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Von Unterbarmen nach Amerika

Der Bericht des Amerika-Auswanderers Hermann Enters aus Unterbarmen bekommt eine Fortsetzung

Hermann Enters, ältester Sohn eines Webers, wanderte in den 1880er-Jahren mit Frau und sechs Kindern von Unterbarmen nach Milwaukee in Wisconsin aus. An seine

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zurückgebliebenen Geschwister im Wuppertal schrieb er 1922 einen langen Brief, in dem er authentisch und anrührend von seiner entbehrungsreichen Kindheit und Jugend in Unterbarmen berichtet. 1970 kam der Brief im Wuppertaler Born-Verlag als Buch mit dem Titel „Die kleine, mühselige Welt des jungen Hermann Enters“ heraus. Dieser erste Bericht erlebte mehrere Auflagen und wurde im Schulunterricht verwendet. Das Manuskript wurde ins Englische übersetzt, und Hermann Enters Enkelin Cloe Doyle aus Milwaukee beschrieb den Opa aus eigener Kenntnis. Das Ganze wurde als „The Hermann Enters Story“ in der Familie bekannt gemacht.

Jetzt erscheint, herausgegeben vom Bergischen Geschichtsverein, eine Art Fortsetzung. Das neue Buch „Hermann Enters wandert aus“ ist eine wesentlich erweiterte Fassung, die Enters 1927 nach dem Tod seiner Frau Auguste für Kinder und Enkel verfasste.

Hermann Enters und seine Frau Auguste feiern ihre Goldene Hochzeit

im Kreis der Familie am 30. April 1920 in Milwaukee

Klaus Goebel 2021, Foto: privat Der Historiker Professor Dr. Klaus Goebel, der zusammen mit Günther Voigt bereits das erste Enters-Buch ediert und kommentiert herausbrachte, erzählt wie das neue Manuskript in seine Hände kam. Das Interview für „die beste Zeit“ führte Christiane

Gibiec

Herr Professor Goebel, wie überrascht waren Sie, als Sie hörten, dass es ein zweites Enters-Manuskript gibt? Natürlich war ich sehr überrascht, denn ich ging davon aus, dass Hermann Enters 1922 einen 40-seitigen Brief an die Geschwister in Barmen und Elberfeld geschrieben hat. Der wurde dann zu dem Buch „Die kleine, mühselige Welt des jungen Hermann Enters“. Ende der 1980er-Jahre kam Leo Doyle, ein Enkel von Hermann Enters, mit seinem Sohn Peter aus Houston in Texas nach Wuppertal. Sie besuchten den Born-Verlag, in dem das erste Buch erschienen war, und berichteten, es gebe noch ein zweites, sehr viel umfangreicheres Manuskript, das sie aber nicht lesen könnten. Die Verlegerin Sigrid Born stellte später den Kontakt zwischen Peter Boyles Bruder Professor Jon Doyle und mir her. So kam die Kopie der 160 Manuskriptseiten in meine Hände. Der weitaus größere Teil der Erinnerungen, die im ersten Buch nur angerissen waren, wie etwa Hermanns Teilnahme am Deutsch-Französischen Krieg oder seine Zeit als Arbeiter bei Krupp in Essen, waren nun ausführlicher dargestellt.

Die Familie Enters ist ja mit sechs Kindern ausgewandert, in Amerika kamen noch vier dazu. Als Hermann Enters 1943 starb, trauerten auch 32 Enkel und 32 Urenkel um ihn. Die Zahl der Nachkommen dürfte sich vervielfacht haben. Ich hatte einen Briefwechsel mit Mark D. Enters in Milwaukee, der besitzt die Einwanderungsurkunde seines Ururgroßvaters. Sie wurde 1890 ausgestellt, da legte er den Treueeid auf die amerikanische Verfassung ab. Dieses Dokument haben wir in das neue Buch aufgenommen.

Was haben Sie mit den 160 eng beschriebenen Seiten in deutscher Kurrentschrift, die ja kaum noch jemand lesen kann, gemacht? Als ich mir das Manuskript zum ersten Mal vorgenommen habe, dachte ich sofort: Das muss vollständig transkribiert werden. Einer meiner Söhne kannte sich in der deutschen Schrift gut aus, wollte als Student auch Geld beim Papa verdienen und übernahm die Transkription. Ein zweiter Sohn, heute leitender Redakteur bei einem Schulbuchverlag, hat den Text ins Englische übersetzt. Die Übersetzung schlummert aber noch. Ich hoffe, dass das Erscheinen der deutschen Ausgabe jetzt einen Anschub gibt, das Buch auch in Amerika herauszubringen.

Was war noch bei der Bearbeitung des neuen Manuskriptes zu beachten? Die Rechtschreibung musste behutsam angepasst werden.

verbrachte Hermann seine

Kinder- und Jugendzeit.

Dieses Bruchsteinhaus

wird jetzt 300 Jahre alt.

Enters hat auch mehrere tausend Mal statt irgendwelcher Satzzeichen ein u für „und“ verwendet. Es war also ein Manuskript ohne Punkt und Komma und ohne Absätze. Diese Satzschlangen mussten in kürzere Sätze umgewandelt und der Text vorsichtig an die deutsche Rechtschreibung angeglichen werden, sodass Enters‘ Originalität erhalten blieb. Dieser Arbeit haben sich die beiden Söhne im letzten Jahr unterzogen. Ein dritter half mit und verfasste als Programmierer auch penibel das Personenregister.

Das Buch ist ja mit sehr vielen Kommentaren versehen, Sie haben die Geschichte der Familie Enters nachgezeichnet und das historische Umfeld dargestellt, die Familienmitglieder mehrerer Generationen aufgezählt und vieles andere. Ich wollte aber auch die amerikanischen Verhältnisse darstellen und kommentieren. Auf dem ersten Höhepunkt der Corona-Pandemie 2020 blieben in der Fernleihe viele Wochen lang die Bücher aus. So hatte ich mit John Gurda, dem amerikanischen Verfasser des Standardwerks „The Making of Milwaukee“, einen längeren Briefwechsel, um an Fakten zu gelangen. Da kamen auch Informationen über die Dellmanns, die Nachbarn, die die Enters zwar nach Milwaukee gelockt haben, dann aber in ständigem Streit mit ihnen lagen. Der amerikanische Kollege vermutet, dass Dellmanns die Enters vollkommen vereinnahmen wollten. Und es ging auch um Geld, Enters drückt sich in dieser Beziehung unumwunden aus. Seine Frau Auguste trug ja einhundert Taler, das sind 300 Mark in Goldstücken, bei sich. Die hatte ihr die Schwägerin Emma Enters beim Abschied in Antwerpen zugesteckt. Emma betrieb ein gut gehendes Schneideratelier in Barmen und spielte eine wichtige Rolle in der Familie.

Was erzählt das neue Enters Buch im Vergleich zu dem alten? Grob gesagt erzählt es die gesamte Lebensgeschichte, genauer die Lebenshöhepunkte, wie sie Hermann Enters erlebt hatte. Das Buch von 1970, basierend auf dem Manuskript von 1922, endet mit der Jugend in Unterbarmen, die späteren Stationen deutet er nur in wenigen Sätzen an. Im neuen Buch ist – abgesehen von der Auswanderung und vom Leben in Amerika - zum Beispiel der Lebensabschnitt „Arbeit bei Krupp“ sehr viel ausführlicher dargestellt, erst recht die Militärzeit von Hermann Enters als Rekrut in Koblenz, Mainz und Meiningen und Soldat im DeutschFranzösischen Krieg. Das zweite ist also wirklich ein neues Buch.

Auf mich hat das erste Enters-Buch einen starken Eindruck gemacht, die authentische Darstellung hat mich bezaubert, und ich weiß, dass es anderen ähnlich geht. Haben Sie eine Erklärung für den Zauber, den dieser Stoff ausübt? Die „mühselige Welt“ erlebte fünf Auflagen. Ich habe auf Wunsch des Born-Verlages eine Begleitschrift für Lehrerinnen und Lehrer aller Schulformen verfasst, da das Buch häufig in Schulen gelesen und in ganzen Klassensätzen verkauft wurde. Das Reizvolle war dabei natürlich, dass Lehrer und Schüler direkt die Orte aufsuchen konnten, von denen im Buch die Rede ist. Auch die nüchterne, knappe, ehrliche Darstellung wird zu der Wirkung beitragen. So kritisiert Hermann die hässlich über die Nachbarn redende Mutter zwar immer mit Respekt, aber er geht nicht darüber hinweg. Der Vater schlägt ihn in fast schon unmenschlicher Weise, und was der Vater kann, können die Lehrer erst recht. Hermann erzählt die Geschichte, wie ein Lehrer ihn in den Kothener Busch schickt, um Gerten zum Verprügeln der Kinder zu schneiden, und sich einen Spaß daraus macht, die erste Gerte gleich auf Hermanns Rücken kaputt zu schlagen. Vielleicht ist es das Authentische, was den Zauber ausmacht.

Wie hat Hermann Enters selbst seine Auswanderung beurteilt? Er sagt ja an einer Stelle, dass er nicht nach Amerika passe, das Land sei von Lug und Trug und Humbug erfüllt, und es dauere Generationen, um sich anzupassen. Enters hat aber auch an einer Stelle sinngemäß geschrieben: Amerika ist ein Land der Freiheit, da müssen seine Jungens nicht zum Militär. Er stellte sich also eine ideale Welt vor. Die war es natürlich nicht, auch wenn die Politik auf der Basis der Gründungsakte der Vereinigten Staaten erheblich weiter war als im Deutschen Reich. Enters wurde zum Beispiel 1882 gleich in seinem ersten Job damit konfrontiert, dass es eine Gewerkschaft gab. Er sieht später in der großen Waggonfabrik, in der er in verschiedenen Abteilungen tätig ist: Die Arbeiter haben hier Rechte, die man sich in Barmen, in Essen bei Krupp oder auch an anderen Stellen nicht im Traum hätte ausdenken können.

Wie weit war Hermann Enters sozialistisch orientiert? Die Orientierung ging vom Vater aus. Er selber war zunächst sehr kritisch gegenüber dem politischen Betrieb. Der Vater und die Mutter nahmen in den 1850er- und 60er-Jahren an sozialistischen Versammlungen teil, Vater Wilhelm Enters besuchte auch 1863 die berühmte Versammlung in Ronsdorf, auf der Ferdinand Lassalle redete. Enters spricht im ersten Buch von Lassalle als von dem neuen Christus. Und dann holt der Vater den Sohn in Elberfeld vom Bahnhof ab, als der von dem Krieg in Frankreich zurückkehrt, der Sohn äußert sich in negativster Weise über seine Kriegserlebnisse und gibt den Sozialisten Recht. Da sagt der Vater: Bist du endlich vernünftig geworden?

Was wissen Sie über die Nachfahren von Hermann Enters? Ich habe etwa ein Dutzend Mal den Namen Enters im Telefonbuch von Milwaukee gefunden, die habe ich alle angeschrieben. Aber nur einer hat sich zurückgemeldet, der schon erwähnte Mark D. Enters. Jon Doyle, heutiger Besitzer des Manuskripts und Sammler vieler Familienbilder, ist ein Enkel von Enters‘ letzter noch in Barmen geborener Tochter Meta, die Lawrence Henry Doyle geheiratet hatte.

Was bedeuten solche Quellen für die Wissenschaft? Hier kommt der kleine Mann, einer aus der Masse, zu Wort. Anders als etwa bei Enters‘ Landsmann Friedrich Engels, der mehr über die Lage der Arbeiter in England als im Wuppertal geschrieben hat und nur am Rande persönlich mit den Verhältnissen konfrontiert wurde, er ist ja in einem großbürgerlichen Haushalt aufgewachsen. Das Schicksal des Einzelnen, das so packend und mitleidenswert dargestellt ist, ist ein ganz wichtiger Punkt. Ein anderer Gesichtspunkt, der vielleicht winzig erscheint, aber von höchster Aktualität ist, ist die ökonomisch bestimmte Migration. Da verlässt jemand dieses Tal, das jahrzehnte- oder sogar jahrhundertelang Zuwanderungsgebiet ist, und wandert aus, und das ist ein Zeichen für eine soziale Schieflage. Hermann Enters ist ein Wirtschaftsemigrant, genau wie heute Tausende ihre Heimat verlassen, um Arbeit und ein besseres Leben zu finden. Dieser Aspekt im neuen Buch wäre, wie auch die Militärerlebnisse von Hermann Enters, ein weiterer wichtiger Unterrichtsgegenstand.

Gibiec: Vielen Dank für dieses Gespräch!

Hermann Enters wandert aus,

Klaus Goebel,

Herausgegeben vom

Bergischen Geschichtsverein e.V.,

Böhlau Verlag,

Hardcover, 280 Seiten, 29 €

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