Hanna Hacker: "Frauen* und Freund_innen" c Zaglossus eU

Page 1

Hanna Hacker Frauen* und Freund_innen

zaglossus


challenge GENDER Aktuelle Herausforderungen der Geschlechterforschung. Reihe des Referats Genderforschung Band 4 Diese Reihe des Referats Genderforschung der Universität Wien präsentiert aktuelle Theorien, Diskussionen und Forschungsarbeiten der transdisziplinären Gender Studies, u. a. aus Perspektiven der feministischen Epistemologie, der Queer und Postcolonial Studies, der Feminist Science Studies oder der Gender & Science Technology Studies. Im Zentrum der Reihe stehen kritische Reflexionen von Geschlechterverhältnissen und gesellschaftliche Machtstrukturen, deren Wandel im Kontext der Globalisierung, ebenso wie gegenwärtige Versuche, Sex, Gender und Sexualität neu zu denken.

challenge Gender Aktuelle Herausforderungen der Geschlechterforschung


Hanna Hacker

Frauen* und Freund_innen Lesarten „weiblicher Homosexualität” Österreich, 1870–1938

zaglossus


Gedruckt mit Unterstützung des Referats Genderforschung der Universität Wien und der Kulturabteilung der Stadt Wien, Wissenschafts- und Forschungsförderung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Hacker, Hanna: Frauen* und Freund_innen. Lesarten „weiblicher Homosexualität“, Österreich, 1870–1938. © Zaglossus e. U., Wien, 2015 1. Auflage 2015 Alle Rechte vorbehalten Coverbild: Seite aus dem Tagebuchkalender von Helga Margareta Hochhäusl, verwitwete Frey. © Sammlung Frauennachlässe am Institut für Geschichte der Universität Wien Druck: Prime Rate Kft., Budapest Printed in Hungary ISBN 978-3-902902-34-4 Zaglossus e. U. Vereinsgasse 33/12+25, A-1020 Wien E-Mail: info@zaglossus.eu www.zaglossus.eu


Inhalt Vorbemerkung und Danksagung [2015]

8

Re-Reading: Frauen(*) und Freund(_)innen

10

Vorbemerkung und Danksagung [1987]

30

Zur Relektüre: Die Systematisierung der konträren weiblichen Empfindsamkeit

33

1.  Die Systematisierung der konträren weiblichen Empfindsamkeit

40

1.1. Homophile Dialoge. Zur Funktionsweise männerbündischer Kommunikation: Sexualpathologie und Erste Homosexuellenbewegung

44

1.2. Die Operationalisierung der weiblichen Homosexualität

66

1.3. Strukturanalyse ausgewählter „Fall“-Texte Resümee: Die Systematisierung der konträren weiblichen Empfindsamkeit

113 143

Zur Relektüre: Bindungen zwischen Frauen

146

2. Bindungen zwischen Frauen

153

2.1. Die Dimension der „Traditionalität“

156

2.2. Frauenliebe und Frauenbewegung

187

2.3. „Passing“ als Identität und Imagination

213

2.4. Exkurs: „Die Studentin“

227

2.5. Auf der Suche nach dem homosexuellen Selbstverständnis

236

Resümee: Bindungen zwischen Frauen

252


Zur Relektüre: Weltkrieger – Kriegsbräute

265

3. Weltkrieger – Kriegsbräute

267

Zur Relektüre: Chiffriertes Selbstbewusstsein: Kommunikationsnetze der lesbischen Kultur

281

4. Chiffriertes Selbstbewusstsein: Kommunikationsnetze der lesbischen Kultur

287

4.1. Sub- und gegenkulturelle Symbole und Codes

290

4.2. Österreichische Facetten in der deutschsprachigen lesbischen Presse

323

4.3. Lesbischer Lebenszusammenhang? Handlungen und Ereignisse 1918–1938

347

Resümee: Chiffriertes Selbstbewusstsein: Kommunikationsnetze der lesbischen Kultur

393

Zur Relektüre: Außenräume – Frauen – Männer

396

5. Außenräume – Frauen – Männer

402

5.1. Das Erbe der Traditionalität

403

5.2. Frauenstaat und Mutterrecht. Zum Selbstverständnis der Frauenbewegung nach 1918 413 5.3. Brüche und Kontinuitäten im homophilen Dialog 427 Resümee: Außenräume – Frauen – Männer. Ausblick: Faschismen

442

Anmerkungen

444

Quellen- und Literaturverzeichnis

470

Abbildungsverzeichnis

501


die widmung, die 1987 hier eigentlich stehen sollte, bloß habe ich mich nicht getraut, lautet: für mich.

2015 ist es: für den mut zur opposition im akademischen. für die kunst des verlierens feministischer und geschlechtlicher zuverlässigkeit. für alle queeren primaballerinen.

7


Relektüre

Vorbemerkung und Danksagung [2015]

RELEKTÜRE

Dieses Buch ist ein kritisches Re-Reading meiner Publikation Frauen und Freundinnen. Studien zur „weiblichen Homosexualität“ am Beispiel Österreich, 1870–1938 (ihrerseits eine überarbeitete Version meiner Dissertation). Frauen und Freundinnen erschien 1987 in der Edition „Ergebnisse der Frauenforschung. Herausgegeben an der Freien Universität Berlin“ im Beltz Verlag, Weinheim – Basel, und ist seit Anfang der 1990er Jahre vergriffen. Die Idee zur Neuausgabe entstand ganz beiläufig, beim Plaudern mit Sekt in der Hand, nach einer Festveranstaltung des Wiener Frauen- und Lesbenbewegungsarchivs „Stichwort“. Den entscheidenden Anstoß an jenem Abend gab Ines Rieder; Nicole Alecu de Flers und Katja Langmaier vom Zaglossus Verlag haben ihn sofort bereitwillig aufgegriffen. Der neue Buchtitel mit Asterisk (*), Underscore (_) und dem Hinweis auf verschiedene „Lesarten“ will vermitteln, dass es um die Frage nach queerem Überschreiben lesbischer Narrative geht und um eine Reflexion von Geschichtspolitiken feministischer Forschung (immer auch meiner eigenen). Ich habe neue Einleitungen zu jedem Kapitel verfasst sowie in Formulierungen des alten Textes interveniert.

8


Vorbemerkung und Danksagung [2015]

RELEKTÜRE

Hinsichtlich des alten Textes blieb es bei „Frauen“ statt „Frauen*“ oder „Frauen_“; bei teils sorglos erscheinenden Einsätzen etwa der Bezeichnungen „schwul“ oder „Lesbe“, wo der historische Sprachgebrauch ein anderer war; bei einer Häufung analytischer Begriffe wie „Männerbund“, „Männerpolitik“, die ich heute nicht mehr so gerne verwende; und natürlich bei der alten Rechtschreibung in allen wörtlichen Zitaten. Um- und Neuformulierungen legen vor allem Gewicht auf mehr „Vorsichtigkeit“, auf Umsicht. Sie bestehen in der Relativierung und Entschärfung ursprünglich apodiktischer Aussagen; in der Änderung von Ausdrücken, die nicht mehr politisch tragbar sind; in der Reduktion ironischer Wendungen, die ich mittlerweile missverständlich finde; im Umbau von Sätzen, die ich beim Wiederlesen selbst nicht mehr so recht verstanden habe; in oft unabdingbaren Erklärungen zum Kontext; und in einigen wenigen Streichungen. Die neuen Einleitungen präsentieren theoretische Updates und ordnen den jeweiligen thematischen Schwerpunkt in queer-feministische Forschungs- und Bewegungsgeschichte(n) ein. Danke an den „jungen“, ambitionierten Zaglossus Verlag für die persönliche Betreuung, für sachkundige Diskussionen und für das mühselige Einlesen der nicht digital existierenden alten Vorlage. Danke an Rosa Reitsamer für das engagierte, queerfeministisch kompetente Gegenlesen und Kommentieren der neuen Textteile. Danke an alle Frauen* und Freund_innen, denen ich während des Arbeitsprozesses immer wieder erzählte, wie eigentümlich ich die Konfrontation mit meiner eigenen Vergangenheit empfand, und die ungebrochen versicherten, sie freuen sich auf das Buch. 9


Relektüre

Re-Reading: Frauen(*) und Freund(_)innen Gespenstisch ist gewiss, in den Archiven auf sich/auf mich selbst zu treffen, in einer un/möglichen, Science-Fiction zitierenden Zeitspirale einer/mir selbst zu begegnen als Suchende, Lesende, Ordnende, Schreibende vor fünfundzwanzig, vor fünfunddreißig Jahren. (Hanna Hacker: Was war Bewegungsgeschichte?, 2010)

Als Lesbe(n) Geschichte geschrieben haben: Entstehungs- und Produktionsbedingungen der Frauen und Freundinnen (1987)

RELEKTÜRE

Gleich der erste Absatz der Frauen und Freundinnen von 1987 thematisiert den „Zwang“, „die Existenz des eigenen Forschungsgegenstandes beweisen zu müssen“ (Hacker 1987: 9). Gab es lesbische Frauen in der Geschichte denn überhaupt? Dreißig Jahre später lautet der Zweifel, unter neuen Vorzeichen: „Inwieweit gibt es überhaupt noch ‚Lesben‘ in der Gegenwart?“ Genderkritische Diskurse, „westliche“ jedenfalls, lösen das Zeichen „Lesbe/lesbisch“ mehr und mehr auf. Nach und neben dem Kürzel LGBTIQ(Q)(P)(A) – lesbian, gay, bisexual, transgender,

10


rE-READING: fRAUEN(*) UND FREUND(_)INNEN

RELEKTÜRE

intersex, queer, gelegentlich plus questioning, pansexual und asexual –, das sich bis Anfang der 2000er-Jahre etablierte, symbolisiert nunmehr das Akronym FLIT* (Frauen, Lesben, Inter, Trans, weitere Nonkonforme) aktuelle aktivistische Selbstzuordnungen. Auch ganz alltäglich verflüssigen sich in vielen Biografien, in vielen Communitys die geschlechtlichen/sexuellen Selbstbenennungen. Der Festlegung auf eine einzige Figur – „lesbisch“ – wird dabei, wie es scheint, zunehmend weniger Relevanz zugemessen. Diese geschlechterpolitische Dynamik bringt aufs Neue die Frage in Bewegung, wie lesbische Frauen in die Geschichte, in historische Konstellationen und in historiografische Diskurse gerieten; was es hiezu zu „wissen“ gibt und in welche Begriffe sich dieses Wissen fassen lässt. Frauen und Freundinnen (Hacker 1987) beruht auf der 1985 fertiggestellten Dissertation Die Ordnung der Frauen und Freundinnen. Zur Rekonstruktion homosozialer Handlungsmuster und ihrer institutionellen Kontrolle (Österreich, 1870–1938) (Hacker 1985b). Für den Bereich österreichischer Sozial- und Kulturgeschichte war diese Studie die „erste“, und sie blieb für sehr lange Zeit die „einzige“, die umfangreichste; nach damaligen Maßstäben in geschlechterkritischer Hinsicht radikal und vom theoretischen Anspruch her äußerst ambitioniert. Was waren ihr Entstehungskontext und ihre Produktionsbedingungen? Welche Forschungsfragen, welche wissenschaftlichen Zugänge resultierten aus den historischen Rahmenbedingungen? Ich wollte Wissen, wollte etwas wissen, mehr wissen zu m/einer Geschichte in „meinem“ Land, zu „meiner“, also „unserer“ Geschichte als (damals so bezeichnete) lesbische Frau/en in Wien, in Österreich. 11


Relektüre

RELEKTÜRE

Ich wusste, dass niemand mir diese Geschichte erzählen würde, also musste ich sie selbst schreiben. Dies stand zu jener Zeit, ungefähr 1980, als ganz zentrale Motivation am Beginn meines Dissertationsprojekts. Welche Fragen zu stellen, welche Quellen zu finden sein würden, davon hatte ich keine Ahnung, und das Institut für Soziologie der Universität Wien, an dem ich die Arbeit verfasste, war keine Hilfe. Das Thema überhaupt an- und auszusprechen, bedeutete ein Coming-out in einem akademischen Feld, das von der Neuen Frauen- und Lesbenbewegung gerade erst erreicht worden war, und ging durchaus nicht immer ganz ohne Erröten ab. Ich siedelte nach West-Berlin und fand dort meine Fragen; fand neben einer Fülle an Quellen und in voller Begeisterung auch viele andere Forscherinnen mit ähnlicher Motivation. Wenn ich heute von diesen lesbischen Neugierden der frühen 1980er spreche, so referiere ich auf ein „Wir“, das sich aus Soziologiedozentinnen und Geschichtestudentinnen, aus literatur- und medienwissenschaftlich Interessierten, aus „unpolitischen Sublesben“ ebenso wie aus feministischen und lesbenbewegten Aktivistinnen und dabei aus Angehörigen verschiedenster Altersgruppen zusammensetzte.1 Dieses „Wir“ schlingerte zwischen universitären Frauen/ Lesbenseminaren, autonomen Archivprojekten, antiquarischen Buchhandlungen, besetzten Häusern, traditionellen Lesbenbars und Diskussionsrunden zur neuesten US-amerikanischen Forschung über Schwulen-, Frauenfreundschafts- und Lesbengeschichte. „Wir“ versuchten, Differenzen zwischen radikal linken Zwanzigjährigen und jenen als „konventionell“ und „traditionell“ wahrgenommenen Frauen, die sich selbst noch an die Sub- und Gegenkulturen der

12


RELEKTÜRE

rE-READING: fRAUEN(*) UND FREUND(_)INNEN

1920er Jahre erinnern konnten, zu überbrücken oder zu überspielen, „wir“ begrüßten oder verabschiedeten Grundannahmen zu Geschlechtern, zu Beziehungen, zum Lieben und zum Leben, und arbeiteten so „unsere“ historischen Entdeckungen aus. Zur (oft projektionsreichen und gern performativen) Produktion von Lesbengeschichte zählten Bewegungspraktiken, die zwischen akademischem und subkulturellem Wissen übersetzten, beispielsweise historische Frauen/Lesben-Stadtrundfahrten, bei denen Gedächtnisorte definiert und neu beschildert wurden, oder Partys, die unter dem Namen Lila Nächte Elemente der lesbischen Festkultur der Weimarer Republik reinszenierten (vgl. Hacker 2010: 22). Für meinen konzeptionellen und analytischen Zugang formulierte ich das Postulat, es müsse darum gehen, die Geschichte der „Erfindung“ und der Durchsetzung des Ordnungsbegriffs Homosexualität/Heterosexualität als Geschichte des gesamten Geschlechterverhältnisses wahrzunehmen und die Geschichte lesbischer Identifikationen als Geschichte aller Frauen zu erzählen. Daher gab es, zugespitzt formuliert, keine „nicht relevanten“ Quellen. Die Frauen und Freundinnen von 1987 befassen sich mit Theoriebildungen und mit Alltagspraxen, mit Medizin- und Literaturgeschichte, mit Strukturen großer Institutionen und Briefen unbekannter Autor_innenschaft, mit Biografien und kollektiven Projekten; mit Zeitschriften, Romanen, Pamphleten, Petitionen, sexualwissenschaftlichen Wälzern und vielem mehr, das ja überhaupt erst „gefunden“ werden musste. Mit einer solchen Pluralität an Textsorten bei gleichzeitiger Konzentration auf theoretische Analyse, auf Auseinandersetzung mit Widersprüchen, Ungleichzeitigkeiten, 13


Relektüre

RELEKTÜRE

historischen Dynamiken arbeitete später kaum noch jemand. Autor_innen, die ab den 1990er Jahren beispielsweise zur Geschichte der Sexualwissenschaften publizierten, befassten sich jeweils nur mit einem recht homogenen Genre, etwa mit psychiatrischen Fallgeschichten oder geschlechterphilosophischen Werken. Auf der Basis des gewählten Genres entfalten sie ihre Interpretationen, die oft sehr stark über die Grenzen der analysierten Textsorte hinaus verallgemeinern (z. B. Mehlmann 2006; Weber, Ph. 2008). Der Zeitrahmen der Studie ist recht breit und war in dieser Breite auch schon während der Entstehung der Dissertation gelegentlich problematisch. Er entwickelte sich teilweise erst im Arbeitsprozess und aus dem Material. „1870“ steht als ein wenig gerundeter Marker für die erste Prägung der Begriffe „homosexual“ und „heterosexual“ 1868, vorgenommen übrigens von einem österreichisch-ungarischen Autor, Karl Maria Kertbenyi; der Marker „1870“ referiert zugleich auf die im deutschsprachigen Raum erstmalig publizierte, medizinisch kategorisierende Fallstudie zu Personen weiblichen Geschlechts, deren „conträre Sexualempfindung“ herrschenden Normen grundlegend widersprach (Westphal 1869), und in nationalhistorischer Hinsicht orientiert er sich an der Konstituierung des Habsburgerstaates als Doppelmonarchie (1867). Das Fin de Siècle und die Geschlechterverhältnisse in der Ersten Republik erwiesen sich als für mich unverzichtbar spannend; die nationalsozialistische Machtergreifung in Österreich 1938 setzte ich als ein „Ende“. Ein im Kontext der frauenbewegten 1970er und 1980er Jahre recht selbsterklärend scheinendes Postulat der Frauen und Freundinnen war, historisch müsse

14


rE-READING: fRAUEN(*) UND FREUND(_)INNEN

RELEKTÜRE

gelten: Frauen wollen miteinander (und) in Autonomie leben. Meine Forschungsperspektive richtete sich auf Kontroversen, Kämpfe und Aushandlungen, die solches Wollen im gesetzten zeitlichen und geografischen Rahmen bedeutet hatte. (Nur vordergründig paradox, historisch offenbar ganz folgerichtig, führte mich dieser Ansatz recht ausgiebig auch zur Männlichkeitsforschung und zur Historiografie männlicher Homosexualitäten, die in Österreich in den frühen 1980er Jahren ebenfalls noch gar nicht auf der Agenda stand.) Freundinnenschaft, Liebe, Begehren, Erotik, Sexualität unter Frauen (oder Frauen*, Frauen_) zählten gewiss zu meinem Forschungsinteresse, standen aber nicht eigentlich in seinem Zentrum oder waren jedenfalls nicht separiert von meiner Orientierung an „weiblicher Homosozialität“. Zum ironisch so bezeichneten „genitalen Beweis“ (für lesbische Identifikationen in Geschichte und Lebensgeschichten) hielt ich wie viele Forscherinnen eher Distanz. Und doch geht es im Buch selbstverständlich ganz wesentlich um das Aushandeln und performative Aneignen von sexuellen, Begehrens- und Gender-Positionen, um das Unterlaufen ihrer jeweiligen Normierung und um das Infragestellen binärer Ordnungen. Hier wie auch in anderen zeitgenössischen Arbeiten deutschsprachiger Sozialhistorikerinnen (z. B. Schoppmann 1985; Schwarz 1983; Vogel 1985), die zu „lesbischen“ Handlungs- und Begehrenszusammenhänge publizierten, wurden Positionen der damaligen Neuen Frauenbewegung erweitert und aufgebrochen. Einiges mutet heute „queer avant la lettre“ an: Sex-Positivität und die Option von Asexualität erhalten gleichermaßen ihren Raum; den Konstruktionen und Umdeutungen der Figur des „dritten Geschlechts“ 15


Relektüre

und der „männlichen Frau“ gilt recht genaue Auseinandersetzung, und Forschungsthema wird eine für die (österreichische) second wave teilweise nur schlecht denkbare Bündnispolitik, nämlich die zwischen lesbischen Frauen, Trans-Personen und Sexarbeiter_innen. Umso mehr erstaunt gelegentlich, dass ausdrücklich queer verortete Forschungen ab den 1990er Jahren an diese Arbeiten nur sehr wenig anknüpften.

RELEKTÜRE

Lesben*-Geschichte/n queeren, dekolonialisieren, erinnern: Epistemologische Entwicklungen und „turns“

16

Ich möchte an dieser Stelle Überlegungen zu einigen erkenntnistheoretischen Paradigmen skizzieren, die meine eigene kritische Re-Lektüre von Frauen und Freundinnen bestimmen. In erster Linie steht der Text evident in einem Spannungsverhältnis zum queertheoretischen Paradigma. Zu diskutieren sind aber auch seine Relation zu postkolonialen, antirassistischen und intersektionellen Herangehensweisen sowie das Verständnis von Historiografie, das im Text zum Ausdruck kommt. Die turns – die queeren, postmodernen, postkolonialen, text- und bildanalytischen (und weitere) Umbrüche in den Schlüsselkonzepten der Kultur- und Sozialwissenschaften – seit den 1980ern in den Blick zu nehmen, bedeutet nicht nur, einen älteren Text dementsprechend neu zu lesen, sondern auch, das Potenzial und die Grenzen seiner Rezeption kritisch zu reflektieren. Das Original der Frauen und Freundinnen ist im strikten Wortsinn weder durchgängig queer noch eigentlich postmodern oder poststrukturalistisch, konnte


rE-READING: fRAUEN(*) UND FREUND(_)INNEN

RELEKTÜRE

dies zu seinem Entstehungszeitpunkt größtenteils auch gar nicht sein. „Queer“ als politischer und analytischer Terminus kam erst mit Protestbewegungen wie Queer Nation und mit Theoriebildungen wie vor allem Judith Butlers Gender Trouble und Bodies That Matter in die Debatte und dann so nach und nach in die deutschsprachige Rezeption (Butler 1990; Butler 1993; Hark 1993; vgl. auch Gildemeister/Wetterer 1992; Palzkill 1994). Die queertheoretische Idee, Geschlecht, Sexualität, Begehren und vergeschlechtlichte Körper als deutlich zu unterscheidend und gleichsam „zufällig“ kombinierbar zu denken, durchbrach die bis dahin gewohnten Denkmuster gerade auch in den Frauenbewegungen und produzierte speziell im feministischen Umfeld anfangs einige Irritation. Das queertheoretische Postulat, Geschlecht sei stets als bloßes Zitat, als Nachahmung eines de facto nicht existierenden „Originals“ von Männlichkeit und Weiblichkeit zu begreifen und habe wesentlich performativen Charakter, werde also „dargestellt“ und „gespielt“, ging ebenfalls einen entscheidenden Schritt weiter als bisherige Geschlechterkritik. Jenen Forscher_innen, die sich mit historischen Inszenierungen von „Konträrsexualität“ befasst hatten, klang dies vielleicht nicht ganz so unbekannt wie anderen. Auch, dass der gesellschaftliche, symbolische und Subjekt-Status von „Lesben“ sich von dem von „Frauen“ unterscheide, war einigen Rezipient_innen der ersten queertheoretischen Publikationen aus den USA schon seit den Texten von Monique Wittig (z. B. Wittig 1980; Wittig 1981) eine vertraute Perspektive, und Analysen von Selbstdeutungen gleichgeschlechtlich liebender Frauen als „drittes Geschlecht“ konnten bereits zu einem ähnlichen Schluss gelangt sein. 17


Relektüre

RELEKTÜRE

Trotzdem war die Konsequenz, mit der queer theories die Ideologie der Zweigeschlechtlichkeit kritisierten und demontierten, innovativ und oft verwirrend. Mir selbst fiel bei meiner „queeren“ Re-Lektüre von Frauen und Freundinnen neben der Tendenz zur Absolutsetzung des Status „Mann“ und „Frau“ vor allem die Nichtdifferenzierung zwischen „Sexualität“ und „Geschlecht“ (als Strukturkategorien und auch als Identifikationsmomente) überdeutlich auf. Der immer wiederkehrenden In-eins-Setzung von sexueller mit Gender-Ordnung in den hier analysierten Diskursen entkommt diejenige nicht, die die Diskurse kritisiert. Evident ist es dem Text kein Anliegen, den historischen Akteur_innen nachzuweisen, wo sie diese beiden Ordnungen „verwechseln“ und inwiefern dies, queertheoretisch gesehen, „falsch“ ist, und er belässt es beim Sex-Gender-Vexierbild. In anti- und postkolonialer Perspektive drängt sich die Feststellung auf, dass Frauen und Freundinnen 1987 beispielsweise noch kaum Ansätze einer Analyse der Verbindungen zwischen Geschlechterpolitik und Kolonialismus anwendet. Offenbar bedurfte es erst eines erkenntnistheoretischen Perspektivenwechsels, um diese scheinbar doch evidente historische Gleichzeitigkeit überhaupt als relevant wahrzunehmen und das Interesse am „Lokalen“ in den Kontext von Global- und Verflechtungsgeschichte stellen zu können und zu wollen (vgl. auch Hacker 2009). Nur passager bedacht ist vieles, was feministische Analyse seither unter dem Titel „intersektionelles Paradigma“ thematisiert und einfordert. Markierungen der Ungleichheit, der Diskriminierung oder Privilegierung wie Geschlecht, sexuelle Identifikation, ökonomische Situierung, ‚race‘, Dis/Ability, Alter und

18


RELEKTÜRE

rE-READING: fRAUEN(*) UND FREUND(_)INNEN

geopolitischer Ort überschneiden und durchkreuzen einander, überlagern und bedingen sich gegenseitig: Mit dieser Annahme machen „wir“ uns heute gleichsam selbstverständlich an die Forschungsarbeit. Für die feministischen Theoriebildungen der 1980er galt dies in sehr geringem Maße. Die Auseinandersetzung mit ‚race‘, mit rassialisierter Gewalt und Rassismusgeschichte stand vielfach noch am Anfang; in der Publikation von 1987 wird dieses Problem- und Handlungsfeld nicht explizit. „Whiteness“ war („uns“) noch kein Begriff. Kritik an Ableismus und an Körpernormen wiederum lag vielleicht ein wenig näher, da es ja durchgängig um normierende, vergeschlechtlichende Körperkonstruktionen ging. Noch am ehesten als ein theoretisches Muss erschien Klassenanalyse. De facto immer wieder uneingelöst, blieb vor dem Hintergrund der historischen Nähe zwischen Neuer Frauenbewegung und Linker zumindest die Sensibilität für eine Bedachtnahme auf ökonomische Differenz präsent. Die Frauen und Freundinnen situieren sich zwar gar nicht innerhalb einer umfassenden Kapitalismustheorie, aber Klassenhintergründe und Arbeitswelten der betrachteten Akteur_innen haben klar ihr Gewicht. Das dritte paradigmatische Feld, auf das ich hier m/einen Blick richte, betrifft Historiografiekritik. Mit welchem Verständnis von Geschichtserzählung und Geschichtsschreibung ging ich, gingen „wir“ damals um, und wie ging es damit weiter? Dass ein essenzialistischer Zugang, also etwa die Annahme einer überhistorisch gleich bleibenden Gegebenheit lesbischen „Wesens“, nicht adäquat sein konnte, war vielfach bereits in den Anfängen lesbenhistorischen Schreibens klar, selbst wenn „wir“ das Begriffspaar 19


Relektüre

RELEKTÜRE

Essenzialismus/Konstruktivismus noch nicht verwendeten. (In die Homosexualitätsforschung gelangte es prominent erst mit der Tagung Homosexuality, Which Homosexuality? in Amsterdam 1987; vgl. Altman et al. 1989.) Aber auch jene geschichtswissenschaftlichen Studien, die mit konstruktivistischem Zugang historische oder kulturelle Unterschiede bei den Zuschreibungen an Sexualitäten und Gender in ihr Zentrum stellten, arbeiteten mit der Annahme, Geschichte sei „wirklich“ und könne „richtig“ erkannt werden. Scott Bravmann kritisierte dies Ende der 1990er Jahre sehr nachdrücklich. In queerer (und) postmoderner Perspektive gelte es, meinte er folgerichtig, sich mit dem Akt des Schreibens von Geschichte selbst zu befassen, mit Formen der historiografischen Repräsentation und mit Konstruktionen bisheriger „queer fictions of the past“. (Bravmann 1997)2 Sind Frauen und Freundinnen gleichsam lesbian fictions of the past? Gehört gar das Schlüsselwort „Meister_innenerzählung“ hierher? Ich denke, dass es tatsächlich eine „große Erzählung“ zur historischen Etablierung von Homosexualitäten in sich industrialisierenden Ländern des 19. und frühen 20. Jahrhunderts gibt. Relativ festgefügte Geschichten zu lesbischer Subjektivität im deutschsprachigen Raum bilden einen Teil davon, und meine Arbeit zu Frauen und Freundinnen hat keine unwesentliche Stimme in dieser Erzählung.3 Manchmal trat mir aus der (späteren) Forschungsliteratur etwas als Tatsache entgegen, was ich selbst doch nur tentativ ersponnen zu haben meinte. In der Theorie ist eine solche Verfestigung von Narrativen ganz klar hoch problematisch, in der Praxis waren diese Text-Begegnungen zumeist aufs Äußerste befremdlich – und doch immer noch

20


rE-READING: fRAUEN(*) UND FREUND(_)INNEN

RELEKTÜRE

ein Stückchen besser, als feststellen zu müssen, dass eine mit den eigenen Konzepten und Forschungen in Teilen der Literatur gar nicht vorkommt.4 Es entstanden aber auch queere Fiktionen zu den angeblichen Defiziten lesbischwuler Analysen „vor“ dem queer turn. Über die damit einhergehende – nicht auf Historiker_innen beschränkte – Unterstellung, „vor“ queer habe eine konsequente Demontage geschlechtlicher und sexueller Ordnungen in gewisser Weise gar nicht gedacht werden können, habe ich mich eine lange Zeitlang sehr geärgert. Ich empfand diese Fiktionen als Erinnerungsbruch und Rezeptionssperre; als Ignoranz gegenüber kritischem Wissen, das „vor queer“ produziert und zur Debatte gestellt worden war und dem nunmehr der Ruch des hoffnungslos Altmodischen anhaftete. Erst ab den frühen 1990er Jahren, behauptet beispielsweise die niederländische Historikerin Geertje Mak, hätten Lesbenhistoriker_innen die Bedeutung von Maskulinität in der Geschichte weiblicher Subjektwerdungen zu erkennen vermocht (vgl. Mak 2004: S. 55–56). Sie scheint im Ernst zu unterstellen, zuvor seien („lesbische“) Aneignungen von Männlichkeit allenfalls als Ausdruck falschen Bewusstseins historiografisch darstellbar gewesen. Bis Mitte der 1990er Jahre habe es in der deutschsprachigen Forschung zu nicht-heteronormativem Leben von Frauen* nur einen „erste[n] historische[n] Überblick“ „im Rahmen einer Identitätspolitik“ gegeben, schreibt die deutsche Historikerin Heike Schader (Schader 2004: 12). Diese anfänglichen, unzureichenden Bemühungen hätten Geschlecht noch nicht zu dekonstruieren, Begehren und Sexualität noch nicht so richtig zu theoretisieren vermocht. Die Autorin selbst analysiert 21


Relektüre

RELEKTÜRE

Lesbenzeitschriften der Weimarer Republik ganz so, als könnten frühere Arbeiten zu und mit diesen Medien keine Relevanz besitzen. Zwangsläufig entgeht ihr damit die Bedeutung, die eben dieses Material für die Re-Konstitution lesbischer Bewegungskulturen „vor“ dem queer turn hatte, also beispielsweise für die ersten „Lesbenseminare“ an bundesdeutschen Universitäten, für „lesbische Stadtführungen“, Lesbenarchiv-Initiativen und so fort (vgl. Hacker 2010). Wie es weiterging: Ich selbst arbeitete anschließend an Frauen und Freundinnen zur Diskurs- und Organisationsgeschichte der Neuen Frauenbewegung in Österreich; danach dann rollte ich in meinem Habilitationsprojekt Gewalt ist: keine Frau. Der Akteurin oder eine Geschichte der Transgressionen die Frage nach geschlechtlichen und sexuellen Umbrüchen um 1900 nochmals und anders auf (Hacker 1998a). Meine Perspektive betraf nun in erster Linie Konstellationen von Gewalt, der geopolitische Rahmen erweiterte sich auf verschiedene europäische Kontexte im Vergleich, und der Zugang war nun deutlich „queer“ und zu Teilen „trans“. Wenn Frauen, so lautete meine Überlegung, auf öffentlichem Terrain nicht vorgesehen waren, konnten sie, da sie trotz ihres Ausgangsgeschlechts dort agierten, dann noch als „Frauen“ gelten? Waren sie als „Männer“ zu lesen, oder als „Nicht-Frauen“? In Fokussierung auf Gewalt-Terrains wie Nation, citoyenneté, Krieg, Tötungsdelikte und politische Organisierung arbeitete ich die These aus, dass im Europa des Fin de Siècle nicht-normatives – „transgressives“ – weibliches Agieren in einer historisch neuen Deutungsfigur verdichtet wurde. In dieser Deutung bedingten Überschreitungen der geschlechtlichen, der sexuellen und der gewaltregulierenden Ordnung

22


rE-READING: fRAUEN(*) UND FREUND(_)INNEN

RELEKTÜRE

einander und verliehen sich wechselseitig Sinn. Statt die problematische Figur „alle Frauen“ zu affirmieren, wie ich es in den Frauen und Freundinnen getan hatte, konzentrierte ich mich nunmehr darauf, welche Subjekte in „Weiblichkeit“ ein- oder aus ihr ausgeschlossen wurden, und was „Nicht-Weiblichkeit“ bedeutete. Mehr Wert als auf die liebevollen Bindungen zwischen Frauen („zwischen denen später mit der Schaffung der ‚begehrlichen‘ Lesbe die Differenz Einzug gehalten habe“ [Hacker 1997: 41]) legte ich auf den Versuch, gewaltförmige Konflikte zwischen und Gewalthandeln von Frauen zu schreiben. Und ich setzte mich stärker als in Frauen und Freundinnen mit dem „Verbot“ auseinander, mit dem Stellenwert von Untersagung und Verwerfung transgressiver Begehrensweisen „als einem auch produktiven kulturhistorischen und imaginären Moment“ (Hacker 1997: 41). Im Archiv dieser Arbeit traf ich sozusagen ein paar „alte Bekannte“ aus der Zeit der Frauen und Freundinnen wieder und lernte sie zu Teilen neu kennen: historische Politikerinnen wie beispielsweise Auguste Fickert und ihr organisatorisches Umfeld, Mörderinnenpaare wie etwa Marie Karner/Agnes Tschernko, Soldat_innen an den Fronten des Ersten Weltkriegs und natürlich Sexualwissenschaftler. Offengebliebene Fragen zum gesamten Feld der Geschlechterumbrüche um 1900 erhielten deutlichere Konturen. Dies betrifft beispielsweise die meines Erachtens immer noch nicht ausreichend umfänglich erfolgte Auseinandersetzung mit der Geschichte der Strafbarkeit von „Unzucht wider die Natur“ und den Politiken hiezu. In Österreich, genauer in der österreichischen Reichshälfte der Monarchie, in der Ersten Republik, im Austrofaschismus und im nationalsozialistischen 23


Relektüre

RELEKTÜRE

(vormaligen) Österreich sowie weiterhin bis 1971 betraf die Pönalisierung „widernatürlicher Unzucht“ auch sexuelle Handlungen zwischen Frauen. In der Historiografie ist dies oft ein gleichsam unsichtbares, wenig thematisiertes Element der „österreichischen“ Differenz innerhalb der (Homosexualitäts-) Geschichte vor allem des westeuropäischen Raumes und innerhalb des dominanten Diktums, Sexualität zwischen Frauen sei eben nicht ausreichend ernst genommen worden, um sie zu kriminalisieren. Andererseits wenden sich die Frauen und Freundinnen zu Recht gegen eine Vorrangigsetzung von „Diskriminierungsgeschichte“ und implizit auch gegen unreflektiertes Fortschrittsdenken im Sinn einer schnellen Etikettierung gesellschaftlicher Konstellationen als „rückständig“. Dass historische Akteur_innen an legistischen Diskursen oft nicht partizipierten, deutet der folgende Text immer wieder als bewusste Verweigerungshaltung. Was Kriminalisierung des eigenen Begehrens für die Realität und die Imagination der Frauen* bedeutet, und was für den Forschungsansatz von Historiograf_innen, bleibt jedenfalls weiterhin diskutierbar.

24

Frauen*, Freund_innen und Forschungsfortschritt Als ich mir für die Überarbeitung dieses Buches einen genaueren Überblick über „aktuellere“ einschlägige Forschungen vor allem zu Österreich zu verschaffen begann, erwartete ich – im Bewusstsein der erwähnten sozial- und kulturwissenschaftlichen turns seit den 1980er Jahren – eine Dominanz der Perspektive


rE-READING: fRAUEN(*) UND FREUND(_)INNEN

RELEKTÜRE

„Heteronormativität“, auch postmoderne und queertheoretische Bezugnahmen auf die Geschichte von Subjektformation und Handlungsmächtigkeit (wenn möglich, unter Mitnahme feministischer kritischer Reflexionen). Davon habe ich in kultur- und sozialhistorisch orientierten Arbeiten jedoch gar nicht so viel gefunden. Inspirierendes zum Weiter-Denken in theoretischer und konzeptioneller Hinsicht gibt es, meiner Lesart zufolge, auf jeden Fall im Bereich der historischen Männlichkeitsforschung (Brunotte/ Herrn 2008; Bruns 2008; Zur Nieden 2005; vgl. auch Bauer et al. 2007). Spannende historiografiekritische Ansätze, an die weiter anzuknüpfen wäre, dekonstruieren Geschichtserzählungen zu Frauenbewegungen (z. B. Vittorelli 2007), und feministische Auto/ Biografien werden von einigen Autor_innen in innovativer Konzeption bewusst brüchig, fragmentiert und reflexiv verfasst (z. B. Bernold/Gehmacher 2003; Gehmacher/Vittorelli 2009). Natürlich ist in den letzten dreißig Jahren im deutschsprachigen Forschungskontext etwas und zu Teilen auch viel „weitergegangen“. Quellen, Texte, verschiedenste Medien wurden ungleich besser zugänglich gemacht und, wie auch immer selektiv, neu bearbeitet und präsentiert. Krafft-Ebings Psychopathia sexualis kam zuletzt 1997 in neuer Kommentierung heraus, Hirschfelds Homosexualität des Mannes und des Weibes stellt der de-Gruyter-Verlag seit Kurzem sogar online zur Verfügung (Krafft-Ebing 1997; Hirschfeld 2001). Werke feministischer/frauenbewegter österreichischer Autorinnen wurden in relativ großer Zahl neu aufgelegt, so vor allem die Schriften von Rosa Mayreder (z. B. Bubeniček 1986; Mayreder 1988; Mayreder 1998; Mayreder 2010). Die großartigen, 25


Relektüre

RELEKTÜRE

kontroversen, „lesbisch“ lesbaren Pessimistischen Kardinalsätze von Helene von Druskowitz erschienen bereits 1988 im kleinen Kore-Verlag (Druskowitz 1988). Die auto/biografische BDSM-Story Bekenntnisse und Erlebnisse von Edith Cadivec, erstmals 1926 in Wien publiziert, wurde mit kommentierenden Beiträgen wiederveröffentlicht (Cadivec 2008). Um Archive, Sammlungen und Journals konnten sich im deutschsprachigen Raum Forschungsnetzwerke gruppieren. Mit Invertito. Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten erscheint seit 1999 ein deutschsprachiges Periodikum zu „schwuler“ und manchmal auch „lesbischer“ Geschichtsforschung; seit 1992 betreibt die Berliner Magnus-HirschfeldGesellschaft eine „Forschungsstelle“; seit 1985 ist in Berlin das Schwule Museum aktiv. An der Universität Wien baute der Sexualitätshistoriker Franz X. Eder die enorm materialreiche Datenbank Bibliography of the History of Western Sexuality auf, und am Institut für Geschichte entstand die sehr rege und für Forschung zu Lebensläufen von Frauen wichtige „Sammlung Frauennachlässe“. Das Projekt „Ariadne“ an der Österreichischen Nationalbibliothek digitalisiert und erschließt umfänglich feministische Zeitschriften, frauenbewegte Biografien und frauenpolitische Texte aus dem Zeitraum 1848 bis 1938. Andere als wissenschaftliche oder dokumentarische Genres und Medien griffen ebenfalls vermehrt Platz. Rosa von Praunheim erzählte mit Der Einstein des Sex (1999) eine filmische Geschichte zum Leben Magnus Hirschfelds. Elisabeth Reichart referierte auf Helene von Druskowitz in ihrem Bühnenstück Sakkorausch, das bei den Wiener Festwochen zur Aufführung kam (Reichart 1994). Zu Rosa Mayreder gab

26


rE-READING: fRAUEN(*) UND FREUND(_)INNEN

RELEKTÜRE

es 1989 eine Ausstellung im Historischen Museum der Stadt Wien, zu Irma von Troll-Borostyáni eine im Salzburg Museum 2012, die Schau Tanz der Hände. Tilly Losch und Hedy Pfundmayr (Wien und Salzburg, 2014) schloss Bezugnahmen auf lesbische Codes der Zwischenkriegszeit mit ein (Faber/Vuković 2013; Gürtler/Veits-Falk 2012; Witzmann 1989; vgl. auch Troll-Borostyáni 1994). Als sensationelle und sehr sehenswerte Pionier_ innenarbeit konnte bereits 1984 die – stark von „bewegungsnahen“ Forscher_innen konzipierte und umgesetzte – Ausstellung Eldorado. Homosexuelle Frauen und Männer in Berlin 1850–1950 (Berlin Museum) gelten. In Wien scheiterte 2000/2001 eine erste Initiative für eine Ausstellung zur Geschichte lesbischer Frauen und schwuler Männer an mangelnden Fördergeldern, brachte aber mit Der andere Blick. Lesbischwules Leben in Österreich trotzdem einen umfangreichen (Text-)Katalog heraus (Förster et al. 2001). 2005 folgte schließlich mit Geheimsache: Leben eine Realisierung (Brunner et al. 2005). Unproblematisch fand ich persönlich diese Ausstellung nicht. Das Konzept orientierte sich – gleichsam höchst „prä-queer“ – teilweise an essenzialisierender Unterdrückungs- und Opferrhetorik, wie sie etwa in dem Statement zum Ausdruck kommt: „Staat und Gesellschaft zwangen Homosexuelle entweder ins soziale Abseits oder ‚into the closet‘, dem Geheimhalten des eigenen Liebeslebens. […] Die Gesellschaft trieb sie in die Isolation, die Verzweiflung und den Selbstmord.“ (Sulzenbacher 2005: 5) Meines Erachtens zu kurz greifende Politiken des „Sichtbarmachens“ von Schwulen und Lesben standen im Vordergrund, und den Besucher_innen wurden eher Reihen von 27


Relektüre

RELEKTÜRE

Sammler_innenstücken präsentiert denn explizite Einladungen zur Reflexion eines dominanten Geschichtsverständnisses (vgl. Hacker 2010: 26). Auf der Basis engagierter Forschung und einiger Reflexion fand 2010 in Graz eine (kleinere) Ausstellung zu Liebe und Begehren „zwischen Geschlecht und Identität“ mit Fokus auf steirischer Geschichte und Gegenwart statt (Froihofer et al. 2010). Natürlich ist seit den 1980er Jahren auch gesamtgesellschaftlich vieles „weitergegangen“. Als die Idee zu Frauen und Freundinnen entstand, gab es keinen lesbian chic in Mainstream-Medien, keine offen schwulen Bürgermeister, keine bekennenden lesbischen Nationalratsabgeordneten, keine transidenten Bundesheersoldat_innen, keine eingetragenen Partner_ innenschaften und kein Binnen-I (vom Underscore ganz zu schweigen). Weibliche Popstars waren weder „geoutet“ noch posierten sie gar einander küssend für ein Cover, und in Hollywoodfilmen hatten attraktive Bi-Frauen noch keinen mörderischen Eispickel neben dem Bett, an das sie (Stichwort: Basic Instinct) den männlichen Anti-Helden fesselten. Feministische Professorinnen – die es immerhin auch in Österreich schon gab – nahmen das Wort „lesbisch“ beruflich nicht in den Mund und schrieben es nicht in ihre Texte. 1991 (!) wurden in Österreich Homosexuelle zum ersten Mal in einer öffentlichen Politikerrede als „Opfer des Nationalsozialismus“ benannt (vgl. K[rickler] 2001: 62). Gleichgeschlechtliche sexuelle Praktiken waren noch nicht lange straffrei, das antihomosexuelle Vereins- und Werbeverbot stand bis 1996 in Geltung, öffentliche Mittel für „lesbische“ (oder auch „schwule“, gar „Trans“-)Politik schienen kaum denkbar und vielleicht auch seitens

28


rE-READING: fRAUEN(*) UND FREUND(_)INNEN

RELEKTÜRE

der Communitys nur eingeschränkt wünschenswert. „Richtige“ Lesben waren Feministinnen, Separatistinnen, Aktivistinnen, Aktionistinnen, politisch bedrohlich und gar keine netten Nachbarinnen. Ein Asterisk hätte ihnen nichts bedeutet. Zum Wandel des „Klimas“ zum Besseren, zum Schlechteren, zum Polyvalenten mag einer noch einiges mehr einfallen. Auch hinsichtlich der strukturellen Entwicklungen in Forschung und Lehre nehmen die Politiken keine eindeutige Richtung. Feminismen, queere Ansätze, normativitätskritische Positionen sind im Feld des Akademischen sichtbarer und hörbarer geworden, aber sie bleiben prekär und verletzlich, marginalisiert und diskreditiert, zu Teilen Kooptierungs-, zu anderen Teilen Eliminierungsstrategien ausgesetzt (vgl. Hacker 2012a). Unter sich sind sie, gewiss, viele und nicht einig. Wie blicken sie auf ihre eigene Geschichte? Mein SelbstRe-Reading versucht sich an ein paar kleinen Ausschnitten einer solchen, von vielen Widersprüchen durchzogenen Blick-Bewegung. In den für diese Ausgabe verfassten neuen Einleitungen zu den fünf folgenden Buchkapiteln geht es mir vor allem darum, den jeweiligen Inhalt unter Einsatz meines „heutigen“ Vokabulars zu skizzieren und ihn – in aller Kürze – theoretisch „aktuell“ zu verorten. Ich weise jeweils auch auf konkrete neuere Forschungsansätze und -befunde hin. Es geht jetzt um Frauen* und Freund_innen. Frauen und Freundinnen bezeichne ich ab hier nun als „Hacker 1987“.

29


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.