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VON ECHTEN UND FALSCHEN PREMIEREN
»CAVALLERIA RUSTICANA«
UND »PAGLIACCI« AN DER
Selbstverständlich treten Cavalleria rusticana und Pagliacci auch an der Wiener Staatsoper meistenteils als siamesisches Zwillingspaar vor das Publikum. Nichtsdestotrotz gingen die beiden Kurzopern im Laufe ihrer fast 130jährigen Aufführungsgeschichte an diesem Haus auch sehr eigene Wege beziehungsweise gelegentlich auch recht merkwürdige Fremdpaarungen ein. Schon durch die unterschiedlichen Uraufführungsdaten bedingt (Cavalleria: 1890, Pagliacci: 1892), dauerte es auch hierzulande einige Zeit, bis es zur ersten Aufführungsvereinigung kam.
Entsprechend der früheren Entstehung machte Cavalleria rusticana auch im Haus am Ring am 20. März 1891 den Anfang – und nahm das Publikum im Sturm. Sogar den berühmt-berüchtigten Dauer-Beckmesser Eduard Hanslick. »In Italien kommen alljährlich 30 bis 40 neue Opern zur ersten Aufführung, im vorigen Jahr (1890) gab es deren sogar 54! Die meisten von ihnen rollen lautlos in ein Eckloch der Theaterstatistik, um nie wieder ans Licht zu kommen«, beginnt er seine ausführliche Rezension in der Neuen Freien Presse, um dann zum Lobgesang auf Mascagni und dessen bis heute berühmtestes Opus überzuleiten: »Aber mehr als eine Seltenheit, ein geradezu unerhörtes
Ereignis ist es, dass der erste dramatische Versuch eines jungen Italieners nicht nur in ganz Italien als Meisterwerk gefeiert, sondern sofort auch auf den größten deutschen Bühnen in deutscher Sprache gegeben wird. Die Cavalleria rusticana von Mascagni ist in der Musikgeschichte das erste Beispiel eines so raschen, fast augenblicklichen internationalen Erfolges. Wie lange mussten die berühmtesten italienischen Meister auf diese Ehre warten.« Freilich, Hanslick wäre nicht Hanslick gewesen, wenn er nicht vom »Jubel, der alle Besinnung verlor und in eine Art Messias-Anbetung ausschlug« zum Widerspruch gereizt, wenigstens einige kleine Spitzen gegen die neue Partitur (»Dass den Hörer manche Melodie entzückt, die an sich weder besonders neu noch vornehm ist, kommt großteils auf Rechnung der wirksamen Instrumentation«) und vor allem gegen die ohnehin überarbeitete deutsche Übersetzung (»schleuderhafteste Marktware«) gesetzt hätte. Aber alles in allem gestand er ein, »dass ein so allgemeiner und spontaner Erfolg niemals ohne zureichenden Grund« zustande käme und prophezeit dem Werk eine große Zukunft. Und tatsächlich überschritt diese erste Produktion nach nicht einmal zwei Jahren bereits die Hundertermarke. Aber wie gesagt, vorerst in heute ungewohnter, fremder Begleitung: So gesellte man Ballette wie Der Spielmann, Wiener Walzer, Rococo, Die Puppenfee, Coppelia, Rouge et noir oder Harlequin, der Elektriker hinzu oder Opern wie Donizettis stark gekürzte Regimentstochter, Rossinis ebenso stark gekürzten Barbier, Cherubinis Wasserträger, Glucks Betrogener Kadi, mit L’amico Fritz sogar eine zweite Mascagni-Oper oder überhaupt heute unbekannte Eintagsfliegen, in der Hoffnung, dass die Strahlen der Cavalleria auch den mittelmäßigen Novitäten zu gewissem Glanz verhelfen.
Am 19. November 1893, also etwas mehr als zwei Jahre später, kam auch Leoncavallos Pagliacci zu Hofopernehren. Durch italienische Gastspiele hatte das Wiener Publikum allerdings schon zuvor, unter anderem am Theater an der Wien, Bekanntschaft mit dem Werk geschlossen und so war die Sensation nicht ganz so gewaltig wie bei der Cavalleria. Und auch Hanslicks Urteil fiel diesmal deutlich kühler aus. Er bosnigelte von »heißblütigem Talent«, aber »mangelnder Originalität« und begrüßte, dass die Wiederholung einzelne Arien dem ungeschriebenen Da-capo-Verbot der Hofoper zum Opfer fielen. Alles in allem mutierte aber auch Pagliacci sehr bald zum Publikumsmagneten, dem man die Ballette Robert und Bertrand bzw. Sylvia, die Nymphe der Diana beifügte, ehe schon bei der sechsten Vorstellung ein (eher zufälliges) erstmaliges Zusammentreffen mit der Cavalleria über die Bühne ging. Vorerst jedoch ohne besondere Nachwirkung. Im Gegenteil, auch Pagliacci musste noch Jahre lang weitere absurde und weniger absurde Kombinationen über sich ergehen lassen, die erst nach und nach und immer häufiger von der heute auch international üblichen Paarung unterbrochen wurden. (Wobei Paarung eigentlich das falsche Wort ist, da eine Zeit lang oft noch ein drittes Werk den jeweiligen Abend vervollständigte.) Doch ob gemeinsam oder getrennt, die jeweilige Erstaufführungsproduktion der zwei Stücke – die Aus- stattung stammte in beiden Fällen von Anton Brioschi – überdauerte mit zahllosen Vorstellungen sowohl die Jahn’sche als auch die Mahler’sche Direktionszeit und bot wichtigen Publikumslieblingen ideale Entfaltungsmöglichkeit. (Dass Gustav Mahler zudem nicht in die Pagliacci-Partitur eingriff, dürfte Leoncavallo im Nachhinein besänftigt haben. Bei der Erstaufführung seiner Bohème-Version an der Hofoper war dies nämlich ganz und gar nicht der Fall gewesen und so hatte Leoncavallo damals auf einer Einladung zur Generalprobe infolge der zahlreichen Änderungen seinen eigenen Namen durchgestrichen und wutentbrannt jenen von Mahler hingeschrieben.)
Um der Uraufführung von Albert Gorters Einakter Das süße Gift am 28. Oktober 1908 größeres Gewicht zu verleihen, setzte Direktor Weingartner am selben Abend auch eine euphemistisch als Neuinszenierung deklarierte Pagliacci-Aufführung an, die aber eher eine Verschlimmbesserung der vorhergehenden Regie darstellte. Heute würde man vermutlich korrekter Weise wohl eher von einer missglückten Wiederaufnahme sprechen, aber ein gutes Marketing ist offenbar keine Erfindung der letzten Jahre! Zumindest bot diese Pseudo-Premiere Julius Korngold die Möglichkeit zu dem seither gern zitierten Aperçu »Vor die Wahl zwischen Leoncavallo und Mascagni gestellt, möchten wir uns ohne Zögern für Puccini entscheiden«.
Wie dem auch sei, dem Süßen Gift war keine lange Lebensdauer beschieden und Cavalleria rusticana nahm kurz darauf wieder ihren angestammten Platz neben Pagliacci ein.
Am 21. März 1936 wiederholte sich Ähnliches: Um einen Richard TauberAuftritt als Canio noch wirksamer verkaufen zu können, wurde an diesem Abend eine weitere Pagliacci-Premiere vorgegaukelt (gemeinsam mit der Neueinstudierung einer ebenfalls schon bestehenden Produktion von Puccinis Gianni Schicchi). Doch auch diesmal dauerte die unübliche Liaison nur kurz und die Jahrzehnte alte Cavalleria-Inszenierung kam wieder zu Ehren.
Erst am 12. Dezember 1945 kam es im Ausweichquartier im Volksoperngebäude zu einer echten Neuproduktion und – erstmals in der Aufführungsgeschichte der Staatsoper – zu einer gemeinsamen Premiere beider Werke: In Josef Witts Inszenierung und Walter von Hoesslins zwangsläufig sparsamen Bühnenbild konnten man in den nächsten zehn Jahren so ziemlich alles erleben, was damals Rang und Namen hatte. Dass beide Stücke so rasch nach Ende des Zweiten Weltkriegs wieder im Spielplan verankert waren, bezeugt einmal mehr deren Popularität!
Unter großem Medienecho erfolgte dann am 8. März 1959 die erste gemeinsame Neuproduktion der beiden Opern in der wieder errichteten Staatsoper – der Karajan’schen Direktion gemäß natürlich in italienischer Sprache (wenn auch nach wie vor der Titel Der Bajazzo statt Pagliacci geführt wurde und unter Cavalleria rusticana sicherheitshalber in Klammer noch Sizilianische Bauernehre zu lesen war). Das Besondere an diesem Abend war, dass zwar beide Werke zu einer szenischen Neuinterpretation gelangten, aber jeweils mit einem unterschiedlichen Leading-Team: Im Falle der Cavalleria waren dies Regisseur Wolf-Dieter Ludwig und Ausstatter Nicola Benois und für die Regie der Pagliacci zeichnete der im Haus am Ring vielbeschäftigte Paul Hager verantwortlich und für Bühnenbild und Kostüme der junge Jean-Pierre Ponnelle. Mit der sich im Hintergrund auftürmenden Häuserfront hatte Ponnelle übrigens eine akustisch ideale sowie optisch äußerst überzeugende Bühnenlösung gefunden, die rückblickend gesehen die von ihm ein Vierteljahrhundert später entwickelte geniale Umsetzung in feinen Ansätzen schon erahnen lässt.
Nach dem vorzeitige Abgang Lorin Maazels als Direktor der Wiener Staatsoper war so manches großangelegte Projekt musikalisch verwaist oder musste überhaupt abgewandelt werden. Doch an einer Neuproduktion von Cavalleria rusticana und Pagliacci hielt Maazels Vorgänger und Nachfolger Egon Seefehlner fest (die Premiere dirigierte statt Maazel allerdings der noch junge Adam Fischer). Hinsichtlich der szenischen Gestaltung hatte man diesmal vollständig auf eine Karte gesetzt: Jean-Pierre Ponnelle war bei beiden Werken Regisseur, Bühnen- und Kostümbildner in Personalunion: Vor dem Hintergrund einer betont süditalienisch-sizilianischen, fast archaisch anmutenden Dorfarchitektur schuf er eine extrem detailfreudige in die 1930erJahre verlegte Inszenierung, die mittlerweile als Klassiker in die Aufführungsgeschichte eingegangen ist. Für die Premiere am 6. Juni 1985 hatten nebenbei bemerkt Hundertschaften von Opernfans wochenlang rund ums Haus kampiert, um eine der begehrten Stehplätze zu erhalten. Dementsprechend gefeiert wurden neben Ponnelle Elena Obraztsova als Santuzza, Luis Lima (der bedingt durch einen Unfall bei der Premiere mit einem Gipsarm sang) als Turiddu und vor allem Plácido Domingo als Canio und Ileana Cotrubaş als Nedda. Dass der damalige Staatschef Kenias offiziell als Gast des österreichischen Bundespräsidenten der Aufführung beiwohnte, verlieh diesem Abend einen zusätzlichen Sonderstatus. Der in den Kritiken immer wieder erwähnte Hinweis, dass der Rundhorizont faltig und ungebügelt wirkte, dürfte lediglich dem damaligen technischen Direktor eine schlaflose Nacht beschert haben.
Dass die beiden Stücke im Laufe der Jahre selbst in dieser aufeinander abgestimmten Regie in seltenen Fällen auseinandergerissen und mit anderen Stücken und stilistisch gänzlich anders gearteten Bühnenbildlösungen kombiniert wurden, sei nur am Rande erwähnt. Dass die Produktion nach mehr als dreineinhalb Dezennien nichts an Zugkraft verloren hat (wenn auch Alfios lebendes Reittier und die Pantomime am Beginn von Pagliacci im Laufe mit der Zeit weggeblieben sind), sei hingegen besonders hervorgehoben.
Giovanni Verga