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AUFSTIEG UND FALL DES VERISMO Versuch einer Ehrenrettung
Nur selten lässt sich bei einer musikalischen Stilrichtung die entscheidende Begegnung so genau bestimmen wie beim Verismo. Es war, als der junge Pietro Mascagni nach der eben erst erschienenen Novelle Cavalleria rusticana seines Landsmannes Giovanni Verga griff. Der sichere Instinkt dieser Wahl grenzt ans Traumwandlerische. Niemals ist der Komponist in seinen zahlreichen anderen, heute vergessenen Opern auf eine ähnlich wirkungsvolle Vorlage gestoßen. Keinen anderen Stoff hat er auch nur annähernd zwingend so bewältigt. Die Folge: Nach dem sensationellen Uraufführungserfolg der Cavalleria rusticana begann sich eine wahre Verismo-Epidemie auszubreiten, die rasch auch über Italiens Grenzen drang.
Mit griechischen Göttern und Helden begann die Oper in der ausklingenden Renaissancezeit, mit grausamen Tyrannen und eigensinnigen Fürstlichkeiten, die (welch frommer Wunsch!) im Finale sich als läuterbar zeigten, näherte sie sich dem Barock. In Wechselbeziehung zur sich wandelnden Gesellschaft erschloss sich die Oper immer neue und fast immer zeitgemäße Stoffe. Die Händel-Opern dürften das beste Beispiel dafür sein, wie oft weit zurückliegende Geschichtlichkeit der Aktionen in Wahrheit konkrete Beziehungen zu den Ideen der Aufklärung widerspiegelt.
Erst das 19. Jahrhundert hat in seinen sozialen Spannungen sowohl der bürgerlichen Idylle wie der heroisierten Geschichtsszene breiten Raum gegeben. Es wich mit mächtigem Pathos in romantische Schau aus, um der wunden Gegenwart das Ideal einer vergangenen, vorgeblich besseren Welt zu suggerieren. Oder es versuchte, ungelöste Probleme in parabelhaft geschauten Mythen (mit dem Wagner’schen Ring als monumentales Zeitdokument) zu bewältigen.
In der italienischen Oper des 19. Jahrhunderts wurde Verdi zum Bahnbrecher des Realismo. Seine historisch fundierten Operngemälde zeigen mit großer, energischer Gebärde die Affekte von Liebe und Hass, Eifersucht, Mord und Totschlag. Seine Sujets schöpfte er gewiss aus der »Wirklichkeit«. Aber: »Wirklichkeit nachzuahmen ist eine gute Sache. Besser: neue Wirklichkeiten zu erfinden« (Verdi). Es stimmt: Bei Verdi bleiben stets der Mensch und das Menschsein im Mittelpunkt allen Denkens und Fühlens. Dies Humane, die Wahrheit dieses Menschlichen ist für ihn ausschlaggebend — eine »Wahrheit«, die ihm höher steht als die »Schönheit«. Das lieferte dem vorausschauenden Realisten, der gegen den »Gewohnheitsunfug« landläufigen Opernbetriebs kämpft, eine besondere Vorliebe für Leidende, Geschundene, Getretene. Keine Ästhetik der Oper lässt sich leichter determinieren.
Die andere Wirklichkeit – Naturalismus
Auch der Verismo wollte in seinen Alltagsbildern primär Wirklichkeit und Wahrheit, man kann es überall nachlesen. Doch seine Wirklichkeit ist die einer fotografischen Aufnahme, penibel in Licht und Schatten, bis ins letzte Detail. Man wollte Menschen zeigen ohne Stilisierung und Pathos, die den Opernbesucher direkt ansprechen. Das Leben ohne jede Beschönigung, ungeschminkt, nackt, leidenschaftlich, fest zupackend, wenn es sein muss, hart zuschlagend. Dies Programm der Veristen entsprach ziemlich genau den Ideen der aus Frankreich stammenden naturalistischen Schule. Die Brüder Goncourt proklamierten als erste im Vorwort ihres Romans Germanie Lacerteux 1864 manifestartig diese Haltung: »Wir müssen das Publikum um Verzeihung bitten, dass wir ihm dieses Buch übergeben, und es warnen vor dem, was es darin finden wird. Das Publikum liebt erfundene Geschichten; dies ist eine wahre. Es liebt Bücher, die in der Gesellschaft für Rührung sorgen; dieses Buch kommt von den Straßen.« Ähnliche Töne schlägt Verga, der Autor der Cavalleria-Erzählung, im Vorwort seiner Novelle Eva an: »Da habt ihr eine wahre Erzählung, ohne Rhetorik und Heuchelei. Ihr werdet darin etwas finden, das zu euch gehört, das die Frucht der Leidenschaft ist.« Schließlich wird im Pagliacci-Prolog das Programm direkt auf das Libretto übertragen: »Der Dichter hat versucht, euch ein Stück des Lebens zu malen. Und an der Wahrheit inspirierte er sich.« Nur: Begibt sich der Komponist bei diesem berühmten musikdramatischen »Vorspann« nicht letztlich aufs ästhetische Glatteis, indem er sich mit dem Kunstkniff der heraustretenden »Maske« des Komödianten Tonio geradezu der poetischen Illusion bedient? Wird hier nicht aus tiefer Wahrheit doch wieder Spiel?
Es gibt zwei ernsthafte Argumente gegen eine Deklarierung der Kunst der Jahrhundertwende mit dem Sammelbegriff Naturalismus, Literatur, bildende Kunst und natürlich Musik gleicherweise umfassend. Literarischer
Naturalismus, Impressionismus der Malerei und musikalischer Verismo waren Zeitströmungen unter anderen, sie bestimmten nicht allein das geistige Gesicht der Epoche. Der zweite Einwand betrifft den Begriff an sich und meint, alle im besten Sinne des Wortes naturalistischen Kunstäußerungen seien im Grunde realistisch.
Gewiss: Die Vielfalt der geistig-künstlerischen Strömungen dieser Zeit ist groß. Um im Bereich der Musik zu bleiben: Was hat ein Debussy mit Mascagni zu tun, ein Strauss mit Puccini, ein Schönberg mit Janáček? Jeder geht seinen Weg; und statt von Berührungspunkten lässt sich viel leichter von Konfrontationen sprechen. Das Argument, der Naturalismus sei nur eine beliebige Strömung der Zeit, wird entkräftet durch die Tatsache, dass seine Anhänger die einzigen waren, die der geschichtlichen und sozialen Wirklichkeit der Jahre etwa seit 1890 gerecht wurden. Hatte die Kunst in der Endzeit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht Tendenzen gezeigt, die zur Erstarrung und Unfruchtbarkeit führen mussten? Sie war unwahr geworden, überreif. Die Kunst der Verbindung mit dem Leben, ihr die Wahrheit der Aussage zurückzugeben, war längst Anliegen junger, gegenwartsbezogener Maler, Schriftsteller und Musiker, die sich der eigenen Umwelt mit ihren Menschen und deren Alltagssorgen verschrieben hatten.
Historisch bedingt
Dass die Zeit die sozialen Gegensätze, die Lebensbedingungen des arbeitenden Menschen verschärft hatte, konnte nicht ohne Folgen bleiben. Wollte die Kunst wahr sein, musste sie die Konflikte in ihrer ganzen Schärfe, Klage und Anklage aufreißen, auch in die Gosse hinabsteigen. Mag auch die Gefahr eines Stehenbleibens beim Nur-Deskriptiven, die Übertreibung des gesellschaftlich Kritischen naheliegen: Begabung und künstlerisches Temperament, die Persönlichkeit des Einzelnen lassen immerzu die Grenze zwischen Wert und Unwert des Kunstwerks sichtbar werden. So verstanden, ist Naturalismus (und in seinem Gleis der Verismo) eine historisch bedingte künstlerische Verhaltens- und Betrachtungsweise, aus der Zeit geboren und nur in diesem bestimmten Zeitabschnitt möglich. Zweifellos war der Naturalismus eine tragende und vorwärts weisende geistige Erscheinung der Epoche. Was das zweite Argument betrifft, so schließt Naturalismus in dem erwähnten Sinne Realismus nicht aus. Die besten Namen mögen für andere stehen: Gerhart Hauptmann, der in diesem Jahr seine menschlich reifsten, gerundetsten Dramen schrieb, und Max Liebermann, der große, dem sozialen Milieu verhaftete Maler. Will man einer Erscheinung wie Zola gerecht werden, der in seinen Romanen nicht nur zu »schildern«, sondern zu »bessern« suchte, ein stetes Wechselspiel von sozialem Background und individuellem Schicksal, so muss man hier von einem erweiterten Realitätsbegriff sprechen. Carl Dahlhaus hat zu erklären versucht, warum der Opernverismo (wie wir ihn seit dem Doppelgespann Cavalleria rusticana und Pagliacci in eindeutiger Klassifizierbarkeit verfügbar haben) an präzis vorgegebenen »tragischen Katastrophen«, sagen wir, Eifersucht, Blutdurst, Mord, gebunden ist. De facto hat der Naturalismus durch das Musikdrama eine starke künstlerische Rechtfertigung erfahren.
Realismo und Verismo
Kann es wundernehmen, dass sich der Durchbruch der neuen Kunstrichtungen von Italien, dem Mutterland des romanischen Opernaffekts, vollzog? Nicht nur die Art, wie Verdi in Rigoletto und Il trovatore, wie Ponchielli in La Gioconda die Schreckensmotive des Verismo bereits ankündigten und vorwegnahmen, sondern erst recht jene, wie die rustikale Kolportage der Cavalleria-Vorlage Vergas das Blut einer neuen Generation von Musikern ins Wallen brachte, wurde für den dramatisch komprimierten Opernstil der »giovane scuola« bezeichnend. Dennoch scheint die Verwirrung zwischen beiden Kategorien Realismo und Verismo groß. Sind Tosca und Andrea Chénier Stücke des Verismo? Natürlich nicht. Mit Lust, Hingabe und Leidenschaft, selbst verknüpft mit Gier, Folter und Mord, vermitteln beide Opern mehr als plumpe Abbilder schrecklicher Wirklichkeit. Dem nackten Verismo werden Farbe und Dekor hinzugefügt. Alles Parfüm narkotischer Eros-Sinnlichkeit, jeglicher Qualm romantisch verzaubernder Weltanschauung ist ihm fremd. Seine in Liebesduetten, Rezitativen, Chören, Intermezzi kulminierende Diktion wird von einem »Wahrheitsstreben« bestimmt, das über den eigenen naturgewachsenen Stimmungston verfügt. Puccinis schöpferische Fantasie verstand es (mit Ausnahme von Il tabarro ), sich gegenüber dem unverhüllten Verismo auf Distanz zu setzen.
In den meisten Epochen der Musikgeschichte fand der Dramatiker Situationen und Charaktere bevorzugt im Leben der Begüterten und Mächtigen und nur in seltenen Fällen im Dasein der Armen. Ein König, der sich auf seinem Thron räkelt, schien wohl interessanter als der hungernde Bauer, der von bedrückender Not getrieben wird. In der Praxis bedeutet die Theorie des Verismo, auf die Oper angewandt, dass anstelle des heroisch-aristokratischen Milieus der traditionellen Opera seria verschiedene, an sozial genau abgestufte Typen und Situationen gebundene Personen traten.
Ritualopern
Mascagni fand diese erbarmungslos harte Alltagswelt bei Verga vor, dessen Geschichten von den armen rückständigen Bauern Süditaliens, ihren aufbrechenden Leidenschaften, ihrer Religiosität erzählen. Wir sind eindeutig in Sizilien, mit seiner naturhaften Armut, seiner Kargheit. In der sozialen Entwicklung liegen zwischen der Dorfgemeinschaft der Cavalleria und dem Proletariat des viel weiter nördlich angesiedelten Bajazzo Jahrzehnte. Beide Werke stoßen sich eher ab, als dass sie sich anziehen. Was sie verbindet, ist eigentlich Äußerliches: Sie verlegen die Handlung an einen Festtag ins Freie, wahren die Einheit des Ortes und der Zeit, sind Einakter und lassen das Religiöse, die Osterprozession, die Vesperglocke, hineinspielen. Der Tod Turiddus wie Canios ist sozusagen Ritualopfer für die Sünden der Gemeinschaft.
Melodram und Chor
Der Verismo öffnete dem Melodrama der postverdi’schen Oper die Tür. Das szenisch Grässliche gab der melodramatisch sich entfaltenden Melodik alle Chancen. Das muss man sehen, will man die Musikdramaturgie der veristischen Oper auf ihre vokale sinnliche Wirkung abklopfen. Ihr Mosaikprinzip, wie es sich in der Nachfolge der Einakter von 1890 und 1892 entwickelte, schloss eine Menge Volksweisen, Lieder und Tänze, Orgelklang und Glockenton ein — eine eher kurzatmige, durch »Leitmotive« gebündelte Gestaltungsweise. Dem Chor wird eine dominierende Rolle zugewiesen. (Die Solopartien der Cavalleria lassen sich auf einer Schallplattenseite unterbringen.) Ohne in jegliche ästhetische Missachtung zu verfallen: Ausdruck und Form der veristischen Oper dürften sich in den meisten Fällen mit dem (keineswegs immer erhabenen Gehalt) decken. Alles liegt offen da. Man braucht als Hörer und Beschauer nur zuzugreifen.
Gangbarer Handelsartikel
Ein letzter Blick auf Aufstieg und Fall des Verismo, auf seine Folgen. Kurz vor seinem Tode schrieb Alfredo Catalani, der Komponist von La Wally, an einen Freund. Da heißt es: »Hast Du gelesen, dass Wagner völlig aus den deutschen Theatern verdrängt und durch Mascagni, Leoncavallo und Franchetti ersetzt ist. Ich bin froh, dass ich nicht mit diesen zusammen genannt worden bin, denen so viele künstlerische Verantwortung zugerechnet wird. Mögen sie glücklich sein und ihre Schultern breit genug, die Erbschaft eines Wagner zu tragen …« Zweifellos hinterließ die Cavalleria-Explosion unübersehbare Spuren. Dass die Verismo-Welle des Heimatlandes (wo Giordano, Cilèa, auch Mascagni und Leoncavallo selbst bald andere Wege einschlugen) sogleich Deutschland überspülte, ist erstaunlich genug. Spinellas A bassa porto wurde zuerst in Köln, Tascas A Santa Lucia zuerst in Berlin aufgeführt.
Damals schrieb der Wiener Richard Heuberger die harten Worte: »Die Fabrikation veristischer Opern ist ein Geschäft, das Grauen, das Entsetzen zum gangbaren Handelsartikel geworden.« Besonders der Concours für einaktige Opern, den 1893 der Herzog von Sachsen-Coburg ausschrieb, hatte ein überraschendes Echo. Wenigstens zwei dieser längst vergessenen, dem italienischen Volksleben entnommenen Werke seien erwähnt: Meyer-Helmunds Liebeskampf und Kaskels Hochzeitsmorgen. Tempi passati! Eigentlich ist in Italien von den Verismo-Nachkömmlingen nur Puccinis tragischer, vom Impressionismus berührter Il tabarro übriggeblieben und jenseits der Alpen d’Alberts Tiefland, das einen naturalistischen Reißer aus der katalonischen Bergwelt prägnant in Musik umsetzt. Nur: Zu lachen gibt es hier nichts. Die dunkle, schwere Attitüde, Affekte hochgetriebener Leidenschaft, naive Liebe und Gewalt sind dem Verismo sicher. Einflüsse seiner Ästhetik lassen sich noch bei Korngolds, Menottis, auch Schrekers und Schostakowitschs Opern mühelos entdecken. Das wäre kein stichhaltiges Argument für den »klassischen« Verismo. Eine Ehrenrettung mag es sein.