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Brigantenunwesen
In Kalabrien war die Situation analog: Die Position, die zuerst Turin, dann Florenz und schließlich Rom dem Problem des Südens gegenüber eingenommen haben, führte zu neuen sozialen Spannungen, zu ersten Auswanderungswellen, zum Anwachsen des Verbrechertums und des Brigantenunwesens, das Reisende, die nach Sizilien wollten, gezwungen hat, von Neapel aus das Schiff nach Palermo zu nehmen. Aubers Fra Diavolo, in dieser Gegend spielend, hat sich dieses Räubertums auf sehr romantische Weise angenommen. Das Missbehagen an der neuen Zeit war aber nicht nur im Süden spürbar. Selbst das Symbol des Risorgimento, Giuseppe Verdi, erlebte mit Enttäuschung das außenpolitisch imperialistische Großmachtstreben des jungen Staates, dem im Inneren eine Verelendung weiter Bevölkerungsschichten entgegenstand. Er löste in seiner engeren Heimat die soziale Frage auf seine persönliche Weise, unterstützte karitative Einrichtungen, gründete ein Spital und setzte Stipendien aus.
Literarische Kritik
Auf literarischer Ebene formulierte die Richtung der »Scapigliatura« zunächst die Ernüchterung nach der erfolgten Einigung des Landes. Emilio Praga, ihr Wortführer, schrieb: »Wir sind die Söhne kranker Väter.« Ihre Angriffe richteten sich gegen die Symbole der Einigung: Alessandro Manzoni wurde von Praga entgegengeschleudert: »Jetzt ist die Stunde der Antichristen«, und Verdi musste sich von Boito verschlüsselt als »Kretin« bezeichnen lassen, der den Altar des Vaterlandes »beschmutzt« hatte.
Aber nicht diese Richtung sollte der Kunst eine neue Wendung bringen, allzusehr entfernten sich ihre Autoren von der Realität, nahmen Elemente der Décadence und des l’art pour l’art überhand. Die Zeit war reif für den Verismo: Abgesehen davon, dass positivistische Theorien, von Frankreich kommend, auch in Italien Fuß gefasst hatten, zeitigte die Gründung des neuen Staates keine einheitliche Literatur; die Autoren besannen sich vielmehr auf den kulturellen Reichtum von Regionen und Provinzen, der in ihren Werken beschrieben wurde.
Sowohl Kalabrien als auch Sizilien haben so große Schilderer des Volkslebens erhalten: Nicola Misasi und Giovanni Verga, deren Novellensammlungen »Kalabresische Erzählungen« und »Ländliche Novellen« im selben Jahr 1884 erschienen sind. Über die Grenzen Italiens hinaus wurde aber nur Verga bekannt, nicht zuletzt dank Mascagnis Oper.