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In der Lichtburg aus dem kreativen Schatten

Nayoung Kim und Eddie Martinez vom Tanztheater Wuppertal Pina Bausch haben den Shutdown genutzt, um Solostücke zu entwickeln

Eddie Martinez tanzt sein Solo in der Lichtburg.

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Der ganze Raum wird dabei zum Bühnenbild.

Das Spiel mit Papier spielt eine wichtige Rolle im Solo von Nayoung Kim.

Ein geschützter, geschlossener Raum, der die Welt aussperrte und nur selten Außenstehenden Zutritt gewährte. Heute, an einem

sonnigen Nachmittag, stehen die Türen im Obergeschoss offen, Licht und Straßenlärm fluten herein. Vielleicht erscheint das Messing der 50er-Jahre-Wandlampen deshalb noch ein wenig matter, changiert die moosgrüne Wandbespannung noch ein wenig mehr ins Graue. Doch trotz aller Patina: Dieser Raum lebt. Die unzähligen Kostümteile auf Stangen und Stühlen, die vielen Schuhe und Requisiten stehen bereit, um jederzeit benutzt zu werden. Der Raum hat sich vollgesogen mit der Geschichte von mehr als 40 Jahren Tanztheater Wuppertal, und er atmet sie aus. „Der Raum ist magisch“, sagt Nayoung Kim. „Wenn ich hier arbeite, fühle ich mich manchmal immer noch so, als würde Pina mir zugucken. Und ich betrachte mich so, wie sie mich gesehen hätte.“ Eddie Martinez sagt: „Die Lichtburg ist mein Zuhause. Es kommt mir so vor, als hätte ich die meiste Zeit meines Lebens hier verbracht.“ Jetzt wird die Lichtburg zum Bühnenbild für sein Solostück. „LichtburgSeries“ hat er es genannt. Ein Stück, das vielleicht nie vor größerem Publikum aufgeführt werden wird. Wie bitte?

„Ich kann mir das Stück außerhalb der Lichtburg nicht vorstellen“, sagt der Tänzer, der seit 1994 Ensemblemitglied des Tanztheaters ist. Aber das macht ihm nichts aus. Wichtig war nur, endlich wieder zu arbeiten. Kreativ sein zu können. „Ich wäre sonst verrückt geworden“, sagt er. Und auch wenn das vielleicht ein ganz klein wenig übertrieben ist: Man spürt, wie sehr die lange Zeit des Stillstands während der Corona-Pandemie – ohne Proben, ohne das Leben der Vorstellungen, Tourneen und Gastspiele – der Künstlerseele zugesetzt hat. Und man sieht die Erleichterung, die neue Energie, die der Schaffensprozess mit sich gebracht hat. Jetzt im Rückblick, wo das Schlimmste überstanden ist, sagen beide Tänzer übereinstimmend: „Corona hatte auch etwas Gutes. Wir hätten sonst nie so intensiv für uns in der Lichtburg arbeiten können.“ Auch für Nayoung Kim ist dieser Ort seit 25 Jahren ein Lebensmittelpunkt. Die Koreanerin kam 1996 zum Tanztheater Wuppertal. Im Gegensatz zu Eddie Martinez kann sie sich ihr Solo jedoch auch auf einer Bühne an anderen Orten vorstellen, denn sie hatte schon vor der Pandemie begonnen, in Kooperation mit einer Künstlerin und einem Komponisten aus Japan daran zu arbeiten – was sie nun hofft bald fortsetzen zu können. In der Zwischenzeit hat sie das Stück allein weiterentwickelt.

Eine lange weiße Papierbahn, auf der sie agiert oder hinter der sie verschwindet, dient ihr als Aktionsfläche. In ihrem Tanz erkennt man das Pina-Vokabular: das Drehen und Kreisen mit Gliedern, die in verschiedene Richtungen zeigen, die nach vorn ausgestreckten Arme, Handflächen nach oben. Im Tanz die Alltagsgesten, das Zeigen, Streicheln,

Die Szene mit auf dem Boden ausgebreitetem

rotem Rock in Nayoung Kims Solo weckt

Nayoung Kim wird zur Projektionsfläche für Fotografien aus ihrem Leben.

Wischen, das Flattern der Hände. Ihr trotz fließendem Deutsch starker Akzent wirkt wie eine ganz besondere, unverzichtbare Klangfarbe, wenn sie aus einem Buch vorliest, wie Gänse den langen Flug in den Süden bewältigen, und dass sie es nur gemeinsam schaffen. Als sie farbige Dias abspielt, die aus ihrer Vergangenheit stammen, wird ihr Gesicht zum Teil der Projektionsfläche.

„Pina-Vokabular“. Natürlich ist das falsch. Pina Bausch hat ihren Tänzern Fragen gestellt, wie man weiß, und die haben darauf geantwortet: mit ihren Körpern, mit Gesten, mit Bewegungen, mit Bildern und Geschichten. So sind nicht nur die Szenen, sondern auch die vielen Soli in den Stücken entstanden, wenn Pina Bausch gefragt hat: „Kannst du das als Bewegung machen?“ Es ist ihr Vokabular, das der Tänzerinnen und Tänzer, das sich über die Jahrzehnte durch die gezielte Auswahl von Pina Bausch so verdichtet hat, dass es einer eigenen Sprache gleichkommt, die man sofort wiedererkennt.

Nicht anders haben Nayoung Kim und Eddie Martinez jetzt auch gearbeitet. „Nur dass jeder sich die Fragen jetzt selbst stellen muss“, sagt Nayoung. Und selbst entscheiden muss, welche der Antworten stark genug sind, um ein Stück daraus zu formen. Die Anwesenheit und der freundschaftliche Blick des jeweils anderen waren dabei sehr wichtig, sagen beide übereinstimmend. „Wir haben uns kritisiert und geholfen, Eddie hat mich immer wieder motiviert“, erzählt Nayoung. „Wir hatten die ganze Zeit eine gute Energie. Und wir haben so viel Spaß gehabt!“, ergänzt Eddie. Man spürt die Vertrautheit, die in 25 Jahren gemeinsamer Ensemblezugehörigkeit gewachsen ist.

Eddie Martinez hat einen Armlehnenstuhl vor einem großen Ballettspiegel platziert. Er hat die Beine im Schneidersitz verschränkt, stützt sich mit den Händen ab und schwebt für einen Moment über der Sitzfläche, bevor er sich herabsinken lässt. Er legt den Kopf in die Hand, macht sparsame Tanzbewegungen nur mit Händen und Armen, zeichnet mit dem Zeigefinger den Nasenrücken nach, nimmt eine Haarsträhne zwischen die Finger. Alles winzig kleine Gesten, und alles ist Tanz. Dazu Barockmusik, die Arie „Lascia ch‘io pianga“ aus Händels „Rinaldo“ – wunderschön, melancholisch, ein wenig theatralisch; man fängt gerade an, darin zu versinken, als der Tänzer aufsteht und sich eine Plastiktüte über den Kopf zieht. Müsste es nicht ein heftiger Bruch sein, wenn auf die Händel-Arie „Down At Your Buryin‘“ von James Cotton aus dem Jahr 1967 folgt und der Tänzer mit Sonnenbrille vor dem Ballettspiegel coole Posen probiert? Ist es aber nicht. „Now I decide to change my mind / And show the world I care”, heißt es im Text. Und weiter: „I care about my fellow man /being taken for a ride /I care that things start changing/ But there‘s no one on my side.” Melancholie atmet auch diese Szene, aber auch Aufbruch und neue Lebenslust. „It’s about finding the perfect moment“, erklärt Eddie seinem Spiegelbild und rezitiert: „He’s got the whole wide world in his hands“ – wiederholend und so eindringlich, dass man die Zeilen des zigmal gecoverten Songs vollkommen neu hört. Ein dritter Teil seines Solos ist, begleitet von einer zarten, zeitgenössischen Klaviermusik von David Lang, tänzerischer, und auch hier entdeckt man vieles, das aus den Stücken des Tanztheater Wuppertal zu Zeiten von Pina Bausch vertraut ist. Und tatsächlich: Die Lichtburg mit all ihren im Raum verteilten Kostümen und Requisiten wird dabei zum Bühnenbild, das man nicht einfach wegdenken kann.

Zwei Tänzer, beide seit vielen Jahren im Ensemble, die – wie viele ihrer Kolleginnen und Kollegen auch – mit ihrer Persönlichkeit, mit ihren getanzten, gesprochenen oder spielerischen Antworten auf die Fragen von Pina Bausch viele Stücke mitgeprägt haben. Und die selbst durch das

Eddie Martinez mit einer Plastiktasche über dem Kopf. Zum Bild muss

man sich Barockmusik aus Händels Oper „Rinaldo“ vorstellen.

Nicht immer freundlich zu seinem Spiegelbild: Eddie Martinez.

Eddie Martinez agiert vor dem Ballettspiegel in der Lichtburg.

Dabei wird jede kleine Geste zu Tanz.

geprägt worden sind, was Pina Bausch damit gemacht hat. Sie sprechen gewissermaßen dieselbe Sprache – aber was sie damit hervorbringen, ist gänzlich verschieden. Ist ganz und gar Ausdruck ihrer eigenen Persönlichkeit.

Und die strahlt in diesen Soloarbeiten vielleicht sogar noch intensiver als in früheren Jahren. Nayoung Kim wurde 1964 in Südkorea geboren, Eddie Martinez 1963 in Kansas/USA.

Martinez kam mit 32 Jahren nach Wuppertal zum Ensemble – in einem Alter, in dem die meisten Tänzerkarrieren, nicht nur im klassischen Ballett, schon zu Ende gehen. Inzwischen gibt er manche seiner Parts in den Repertoirestücken des Tanztheater Wuppertal, die körperlich sehr anspruchsvoll sind, an jüngere Tänzer ab. Das Eingeständnis „Ich fühle mich noch jung, aber mein Körper ist nicht wie früher“ ist da. „Ich liebe die Bühne, aber ich muss nicht mehr selbst immer auf der Bühne stehen“, meint er. Aber warum eigentlich nicht? Wenn man ihm und Nayoung bei ihren Solos zuschaut, dann ist es sicher nicht virtuose tänzerische Technik, die berührt – und die man auch gar nicht erwartet. Dafür gibt es Qualitäten, die mit den Jahren und der Erfahrung eher noch gereift sind. „Früher war ich immer sehr kritisch mit meinem Aussehen,“ sagt Nayoung Kim. „Aber jetzt denke ich: Ok, das bin ich. Das ist in Ordnung.“ Und Eddie sagt: „Ich will gar nicht an die Vergangenheit denken und auch nicht an die Zukunft. Keine Ahnung, was passieren wird. Ich lebe mein Leben jetzt. Und jetzt fühle ich mich gut und stark.“

Die Arbeit in der Lichtburg hat beiden die Kraft und Energie zurückgebracht, die in der Coronazeit zu verschwinden drohte. Es ist eben wirklich ein magischer Raum.

Anne-Kathrin Reif Fotos: Willi Barczat

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