Alexander Lippmann Sumpfwandertag
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Wir möchten transparent machen, welche unterschiedlichen Überlegungen zum Sprachgebrauch im Rahmen des Lektorats gemeinschaftlich ausverhandelt wurden und warum in diesem Roman im Unterschied zu anderen Titeln unseres Verlags nicht durchgehend geschlechtergerechte Sprache verwendet wird. Was den Gebrauch sowohl geschlechtergerechter wie auch antirassistischer Sprache in diesem Roman anbelangt, haben wir uns gemeinsam mit dem Autor entlang des Grats zwischen zwei diametralen Fragen zu bewegen versucht: Wird eine Sprache verharmlost und reproduziert, die in einer gewaltvollen Tradition steht und vor allem vor dem Hintergrund der Entstehungsgeschichte rassistischer Benennungen eine Gewaltausübung darstellt? Wird durch die konsequente Einhaltung geschlechtergerechter wie auch antirassistischer Sprache im Roman über sexistische und rassistische Praktiken und Machtverhältnisse in bestimmten politischen Generationen und Lagern hinweggetäuscht? Alle Figuren des Romans – vor allem auch der Ich-Erzähler – gehören politischen Generationen und Lagern an, in denen bis auf womöglich wenige Ausnahmen keine Sprache mit expliziten und interventionistischen geschlechtergerechten Formen verwendet wird. Dies soll mit einer durchgehenden Verwendung geschlechtergerechter Sprache in diesem Roman nicht verschleiert werden und so steht an einigen Stellen der männliche Plural, obwohl eigentlich alle Geschlechter repräsentiert werden müssten. Dennoch haben wir darauf geachtet, derartige Stellen so weit wie möglich zu umgehen, da wir zumindest die Annäherung an eine nicht-diskriminierende Sprache für unverzichtbar halten. Was die Gefahr der Reproduktion rassistischer Sprache innerhalb der Darstellung der Neonazi-Szene anbelangt, haben wir gemeinsam mit dem Autor versucht, Formulierungen zu finden, die zwar deren Sprechweisen nicht völlig verschleiert, aber dennoch Worte, die eine starke gewaltvolle Dimension haben und historisch rassistisch aufgeladen sind, vermieden. Grundsätzlich positionieren wir uns als Verlag ausdrücklich gegen diskriminierende Praktiken und für widerständige Interventionen.
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Alexander Lippmann
SUMPFWANDERTAG Roman
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © Zaglossus e. U., Wien, 2014 1. Auflage 2014 Alle Rechte vorbehalten Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig. Umschlaggestaltung: Thomas Reitmayer Lektorat: Katja Langmaier, Silvia Stoller Druck: Prime Rate Kft., Budapest Printed in Hungary ISBN 978-3-902902-24-5 Zaglossus e. U. Vereinsgasse 33/25, A-1020 Wien E-Mail: info@zaglossus.eu www.zaglossus.eu
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Für Nina
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„Aber während all dieser sieben Jahre verfolgte ich viel aufmerksamer das deutsche Leben als das österreichische, das zu sehr an das Treiben eines Eichhörnchens in einer Trommel erinnerte.“ Leo Trotzki, Mein Leben
„I need something good to die for, to make it beautiful to live.“ Queens of the Stone Age, „Go with the Flow“
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Überwachungs-Protokoll 12/A-4 Referenz: „Rosenburg“ Dienstnummer: 20214/43 Telefongespräch: 30.4.XXXX, 19:24-19:28 Ortungsangabe: 1020, Augarten S. nimmt den observierten Weg zu seiner Wohnung. Anruf erfolgt durch C. von dessen registriertem Mobiltelefon. S.: Ja? C.: Hagen? S.: Pepi! Ich gehe gerade heim, also … C.: Ich muss was loswerden. Bevor du etwas sagst … also … S.: Aha. Hab ich was im Büro vergessen oder …? C.: Ich habe dich immer geschätzt. Und in all der Zeit, die wir jetzt schon gemeinsam politisch tätig sind, hab ich mich immer auf dich verlassen können. Aber … S.: Was redest du da? Worum geht’s? Liest du das vom Blatt? C. schluckt hörbar. C.: Die Partei hat dich ausgeschlossen. Du arbeitest ab jetzt nicht mehr für mich und hast keinen Zutritt mehr zu unserem Büro. Ich schick dir deine persönlichen Sachen mit der Post nach Hause. S.: Ausgeschlossen? Aber … C.: Hast du verstanden? Ich hab versucht, mich für dich einzusetzen, aber wenn die neuen Gesetze kommen, kann ich dich nicht weiter schützen. Mit deiner Vergangenheit … und wenn du weiter für mich arbeitest, gehen wir beide unter, dann kann ich nichts mehr von 9
den Zielen erreichen, über die wir immer gesprochen haben. Hast du das kapiert? S.: Kapiert? Jetzt hör mal zu. Also wenn mir die Sozialdemokratie etwas ausgetrieben hat, dann sind das die Ziele, die ich in meiner Jugend verfolgt habe. Jetzt soll ich deshalb auf der Straße stehen? Nach zehn Jahren, die ich dich und diese Schleimscheißer unterstützt habe? Diese ganzen blauäugigen Linken … Die haben dich in den Nationalrat gebracht! Die haben wirklich geglaubt, dass die Sozialdemokratie nicht völlig degeneriert ist. Diese faschistischen Gesetze sind ja noch gar nicht beschlossen! Du hast selbst gesagt, dass wir die Stimmung noch drehen können. Noch drehen müssen! C.: Hagen, ich versteh dich ja, aber du weißt es doch, du kennst mich … Ich würde dich nicht freiwillig fallen lassen. Wir stehen massiv unter Druck! Fakt ist, wir mussten die Maikundgebung schon absagen, bevor sie sie verboten hätten. Wir dürfen ihnen keinen Grund liefern, noch weiter zu gehen. Die Demokratie muss geschützt werden, gerade in Zeiten der Krise. Ich bin doch völlig unglaubwürdig, wenn … S. lacht laut auf. S. (mit lauter Stimme): Unglaubwürdig? Seit wann hast du denn damit ein Problem, du Arschloch! Unglaubwürdig ist deine kleinste Sorge, du Verräter! C.: Ich muss mir von dir keine Beleidigungen anhören, Hagen. Danke für alles und leb wohl! S.: Pass nur auf, du Arschloch, ich weiß, wo … C. beendet das Gespräch. S. taucht um 19:47 bei C.s Wohnung auf, läutet und wartet 10
vor der Tür. Kurzes Handgemenge, als C. aus dem Haus kommt. C. bricht nach einem Kniestoß zusammen, S. geht weg. Es ist keine Anzeige eingegangen. (Siehe Protokoll 11a/304) Erwarten Anweisung für weiteres Vorgehen. XXXXX XXXXXXX Wien, XXXX
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1 Um mich herum zerbrochene rote Papierfahnen, die in den Dreck getreten worden waren. Über mir ein Himmel voller dunkler Wolken. Hinter mir eine recht überschaubare Menge, die sich unter den Plastikplanen der Bierund Imbissstände drängte. Erster Mai in Wien: „Tag der Arbeit“. Der letzte Regen war noch nicht lange vorüber, und die Wiese im Drexlerpark war völlig verschlammt. Mir war schlecht. Mein Magen rebellierte gegen die zwei Gramm Haschisch und den warmen Rum, den ich vor nicht einmal zwei Stunden konsumiert hatte. Es war zehn Uhr vormittags und ich hatte nicht geschlafen. Ich verkroch mich aber nicht unter den roten Schutzplanen, um dem kommenden Sturm zu trotzen, sondern stand zentral vor der kleinen Bühne. Josef Czerny, sozialdemokratischer Abgeordneter zum Nationalrat, hatte gerade begonnen, seine Rede zu halten. Sie war miserabel. Ich konnte das beurteilen, ich hatte sie geschrieben. Noch gestern war ich seine rechte Hand gewesen und hatte ihn als Freund betrachtet. „Liebe Genossen und Genossen!“ Die „Genossinnen“ hatte ich zwar eingeplant, aber Czerny verschluckte sie. Er wich meinen Blicken aus. Ich konnte sehen, dass ihm das Atmen schwerfiel, vielleicht hatte ich ihm gestern ja doch eine Rippe gebrochen? 12
„Ich freue mich sehr, dass so viele trotz des schlechten Wetters der Einladung unserer Initiative gefolgt sind. Egal, wie sehr die konservativen Kräfte in dieser Stadt und im ganzen Land auch protestieren! Fakt ist, wir werden uns diesen Tag nicht nehmen lassen! Egal, ob die Unternehmer in diesem Land meinen, dass die Feier des ersten Mai nicht mehr zeitgemäß ist. Klar ist: Wir werden diesen Tag weiterhin in der Tradition der sozialdemokratischen Bewegung begehen! Gerade in dieser Zeit der wirtschaftlichen Anspannung ist es umso wichtiger, dass wir nicht die große Tradition der kämpferischen Arbeiter vergessen, die uns diesen Feiertag geschenkt haben! Die ihr Leben geopfert haben im Kampf gegen den Faschismus. Die Arbeitszeitverkürzung und Krankenstand erstritten haben. Die Sozialhilfe und Arbeitslosengeld für uns gesichert haben. Wir werden uns diese Errungenschaften auch in Zeiten der Krise nicht nehmen lassen, wir werden uns auf unsere politischen Wurzeln besinnen und den Superreichen zeigen, wie Gerechtigkeit aussieht!“ Der Applaus war eher mager, die Anlage übersteuerte, und ein grässliches Feedback trieb mir beinahe Tränen in die Augen. Czerny blieb unbeeindruckt. Untersetzt, Mitte vierzig, dunkelgrauer Anzug von der Stange und mit dem leicht lallenden Zungenschlag, der schon vielen sozialdemokratischen Politikern den Ruf der Volksnähe eingebracht hatte. Es war nicht besonders schwer gewesen, Themen für die Rede zu finden. Die Wirtschaftskrise hatte endlich auch Österreich in einem Ausmaß erfasst, das die Menschen auf dieser „Insel der Seeligen“ bisher nur aus den Nachrichten kannten. Zu den Folgen gehörte auch, dass 13
die Sozialdemokratie beschlossen hatte, erstmals in ihrer langen Geschichte kein großes Fest zum ersten Mai zu veranstalten. Der Rathausplatz war voll mit Ständen einer Berufsbildungsmesse, das Fest im Prater war an eine Event-Agentur ausgelagert worden, die dafür sorgte, dass keine politischen Botschaften das lustige Treiben störten. Die Mehrheitsgesellschaft war sich einig: Hauptsache, rote Luftballons. Die einzelnen Ortsgruppen hatten sich also selbst um ihren Feiertag zu kümmern. Die Mutterpartei wollte nicht zur „gesellschaftlichen Polarisierung“ beitragen und „radikalen Elementen“ keinen „Anlass zum Aufmarsch“ liefern. Als würden das Absingen der „Internationale“ und staatstragendes Winken mit roten Taschentüchern eine Revolte auslösen. Dass die absolute Dominanz der Partei selbst in Wien seit Längerem der Vergangenheit angehörte, hatte wohl auch mit zu diesem traurigen Schauspiel beigetragen. Czerny galt in der Partei als „Linker“, und deshalb sprach er auf diesem kleinen Fest vor anderen, die sich selbst auch so sahen. „Links“, das hieß, dass er noch immer kämpferische Sonntagsreden hielt, während die anderen sogar rhetorisch kapituliert hatten. Er setzte die Rede fort, aber ich hörte nicht mehr zu. Hatte ich wenigstens den Boykottaufruf gegen den ungarischen Ständestaat in der Rede untergebracht? Oder etwas über die rechtsradikalen Splittergruppen, die für Aufruhr sorgten, seit die FPÖ in der Bedeutungslosigkeit verschwunden war? Nicht diese Scheiße von … Egal, ich war nicht mehr Teil des Spiels. Czerny schloss die Rede mit „Freundschaft!“. Ich musste kotzen und ging vor der Bühne in die Knie. 14
Ich hatte nichts gegessen, aber die Magenkrämpfe waren immerhin eine willkommene Abwechslung zu den Gedanken, die mir durch den Kopf gingen. Drei Jugendliche halfen mir wieder auf die Beine und wollten mich auf die Seite der Bühne bringen, aber ich stieß einen davon weg. Ich ertrug seine Berührung nicht. Das brachte die anderen beiden dazu, mich als „besoffenes Arschloch“ zu beschimpfen. Sie verzogen sich, und ich kniete im Dreck, die Augen geschlossen, und genoss den leichten Wind, der meine Kopfhaut sanft auf den Regen vorbereitete, der sicher noch kommen würde. Ich hörte das Würstel- und Biergemurmel, das von den Rändern der Wiese bis zur Bühne her drang, und rappelte mich hoch, bevor noch jemand die Polizei anrufen und mich abführen lassen würde. Als Asozialen, der die Kinder einfacher Leute verprügelte. Ich setzte mich allein an eine Heurigenbank mit einem rot-weiß karierten Tischtuch aus Plastik und ließ meinen Schädel auf die Tischplatte sinken. Der Tisch war klebrig von ausgeschüttetem Bier und Schweinebratenresten, aber das war mir egal. Die meisten hier kannten mich seit Jahren, aber niemand sprach mich an. Am Gestank lag es nicht – und auch nicht am Alkoholniveau im Blut, das war beides Standard bei solchen Veranstaltungen. Ich war ein Paria geworden für die fleißigen, einfachen Parteimitglieder. Genosse Czerny hatte die Funktionäre wohl schon vor Tagen intern über das informiert, was ich erst gestern erfahren hatte, also hielten die Bierbäuche pflichtschuldigst Abstand vom Ausgestoßenen. Ich bemerkte die Hand auf meiner Schulter erst, als sie schon begonnen hatte, mich zu rütteln. Farid Shamirani 15
schaute mich durch wie immer völlig verdreckte Brillengläser traurig an. Ich hatte ihn seit Jahren nicht gesehen. Farid war klein und schlank, sein schwarzes T-Shirt mit dem roten Stern auf der Brust war ausgewaschen, seine schwarze Cargohose war ausgebeult. Seine Hand lag immer noch auf meiner Schulter. Ich wischte sie weg. „Hagen? Was ist los?“ Mein Blick wanderte zu dem Packen an Zeitungen, den er neben mir auf den Tisch gelegt hatte. Die Titelseite erinnerte mich an unsere gemeinsame Vergangenheit. „Die Krise des Kapitalismus ist die Chance der revolutionären Kräfte.“ Nicht besonders eingängig. „Du hast recht gehabt, Farid. Schon damals. Sie haben mich rausgeworfen. Angeblich, weil sie die Partei schützen müssen.“ Er seufzte. „Du bist doch schon seit Jahren nicht mehr aktiv! Du bist der Einzige, der dringeblieben ist, als alles schon längst vorbei war, als wir jede Hoffnung begraben hatten, dass wir die fortschrittlichen Teile herausbrechen können. Du bist der lebende Kompromiss, Hagen. Was sollte ihnen das bringen, du bist für niemanden eine Gefahr, schon gar nicht für die Partei oder die Demokratie. Was auch immer davon übrig ist …“ Noch immer die gleiche Überheblichkeit des aufrechten Revolutionärs, der nichts mit der degenerierten Parteibürokratie zu tun haben wollte und der wahrscheinlich noch immer ein Bild von Trotzki in seiner Brieftasche mitführte. Er war es gewesen, der mich für die Bewegung begeistert hatte, als ich ihn an der Universität kennengelernt hatte. Er war es gewesen, der mir klargemacht hatte, dass 16
es niemandem etwas brachte, ständig in der Provinz Nazis zu jagen, nur um dann wieder einen Prozess wegen Körperverletzung durchstehen zu müssen. Aber er war es auch gewesen, der mich als Opportunisten und Revisionisten beschimpft hatte, als ich als „versteckter Revolutionär“ in die Sozialdemokratische Partei eingetreten war. Seine Meinung hatte sich offensichtlich nicht geändert. Ich versuchte ihn wegzustoßen, aber ich war völlig kraftlos. Mein Mageninhalt brannte noch immer in meiner Kehle. „Lass mich in Ruhe!“, entgegnete ich. „Ich weiß gar nicht, warum ich dir das erzähle. Als ob du und deine fünf Freunde unsere Ziele von damals verwirklicht hätten. Schau dich an! Weil die Klasse angeblich die Wahrheit erfahren muss, verkaufst du eine Zeitung, die hier keinen interessiert. Schau dich um! Die Klasse scheißt auf dich! Und deine Familie scheißt auch auf dich, die finden, Stalin hat einfach mehr Sex.“ Farids Augen verengten sich zu Schlitzen. „Du hast nichts verstanden. Du hast keine Ahnung davon, was einen Revolutionär ausmacht. Wenn dich die Else jetzt sehen könnte …“ Mit einem Ruck stand ich auf und verpasste Farid eine Ohrfeige, die seine Brille von der Nase fliegen ließ. Er stolperte zurück, und seine Zeitungen landeten auf dem Boden. Selbst in Zeiten körperlicher Schwäche konnte ich mich wenigstens auf meine Wut verlassen. „Hau ab! Komm mir nicht mehr unter die Augen!“ Er sammelte seinen Zeitungen auf, schaute mich an und sagte: „Ich kann nichts dafür, dass du die falsche Entscheidung getroffen hast, das musst du schon selbst 17
verantworten. Wer sich mit Verrätern ins Bett legt, darf sich nicht wundern.“ Er machte einen Schritt auf mich zu. Deeskalation war noch nie Farids Stärke gewesen. Ich schlug noch einmal zu, diesmal war meine Hand zur Faust verdichtet. Farid knallte gegen eine Bank und riss sie mit zu Boden. Ich wollte mich auf ihn stürzen, um ihm seine Phrasen aus dem Schädel zu prügeln, aber ein paar beherzte Herumstehende hielten mich zurück. Ich brüllte ihn an: „Ich bring dich um, du Arschloch! Hörst du?“ Farid hatte sich aus dem Schlamm erhoben, suchte seine Brille und schüttelte den Kopf. Dann verließ er mit festen Schritten das Zelt. Ich schüttelte die Pensionisten ab, die mich festhielten, und torkelte aus dem Zelt. Ich schaffte es noch in eines der mobilen Klos, bevor ich benebelt das Gleichgewicht verlor. Der kurze Ausbruch an körperlicher Aktivität hatte mich erschöpft. Wie immer, wenn mir klar wurde, wie sehr ich mich von dem entfernt hatte, was ich sein wollte, dachte ich an Griechenland. Wie immer schlief ich dabei ein. Ich träumte von fünfhundert jungen Kommunisten und Kommunistinnen, die die Internationale sangen. Von Marina und Peter, die neben mir standen und die linke Faust in den blauen Himmel hoben. Ich träumte vom Adrenalin, das ich bei meiner ersten Demo gespürt hatte, und davon, dass ich einem Polizisten die Faust durch sein Visier ins Gesicht schlug. Ich träumte den Traum der Aufrechten, die keine Kompromisse machten und keinen Millimeter zurückwichen. Selbst im Traum war mir klar, dass sich alles anders entwickelt hatte, dass die Geschichte nicht auf 18
unserer Seite war, aber ich genoss das Gefühl, zu wissen, was richtig und was falsch war. Eine schöne Illusion. Ich erwachte völlig verschwitzt in einer Wolke aus Kopfweh, Rückenschmerzen und einem Mund voller Asche. Offensichtlich war ich der stinkenden Plastikzelle entkommen, denn ich lag zwischen gut gepflegten Büschen auf dunklem Rindenmulch. Vor mir zeichneten sich im Gegenlicht der tief stehenden Sonne die Schatten zweier junger Polizisten ab. In der Mitte stand die mir wohlbekannte Gestalt von Czerny. Offensichtlich hatte er bei jeder Bewegung noch immer Schmerzen. Ich konnte mir ein kleines Grinsen nicht verkneifen. „Steh auf, Hagen!“ Czerny sprach leise und mit einem Anflug von Hass. „Steh auf und dann verschwinde! Wir brauchen hier keine Leute, die nicht wissen, was sich gehört.“ Ich setzte mich auf und lehnte mich gegen einen dicken Baumstamm. „Darf ich nicht mitfeiern? Darf ich mich nicht an der Stärke der Versammlung erfreuen? An den hundertfünfzig Pensionisten, die noch immer von Kreisky schwärmen und denen du etwas von einer glorreichen Zukunft erzählst?“ Czerny schaute zu den Büschen und nickte. Mit dem Enthusiasmus der Jugend packten mich die beiden uniformierten Leistungsträger, hoben mich hoch und stellten mich mit der Brust gegen den Baum, an den ich mich gerade noch gemütlich gelehnt hatte. „Steiner, Sie sind verhaftet. Öffentliche Ruhestörung und Beamtenbeleidigung. Sie können froh sein, dass Herr Shamirani keine Anzeige wegen Körperverletzung erstattet hat.“ 19
Ich war verwundert. „Beamtenbeleidigung? Kannst du Gedanken lesen?“ Der junge Polizist drehte mich um und schaute mir tief in die verschwollenen Augen. „Vielleicht hättest du heute ein anderes T-Shirt anziehen sollen, du Spezialist.“ Ich schaute an mir herunter und konnte nichts besonders Provokantes an meinem „Kater Carlo Scooter Gang“T-Shirt entdecken. Bis mir einfiel, welcher Slogan den Rücken zierte. „A. C. A. B.“ All Cops Are Bastards. Ich musste es blind aus dem Schrank gefischt haben, als ich mich gestern endgültig aus dem Anzug geschält hatte, der so lange meine Arbeitskleidung gewesen war. Das T-Shirt, das auf jedem oberösterreichischen Vespa-Treffen meiner Jugend für Furore gesorgt hatte, brachte mir jetzt eine Übernachtung im Bau ein. Eine Freud’sche Fehlleistung in Modefragen? Ohne jede Gegenwehr und ohne Czerny noch eines Blickes zu würdigen, ging ich mit den beiden mit. „Halt dich von offiziellen Parteiveranstaltungen fern, Hagen!“ Czerny drehte sich um und ging in die andere Richtung davon. Wir hatten gerade den Rand des Parks erreicht und traten auf die Straße, als die Funkgeräte meiner beiden Begleiter hysterisch zu knacken begannen. „Hier Leitstelle Wien 16. Eine Gruppe von zirka siebzig vermummten Manifestanten ist auf dem Weg zur Veranstaltung im Drexlerpark. Wir rechnen mit einem Angriff. Alle verfügbaren Kräfte zusammenziehen, die Einsatzgruppe ‚Alarm‘ ist unterwegs.“ Wie immer waren die Beamten etwas zu spät informiert worden. 20
Fünfzig Meter die Straße hinunter sahen wir etwas, was man nur als Schwarzen Block mit brauner Gesinnung bezeichnen konnte. Etwa achtzig in Schwarz Gekleidete, an den Seiten und von vorne von Transparenten geschützt und eine Unmenge an Fahnen schwenkend, riefen laute Sprechchöre. Vor zehn Jahren hätte ich mir bei dem Anblick noch die Hoffnung gemacht, dass es sich um „meine Leute“ handeln könnte, aber die Slogans auf den Transparenten sprachen eine völlig andere Sprache. „Frei. Sozial. National.“ und „Erster Mai, seit 1933 arbeitsfrei.“ machten klar, auf welcher Seite der Barrikaden man hier stand. Ein straff organisierter Block von achtzig autonomen Neonazis war dabei, besoffene sozialdemokratische Pensionisten zu verprügeln, und die einzigen Polizisten, die in der Nähe waren, waren mit mir beschäftigt. Ich merkte, wie sich der Griff an meinem Oberarm lockerte, und hörte den schnellen Atem meiner Begleiter. Die bengalischen Feuer entfalteten in der hereinbrechenden Dämmerung ihre volle Wirkung. Phosphorweiße Schlagschatten begleiteten den Aufmarsch. Wo waren die Einsatzgruppen, die mich in meiner Jugend so gern im Kessel schwitzen ließen? Warum hatte man diese Demonstration ohne Polizeischutz zugelassen? Warum durften die Nazis so nah an einer Feier der Sozialdemokratie vorbeiziehen? Als der erste Stein geflogen kam, traf er den Polizisten rechts von mir mit voller Wucht am Brustkorb. Er stürzte zu Boden und schnappte nach Luft. Sein Kollege ließ mich los, wollte seine Waffe ziehen, kam aber schnell zu dem Entschluss, dass eine Flucht wohl besser war. Mit dem Funkgerät in der Hand rannte er zurück in den Park und ließ mich mit seinem Blut spuckenden Kollegen allein. 21
Die letzten Anzeichen meiner Müdigkeit waren wie weggeblasen, das Adrenalin erfüllte seine evolutionäre Aufgabe und steigerte meine Kräfte. Ich packte den bleichen Polizisten und zog ihn zu der niedrigen Mauer zurück, die den Park begrenzte. Hinter mir im Park formierten sich jetzt schon schwer gepanzerte Einsatzgruppen von etwa zwanzig Mann und bildeten eine undurchdringliche Linie. Als zwei der neu Eingetroffenen auf mich zukamen, ließ ich den Verletzten los und rannte, so schnell ich konnte, nach rechts am Rand des Parks die Straße entlang, um nicht endgültig zwischen den Fronten gefangen zu werden. Ich versteckte mich keuchend hinter einem großen SUV und beobachtete, wie der Demo-Zug Fahrt aufnahm. Die Sprechchöre wurden der neuen Situation angepasst. „Wiener Polizisten schützen Kommunisten!“ dröhnte es über die Lautsprecheransagen der Polizei hinweg, die dazu aufforderten, die Manifestation aufzulösen. Der Block dachte nicht daran, den Anweisungen zu folgen. Stattdessen ging ein Steinhagel auf die überraschten Polizisten nieder. Die ersten drei Reihen der Nazis hatten die Fahnen von den Vierkanthölzern gerissen, die als Fahnenstangen gedient hatten, und stürmten auf die Polizisten zu. Die versuchten, ruhig zu bleiben. Bis zum ersten brutalen Kontakt. Die Polizei hatte keine Chance gegen die gut organisierten Schläger, die offensichtlich lange für diesen Tag trainiert hatten. Ich hörte Sirenen, die dumpfen Treffer der Holzknüppel und aufgeregte Aufrufe, sich in Sicherheit zu bringen, aus den Lautsprechern, die noch kurz davor den Versammlungsplatz der Sozialdemokraten beschallt hatten. Mein Herz klopfte bis zum Hals. Manche der 22
Schwarzgekleideten blieben in der Kette der Polizei hängen, andere wurden von Gummigeschoßen verletzt, aber viel zu viele überrannten die Ordnungskräfte und waren in den Park unterwegs. Sie würden sich den ersten Mai zurückholen, so wie sie es seit Wochen angekündigt hatten. Dieser Übergriff würde nicht der einzige sein. Aber niemand hatte sie ernstgenommen, diese Jugendlichen, die sich kleideten wie die linksradikalen Hausbesetzer, die gerade in großen Scharen im Gefängnis verhört wurden, weil man die „Demokratie gerade in Zeiten der Krise schützen musste“, wie die Regierung nicht müde wurde zu betonen. Sie hatten leichtes Spiel, die extremen Rechten. Die Linke war marginalisiert und mit Berufsverboten bedroht und sie selbst waren im Aufwind, weil ihre autoritäre Antwort auf die „soziale Frage“ für viele attraktiv war: Schuld waren immer die Anderen. Neben mir schlug ein Molotowcocktail ein, und ich spürte, wie mir die Hitze die Augenbrauen versengte, aber ich war schnell genug, um dem Schlimmsten zu entgehen. Ich war froh, dass ich wenigstens das regelmäßige Schwimmen nicht für die Partei aufgegeben hatte. Ich rannte durch einen anderen Eingang zurück in den Park. Egal, was Czerny mir angetan hatte, ich würde diesen faschistischen Arschlöchern nicht den Tag überlassen. Ich raste durch die Büsche und konnte die Festwiese schon sehen, als mich von hinten ein Schlag traf. Ich stolperte, verlor die Orientierung, und mir wurde schwarz vor Augen.
Ich erwachte, irritiert von Regentropfen und Donnerschlägen. Es war Nacht, ich lag in einer Pfütze im Unterholz und war völlig durchnässt. Ich schaute mich um. 23
Der sozialdemokratische Jahrmarkt war ein Schlachtfeld. Der Braune Block, dem ich begegnet war, hatte Unterstützung von allen Seiten bekommen. Die Nazis hatten die Bühne erobert und die Stände verwüstet. Die meisten Leute schienen aber heil davongekommen zu sein, die Polizei war offensichtlich der Hauptfeind geblieben. Ein halb heruntergerissenes Transparent verkündete, dass dieser Park ab jetzt eine „national befreite Zone“ war. Die Schlacht war geschlagen. Gewonnen hatte wie immer niemand. Am wenigsten meine körperliche Gesundheit. Ich drehte mich zur Seite, als mein Blick auf einen verstreuten Packen von Zeitungen fiel, die in meiner Nähe ausgebreitet lagen. Sie lösten sich langsam im Regen auf. Es war der Klassenkampf, das „Theorieorgan der ArbeiterInnen“. Die Titelseite kannte ich schon. Viele Exemplare waren rot gefärbt. Mein Herz blieb kurz stehen, als ich die Umrisse eines menschlichen Körpers erkannte, die unter den nassen Zeitungen sichtbar wurden. War ich noch gar nicht erwacht? Ich hob eine der mit Blut und Wasser vollgesogenen Zeitungen auf und blickte in Farids Gesicht. Seine Brille war zerbrochen, die Splitter hatten sich in seine Haut gebohrt. Der Winkel, in dem sein Kopf zum Körper lag, sah unnatürlich aus. Hatte man ihm das Genick gebrochen? Ich rief seinen Namen und packte ihn an den Schultern. Kein Lebenszeichen. Seine Augen waren weit aufgerissen und blickten in die Dunkelheit. Das Haar verklebt mit dunklem Blut. Jemand hatte ihm ein zusammengeknülltes Stück Papier in den Mund gestopft. Ich zog es heraus. Ich stolperte nach hinten und setzte mich in den Schlamm. In dicken, schwarzen Buchstaben stand dort „Wer Österreich nicht liebt, soll Österreich verlassen“. Ich musste hier weg. 24