallo in ihrer Stellung zur Tradition verorten wollen – wo stehen sie? Sind sie VerdiNachfolger oder haben sie tatsächlich etwas ganz Neues geschaffen? ← Szenenbild Cavalleria
JS: Ich würde ganz klar sagen, dass beide Opern in einer eindeutigen Verdi-Nachfolge stehen. Schon vom Stofflichen her: Verdi hat bereits begonnen, Randgruppen der Gesellschaft auf die Bühne zu bringen, eine Violetta in La traviata, aber auch die Titelfigur in Rigoletto. Mascagni und Leoncavallo gehen jedoch noch einen Schritt weiter: Während La traviata noch in einer adelig-bürgerlichen Gesellschaft spielt, haben Cavalleria rusticana und Pagliacci ihre Schwerpunkte ganz woanders. Musikalisch entwickeln sie das Bestehende weiter und überschreiten bisherige Grenzen, aber sie entstammen ganz klar der Welt der italienischen Oper, kommend aus dem Belcanto.
Sie überschreiten Grenzen, indem sie zum Beispiel den Zugriff auf einen realistisch wirkenden Naturlaut, also das Schreien, erlauben?
JS: Erinnern wir uns, was Verdi in einem Brief zu Traviata schrieb: Violetta möge doch bitte nicht den ganzen dritten Akt lang husten. Ihm war also ein solcher Realismus fremd. Im Verismo werden das Ausrufen, Schreien, die Natürlichkeit hingegen explizit gefordert. Und auch abgesehen von diesen Momentaufnahmen gibt es große musikalische Änderungen: Den Singstimmen wird jede Form der bewusst präsentierten Virtuosität genommen. Also: Dass ein Sänger neben der Figur, die er darzustellen hat, sich selbst mittels einer perfektionierten technischen Kunstfertigkeit präsentiert, das kommt für die Veristen nicht in Frage. Dass man etwa eine vor Virtuosität strotzende Kadenz, Koloratur oder Variation einbaut, das gibt es nicht mehr. Alles ist nur noch Ausdruck und der Ausdruck dient der Ausformung des jeweiligen Bühnencharakters. Über das Volumen der Singstimmen sprachen wir schon, im selben Maße steigt auch die Lautstärke des Orchesters: Dirigenten müssen nun streng darauf achten, dass das Orchester nicht zu laut wird. Ein dritter Aspekt, der wiederum mit dem realistischen Gesamtausdruck des Verismo zu tun hat: Noch in Rigoletto durfte Gilda zehn Minuten lang singend sterben. Auch damit hat es ein Ende. Der Tod im Verismo kommt schnell.
Als die Regel bestätigende Ausnahme könnte Adriana Lecouvreur gelten, die Titelheldin stirbt an den vergifteten Blumen recht lang.
JS: Ja, das ist zweifellos die Ausnahme. Wenn wir aber Tosca oder Andrea Chénier betrachten, dann gibt es einen schnellen Tod. Wie sagt der große Musikforscher Ulrich Schreiber? »Die dramatische Wucht hat auch im Tod musikalisch den Vorrang vor lyrischer Überhöhung.«
Und harmonisch? Ist man noch in Verdi’schen Gewässern?
JS: Auch hier geht man über das bisherige hinaus, wobei ich vom Verdi’schen Œuvre exklusive Otello und Falstaff spreche. Diese beiden Opern wurden ja nach Cavalleria rusticana uraufgeführt. Ein Beispiel: Ich komme noch einmal zum Vogellied der Nedda, vor dieser Arie, nach »Son questi sogni paurosi e fole«, erleben wir Harmoniefolgen, die über Verdi hinausgehen. Und an Wagner gemahnen.
Du hast von der Herausforderung des Dirigenten in puncto Lautstärke gesprochen, der Verismo ist aber nicht nur in dieser Hinsicht eine harte Nuss für alle Kapellmeister?
JS: Müssten wir eine räumliche Verortung vornehmen, so stünden Mascagni und Leoncavallo näher bei Verdi als bei Puccini. Warum? Unter anderem, weil die orchestrale Begleitung bei diesen beiden noch ganz in der Tradition ihrer Vorgänger steht. Also: Eine immer wieder eingesetzte Grundstruktur, die rhythmische, einfache Begleitformen bietet, die aber auch einen relativ starren, strengen Rahmen vorgibt. Wenn nun eine Sängerin oder ein Sänger eine Note länger aushalten möchte, hat der Dirigent wenig Spielraum. Er kann versuchen, dem Sänger dies zu untersagen, was selten auf Zustimmung stoßen wird, oder er muss die weiterlaufende Orchesterbegleitung abbremsen, was die Gefahr eines »Unfalls«, also eines Durcheinanders, nach sich zieht. Ein Paradebeispiel dafür ist das Duett SantuzzaTuriddu bei den Worten: »Bada, Santuzza, schiavo non sono«.
Praktisch jeder Tenor wird bei »schiavo« eine Verzögerung einbauen, der Dirigent muss dem Sänger also trotz der rasch pochenden Begleitung im Orchester Raum für diese Freiheit bieten. Das wirklich sauber hinzubekommen, ist eine tatsächliche Herausforderung! Und es wimmelt in der Partitur vor solchen Stellen. Bei Puccini schaut die Welt anders aus, da gibt es dieses starre Korsett nicht mehr, stattdessen finden wir eine »fließendere« Gestaltung der Begleitstimmen.
Wir müssen aber davon ausgehen, dass Mascagni & Co. dieses Korsett nicht so streng nahmen.
JS: Zweifellos nicht, wobei man auch diagnostizieren muss, dass er sehr viele Eintragungen, die das Tempo und die Agogik betreffen, vorgenommen hat. Mascagni hatte also durchaus klare Vorstellungen von dem, wie das Ganze ablaufen soll.
Du hast die WagnerNähe angesprochen. Ohne das Leitmotiv mit seiner kompositorischen, strukturellen und psychologischen Tiefe heranzuziehen – wie gingen die Veristen mit Erinnerungs und anderen Motiven um?
JS: Spannenderweise kommt die Wiederkehr einzelner Motive, die strukturell eine Funktion haben, durchaus vor. Etwa: Jeder kennt im Pagliacci-Orchestervorspiel das charakteristische Motiv, das im Horn piano gebracht wird.
In der zentralen Arie des Canio, »Vesti la giubba«, kehrt es wieder, allerdings viel tragischer und prominenter. Und ein drittes Mal, am Ende der Oper, nach »La commedia è finita« ist es noch einmal zu hören. Eine solche dramaturgisch sinnfällige Verwendung von Motiven ist Verdi unbekannt –das ist ein Einfluss der deutschen Kompositionsschule.
Inwiefern verwenden Leoncavallo und Mascagni ein bewusst gesetztes Lokalkolorit, wie es etwas in Bizets Carmen vorkommt? Verweist etwas im Einakter auf Sizilien?
JS: Es gibt in der Cavalleria die einleitende Siciliana, die von Turiddu gesungen wird; Mascagni bezieht sich dabei auf ein aus der Barockmusik kommendes, rhythmisch durch einen punktierten 6/8-Takt charakterisiertes Siciliano-Modell, das aber in Wirklichkeit nicht mit Sizilien verbunden ist. Es ist sogar so, dass er die Dreitaktigkeit, die für viele Volkslieder typisch ist und die sich auch in dieser Siciliana aus der Melodie ergeben würde, bewusst in eine viertaktige Form zwängt. Mit anderen Wor- ten: Auf eine Art verdeckt er sogar das Volksliedhafte. Im Falle des Liedes von Lola wird allerdings wirklich auf ein (erfundenes?) Volkslied verwiesen, Mascagni schreibt in die Partitur: »Imitation eines alten Volkslieds«.
Diese Nummer wirkt fast wie ein Fremdkörper und hat in der Oper die Funktion eines Liedes, ist also kein ausschließliches Handlungselement.
JS: Ebenso wie die Siciliana des Turiddu innerhalb des Vorspiels.
Dieses verweist in seinem Text direkt auf das TodesFinale der Oper: »Blut steht zwar über deiner Tür geschrieben …«
JS: Nicht nur das: Mascagni schreibt diese Siciliana in f-Moll, was für ein Volkslied sehr ungewöhnlich ist. Warum er das macht, erfährt man erst im Verlauf der Oper. Am Schluss des Duetts Alfio-Santuzza, nachdem Santuzza Alfio eröffnet hat, dass seine Ehefrau Lola ihn mit Turiddu betrügt und es im Libretto um Rache und Blut geht, wechselt die Tonart noch einmal nach f-Moll. Gewissermaßen an jenem Scheitelpunkt der Handlung, an dem der Tod Turiddus in den Raum gestellt wird. Da ist Mascagni ganz der Musik-Dramaturg, der musikalische Verknüpfungen und Kopplungen im Handlungsgeschehen erzeugt.
Die Cavalleria
verbreitete den Stil in einem beispiellosen Erfolg über die Welt. Es wurde eine brutale Erholung von Wagner.