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Die Erfindung des Augenblicks

Foto: Torsten Krug, 2013

Der Wuppertaler Autor Karl Otto Mühl ist gestorben

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Das erste Telefonat, es muss 1988 gewesen sein, zwischen dem Schriftsteller Mühl und mir verlief ziemlich unfreundlich. Wir kannten

uns noch nicht persönlich. Meine Frau hatte mir erzählt, er säße häufig bei den Zusammenkünften der sozialdemokratischen Frauen, an der seine Frau Dagmar Mühl-Friebel teilnahm, schweigend und nachdenklich in der letzten Reihe. Später wusste ich, dass er an allen gesellschaftlichen Bewegungen immer schon stark interessiert war.

Das zeigte sich schon bei seinem ersten Stücken, als Arno Wüstenhöfer ihn als Dramatiker entdeckte und zum Erfolgsautor weiterentwickelte. „Kur in Bad Wiessee“ kam auf die Bühne. Als Holk Freytag als Intendant und Gerold Theobalt als Dramaturg 1987 nach Wuppertal kamen, haben sie Mühl als Dramatiker gleichsam wiederentdeckt. Er schrieb für die hiesigen Bühnen Hauptmanns „Die Weber“ im schlesischen Dialekt und „Das Privileg“, beides wurden Publikumserfolge.

Ich hatte an Holk Freytag einen historischen Stoff aus dem Jahre 1826 geschickt und angefragt, ob das nicht ein Theaterstück werden könnte. Es ging um einen Afrikaner, den ein Wuppertaler Kaufmann „preiswert“ in einer Kneipe in Rotterdam von einem betrunkenen Kapitän erworben hatte und mit dem jener auf den Jahrmärkten des Bergischen Geld verdiente. Er hatte sich ein blutrünstiges Programm für den Schwarzen ausgedacht. Schließlich war der arme Mann nur noch ein Nervenbündel und konnte sein Arbeitsprogramm nur noch unter Alkohol durchstehen. Eines nachts floh er und landete in Düsseldorf in den Graf Reckeschen Anstalten. Dort lebte er als Schuster noch einige Jahre bis zu seinem Tod; als es ans Sterben ging, war er schon lange ein frommer Mann, der vielen der bäuerlichen Besucher vom Niederrhein, die ihn am Sterbebett besuchten, „zum Segen wurde“, wie es in dem Artikel eines Missionsblattes hieß.

Freytag fand Gefallen an dem Stoff, sein Dramaturg Gerold Theobalt sprach Karl Otto Mühl an. Dann hatte ich ihn am Telefon: Wie ich mir das denn vorstellen würde? Um ein Stück zu schreiben, würde er mindestens zwei, drei Jahre brauchen, und ähnliche Klagen, zu denen ich keinen Kommentar abgeben konnte. Mühl und ich trafen uns, um einiges zu besprechen, zu einem ausführlichen Spaziergang. Es folgten regelmäßige gemeinsame Spaziergänge (Hildener Stadtwald, Kemnader See vor Bochum, die Umgebung unserer Stadt etc.). Es war der Beginn einer engen Freund-

schaft, die bis zu seinem Tod in diesem Jahr Bestand hatte. Nebenbei sei bemerkt, dass das Stück Ein Neger zum Tee nach einem halben Jahr fertig war und aufgeführt wurde. „Ein Heimatstück“ hatte der Autor es genannt.

Das aus diesen ersten Kontakten Freundschaft wurde, ist verwunderlich. Unsere persönlichen Hintergründe waren denkbar verschieden: Er, Mühl, verstand nichts von Brieftauben (eine meiner Leidenschaften!), hatte nie wie ich „unter Tage“ im Bergbau gearbeitet oder Fidel Castro die Hand gedrückt; ich war nie (wie er von 1941 bis 1947) in Kriegsgefangenschaft, hatte keinen jüdischen Urgroßvater, verstand wenig von Theater oder den Geheimnissen der Haken und Ösen, die er für seinen Arbeitgeber Stocko zu vertreiben hatte.

Es gab auch ungeahnt Verbindendes: Inzwischen sprachen wir regelmäßig über Literatur und das Schreiben; immerhin war ich Verleger und ausgebildeter Buchhändler! Mühl hatte sich zum Thema Schreiben wesentlich mehr Gedanken gemacht als ich (als Verleger interessierte mich vor allem die Verkäuflichkeit!), mit den meisten seiner Theorien allerdings konnte ich wenig anfangen, vermutlich weil ich sie nicht verstand.

In jenen Jahren schrieb ich meinen ersten Roman „Auf dem Strom“ und gab Otto das Manuskript zur Durchsicht. Noch heute weiß ich, was er alles streichen und verändern wollte. Alle Passagen, die man als sentimental interpretieren könnte, wollte er eliminieren! Typisch Mühl! Aber bis auf wenige Ausnahmen biss er bei mir auf Granit! (Das Buch wurde in mehreren Sprachen ein guter Erfolg! Zu meiner Überraschung auch in Japan). Inzwischen hatte ich seine Bücher gelesen, vor allem den Heimkehrer-Roman „Siebenschläfer“. Da entdeckte ich seine kraftvolle Sprache; er wurde in mancher Hinsicht mein Lehrer und verlässlicher Berater.

Es gelang mir als Verleger auch, ihn zu motivieren, für den Peter Hammer Verlag einen Jugendroman zu schreiben. Fernlicht erschien 1997, ein wunderbares Buch, das auch von Mühl und seiner eigenen Jugend vieles zeigt, was in seinen berühmten Theaterstücken („Rheinpromenade“, „Kur in Bad Wiessee“ u.a.) nur verborgen sichtbar wird: Dass dieser Autor den sogenannten kleinen Leuten zugeneigt ist, viel von ihrem Leben, ihren Dramen, ihren Hoffnungen und Träumen weiß. Und dann schrieb er auch das schöne, von Juliane Steinbach illustrierte Kinderbuch „Jakobs seltsame Uhren“. Soweit einige Merkmale seiner Persönlichkeit. Auf den langen Spaziergängen (an die er, schon bettlägerig, gern bei meinen Besuchen zurückdachte und davon sprach) lernte ich einen Meister der zwischenmenschlichen Kommunikation kennen: Ob ein Mütterchen im Garten Kartoffeln ausmachte, ein Bauer sein Pferd striegelte oder Jugendliche Äpfel pflückten: Mühl blieb stehen und verstrickte die Menschen in wundersame Gespräche, ohne sich anzubiedern. Schließlich suchten wir bei schlechtem Wetter ein Café auf – und fanden für einige Jahre am Domagkweg in einem Stehcafé morgens eine Bleibe. Da standen und

Der Kriegsheimkehrer Karl Otto Mühl

Karl Otto Mühl mit dem Schauspieler Günter Lamprecht

saßen Arbeiter, Büroleute, Bauern und Landstreicher und es entspannten sich lebhafte Gespräche, die Mühl später unter dem Titel „Stehcafé“ aufgeschrieben und öffentlich machte. Zuerst waren Mühl und ich mit den zufälligen Besuchern allein, dann sammelten sich regelmäßig mehr und mehr Freunde, Männer und Frauen, Almuth Scheu, Erika Flüshöh-Niemann, Peter Hohberger, Bernd Altjohann, Lucas Greiner, Klaus Seiler, Harald Steup, später Wolfgang Honigmann u.a., um daran teilzunehmen.

Diese Frühstückskaffee-Runde existiert bis heute, allerdings nicht mehr am Domagkweg und leider ohne KOM. Die Stehcafé-Geschichten von Mühl sind wunderbare Perlen seines Humors, seiner Begabung, Menschen liebevoll zu zeichnen, und seiner Kunst, ein flüchtiges Gesprächsthema zu einer „Geschichte“ zu machen. (Die späteren Publikation sind fast ausschließlich im NordPark-Verlag erschienen, ebenso einige Nachdrucke der frühen Titel wie „Siebenschläfer“.)

Erwähnt sei sein Buch Totenwache. Abschiede. Die Personen, derer er gedenkt, hat er nicht nach öffentlicher Bedeutung ausgesucht, sondern nach der Intensität, mit der sie Teile seines Lebens waren. Da leuchten seine vielseitigen Beziehungen zur Theaterwelt wieder auf. Die Erinnerungen werden auch für die Leserinnen und Leser Begegnung mit der Rätselhaftigkeit des Lebens und Sterbens. Was mich persönlich besonders beeindruckt (fast möchte ich sagen: geprägt) hat, war seine Offenheit, mit der er auch ungeschützt von eigenen Schwächen und Niederlagen sprechen konnte; ein Pränomen, das man bei Männern leider selten antrifft.

Mühl hatte von Beginn unserer Freundschaft an starkes Interesse am literarischen Geschehen in dieser Stadt. Er zog mich, als mein erster Roman erschien (1998), in den Schriftstellerverband und seine regelmäßigen Treffen; gemeinsam brachten wir es zustande, dass der Kreis größer und größer und lebendiger wurde. Für die Organisation gewann Mühl Wolf von Wedel Parlow, auch ein Autor dieser Stadt. Manchmal kamen zu den Treffen rund 40 Autorinnen und Autoren oder mehr! Mühl war auch Gründungsmitglied der Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft und Mitglied der SPD. Erwähnt werden soll die Gründung von „Lesefreuden. Lesungen in Senioren-Einrichtungen“. Otto brachte die Idee der regelmäßigen Lesungen in Altenheimen von seinem Freund Saddai aus Frankfurt mit. Wir gewannen Leocadia Dreßler, Jeanine Arnauné und Eva Scholz für die Organisation und erreichten, dass in jedem Jahr in Wuppertaler Einrichtungen rund hundert Lesungen stattfinden. (Durch die Corona-Probleme ist allerdings die Arbeit unterbrochen.)

Bis zuletzt hat Karl Otto Mühl über Geschichten und neue Bücher nachgedacht, auch wenn nicht für alle Pläne die Kraft reichte. Was von ihm und seinem Schreiben bleibt, mag man nur vermuten. Sicher aber einige seiner Aphorismen, von denen er unter dem Titel Geklopfte Sprüche zwei Bände herausgebracht hat. Von den Theaterstücken Rheinpromenade und das Prosawerk Siebenschläfer. Aber darüber kann man so kurz nach seinem Tod nur spekulieren. Das wird die Zeit erweisen. Erscheinen wird noch ein Buch von ihm, das er vor seinem Tod nicht mehr erscheinen lassen wollte: Mein Leben als Greis. Vermutlich wird es Anfang 2021 vorliegen.

In einer kleinen Feierstunde haben Mühl und die Verantwortlichen der Bergischen Universität den Vertrag unterschrieben, dass sein schriftstellerischer Nachlass an der Universität betreut wird. Seinen engsten Freunden (und sicher auch seinen Kindern Anna, Maren und Julia und seiner Frau Dagmar), zu denen ich mich rechnen darf, fehlen schon jetzt die Gespräche mit ihm, seine Offenheit, seine Klugheit bei der Beurteilung von Haltungen oder Texten, seine Verlässlichkeit. So einer ist nicht leicht zu ersetzen mit seinen Fähigkeiten zur Freundschaft und seinem sozial wachen Gewissen. Karl Otto Mühl starb am 21. August 2020.

Hermann Schulz Fotos Seite 29 bis 30: privat Dr. h.c. Hermann Schulz, ehem. Verlagsleiter des Peter Hammer Verlages, Autor von Kinder- und Jugendbüchern

Im Stehcafé – Karl Otto Mühl, Frank Becker, Almuth Scheu und Hermann Schulz

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