Ines Rieder: "Mopsa Sternheim" Auszug c Zaglossus eU

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Ines Rieder Mopsa Sternheim Ein Leben am Abgrund

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Ines Rieder

Mopsa Sternheim

Ein Leben am Abgrund

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Wir bedanken uns für die Förderungen durch den Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus und durch den Zukunftsfonds der Republik Österreich.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Wir danken allen Urheber_innen und Besitzer_innen von Fotografien und Bildern für die freundliche Zurverfügungstellung und Genehmigung zum Abdruck. Cover Vorderseite: Mopsa Sternheim fotografiert von Annemarie Schwarzenbach, Quelle: Schweizerisches Literaturarchiv, © Schweizerische Nationalbibliothek / NB, Bern. Cover Rückseite: Mopsa vor Saint-Germain-des-Prés, Paris, Foto von Thea Sternheim, eingeklebt in Tagebuch 1929/30 © Deutsches Literaturarchiv Marbach; mit Genehmigung der Heinrich Enrique Beck-Stiftung, Basel. Druck: Prime Rate Kft., Budapest Printed in Hungary ISBN 978-3-902902-25-2 Zaglossus e. U. Vereinsgasse 33/12+25, A-1020 Wien E-Mail: info@zaglossus.eu www.zaglossus.eu


Vorwort Die Grenzgängerin und ihr Kreis Ante portas: Frühling 1954

Eine großbürgerliche Kindheit

7 10 10

18

Die belgischen Jahre

26

Schweizer Zwischenstation

32

Jugend im Waldhof bei Dresden

34

Franz und Anja Pfemfert: Die Liebe zum Kommunismus

37

Otto Rühle und Alice Rühle-Gerstel: Die Liebe zum Diskurs

49

Das goldene Berlin

65

Die Dichterkinder: Erika Mann, Klaus Mann, Pamela Wedekind

66

Gottfried Benn

77

Ruth Landshoff-Yorck

81

Paris in den 1930er-Jahren

92

René Crevel vor seiner Begegnung mit Mopsa

101

Mopsa und die Surrealisten

108

Versuch eines Lebens zu dritt

123

Rudolph Carl von Ripper

126


Im Exil Eddy Sackville-West und das Schloss Knole

Krieg und Widerstand

155 181

189

Rose-Marie Jones und die britische SOE (Special Operations Executive)

206

Sydney Jones

210

Die Zeit im KZ

225

Das Konzentrationslager RavensbrĂźck

228

Betty George

239

Odette Fabius

244

Die Jahre der Enttäuschungen

257

Rippers Kriegsjahre

260

Krankheit und Tod

288

Das Betreuungstrio

298

Post mortem: ein Nachwort

310

Bibliografie

334

Personenregister

340


Vorwort Ich will Mopsa Leben einhauchen. Die Biografin als Göttin. Das ist natürlich großer Blödsinn, aber jetzt, um zwei Uhr früh, bin ich leicht für Blödsinn zu haben. Drogen. Freundschaft Sternheims mit Rühles. Wie schön, Alice Rühle Gerstel auf einer Schweizer Gartenbank zu begegnen. Vor mir liegt Alices mexikanische Silberkette. Das Abschiedsgeschenk meiner Freundin Edith. Ripper. Mein Neffe kann nicht genug bekommen von Rippers Abenteuern. Um ihm einen Gefallen zu tun, schmücke ich alles noch mehr aus. „Der Ausreißer“, so soll das Buch heißen, meint Linus. Andere müssen sich einen Künstlernamen zulegen. Wenige kommen schon mit dem Namen auf die Welt, der gar nicht besser hätte erfunden werden können. All die Gedanken, die ich gestern noch hatte, sind heute wie weggeblasen. Hat das Ganze Sinn? Die Flut des vorhandenen Materials droht mich wegzuschwemmen. Wahrscheinlich ist es Gert Schiff auch so gegangen. Zu viele Informationen. Alles ist erklärt, geschrieben, was bleibt mir 7


Mopsa Sternheim – Ein Leben am Abgrund

da noch zu sagen? Zu viele Details, zu wenige Geheimnisse. Wie kann ein Leben interpretiert werden? Im Zeitalter der Psychologie wohl nur in psychologischen Deutungen. Es lockt mich, aber gleichzeitig stößt es mich auch ab. Wo fange ich an? Noch einmal das Leben Mopsa Sternheims aufrollen, diese Aufgabe habe ich mir gestellt. Als ich zum ersten Mal über ihren Namen gestolpert bin, habe ich gedacht, es werde ein Leichtes sein, mehr über sie in Erfahrung zu bringen. Doch dem war nicht so. Zwar ist ihr Name immer wieder aufgetaucht, manchmal begleitet von einem erklärenden Satz, aber alle weiteren Nachforschungen sind ergebnislos geblieben. Dann, eines Tages habe ich in den endlos scheinenden Regalen der Universitätsbibliothek in Berkeley, Kalifornien, nach einer Mappe mit Zeichnungen der Grafikerin Mariette Lydis gesucht, als ich unvorsichtigerweise ein paar Bücher umgestoßen habe. Es waren schmale Bändchen, kurze Aussagen über den französischen Schriftsteller André Gide von der Universität Lyon. Aus gewohnter Neugierde habe ich einen Band aufgeschlagen, um im Index nach dem Namen Sternheim zu suchen. Und zu meiner großen Überraschung habe ich zum ersten Mal einen kurzen, aber immerhin vollständigen Lebenslauf Mopsas gelesen. Das war 1993. Auf den Spuren der Spurensucher. So viele Versuche, über Mopsa eine Biografie zu schreiben, und alle sind im Sand verlaufen. Manchmal habe ich Angst, dass auch ich versanden könnte. Dass ich an der Fülle des Materials ersticke. Dass ich plötzlich nicht mehr weiß, welcher Spur 8


VORWORT

ich folgen soll. Dass ich ganz einfach einer Persönlichkeit wie Mopsa nicht gewachsen bin. Aber das wäre aufgeben. Eingestehen, dass der deutschsprachige Buchmarkt, das deutschsprachige Publikum nur eine schöngeistige Biografie haben will ... Eine, die den geraden Weg zeigt und nicht die Tiefen und Verschlingungen, die Mopsas Leben bestimmt haben.

Ines Rieder Wien, 26. April 2004

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Mopsa Sternheim – Ein Leben am Abgrund

Die Grenzgängerin und ihr Kreis Ante portas: Frühling 1954 Noch ein Atemzug. Und noch ein Atemzug. Tief einatmen und dann die Luft langsam herauslassen. Schweißgebadet war sie aufgewacht, in ihr die Angst, den Morgenappell zu verschlafen. Aber hier gab es keinen Morgenappell, es war Frühling 1954 und sie war in ihrem Bett in der Klinik der Pariser Vorstadt Villejuif. Sie atmete bewusst weiter, um langsam aus der Traumwelt in die Realität zurückzukehren. Seit jenem Apriltag im Jahr 1945, an dem sie in einem Autobus des schwedischen Roten Kreuzes aus dem Konzentrationslager Ravensbrück weggebracht worden war, hatte es keinen Tag gegeben, an dem sie nicht zumindest einige Zeit lang mit ihren Gedanken wieder dort gewesen war. Manchmal hatte sie gemeint, fast so etwas wie Sehnsucht nach Ravensbrück zu verspüren. Beim Einschlafen war es das Flackern der Erinnerungen an die Folter durch die Gestapo, das sie hochschrecken ließ und ihr Herz zum Rasen brachte, nicht die Erinnerungen an das Lager. Es brauchte dann immer seine Zeit, um sich von der allumfassenden Ohnmacht zu befreien und doch 10


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noch einzuschlafen zu können. Ihr Leben war so viel mehr gewesen als Folter und Konzentrationslager, aber seit jener Dezembernacht 1943, in der sie im Pariser Montparnasse der Gestapo in die Hände gefallen war, war ihr Leben davon bestimmt gewesen. Es war, als ob der Spiegel, in dem sie sich selbst und ihr Leben betrachtete, einen Sprung hätte und sie nur mehr die Bruchstellen sah, sodass jedes Vergessen unmöglich war. Sie hatte überlebt. Sie war in der Hölle gewesen und hatte sie lebend verlassen. Eines schönen Frühlingstages waren sie vorgefahren, die großartigen schwedischen RotkreuzMitarbeiter. Sie hatten sie und Hunderte andere in ihre Autobusse geladen und sie nach Småland gebracht, in den Ort Ryd. Dort, während ihrer Rekonvaleszenz, hatten die Versuche begonnen – die endlos scheiternden Bemühungen, die Grauen des Konzentrationslagers und ihren eigenen Platz darin zu verstehen. Die Scheußlichkeiten, die Menschen schon immer ausgeübt hatten und weiterhin ausüben würden, das waren nur Abszesse des Lebens. Aber wie gingen andere Menschen – wie ging sie – damit um? Während der Folter war ihr klar gewesen, dass ihre Peiniger die absolute Macht über sie hatten und dass sie diese Macht nützen würden, um sie zu zerstören. Nach jeder dieser Foltern war sie allein in der Zelle gelegen, im Wissen, dass es niemand gab, der oder die ihr helfen konnte. Im Lager hingegen waren sie und die anderen eine unüberschaubare große Menge gewesen und das, was man ihr in der Kindheit als Nächstenliebe zu erklären versucht hatte, das hatte dort gefehlt. Zusammengepfercht hatte jede Einzelne ums Überleben gekämpft oder sich dem Tod überlassen. Es war ihr alles gleichgültig gewesen, ihr Körper war gebrochen. Von der Folter, von der Einzelhaft und vom Drogenentzug. In den ersten Monaten in Ravensbrück 11


Mopsa Sternheim – Ein Leben am Abgrund

war sie dem Tod näher gewesen als dem Leben. Sie hatte dennoch immer daran geglaubt, Ravensbrück lebend verlassen zu können. Der Gedanke, im Lager zu sterben, war ihr fremd gewesen. Als es ihr besser ging, war sie Blockova im Block 8 geworden. Der Block 8 war ein Block für Kranke gewesen – eigentlich waren alle sterbenskrank – und sie hatte getan, was sie konnte: hatte die Kranken verbunden, die Hungernden gefüttert und die Verfolgten versteckt. Ihr Hochmut hatte ihr geholfen, ihre Verachtung für die SS war die treibende Kraft gewesen. Der Block 8 hatte ihre Erinnerung am stärksten geprägt. War es, weil sie dort meinte, die absolute Macht über fünfhundert Menschen zu haben? Es war eine entsetzliche, totale Macht gewesen, eine, die viele andere dazu verführt hatte, sie zu missbrauchen. Denn Macht im Lager, das hieß Vorteile: Vorteile, für die andere bereit waren, zu morden und zu rauben. Essen hatte ihr nie viel bedeutet und auch im Lager war es ihr gleichgültig gewesen. Sonst hatte sie ja alles: Kleider und die nötigen Mittel, um sauber zu bleiben. Unbestechlich war sie gewesen und deshalb hochmütig. Gehasst von den anderen in Machtpositionen, besonders den Deutschen, die ihr ihre Arroganz zum Vorwurf gemacht hatten. Vielleicht waren es die Schmerzen dieser Krankheit, der sie nicht mehr entkommen würde, die all ihren Erinnerungen Nahrung gaben? Sie war schon so oft dem Ende nahe gewesen. Doch jetzt: Das Ende konnte nichts anderes sein als diese Minuten, die sie jetzt lebte. Sie hatte ihrer Mutter lange verschwiegen, dass sie todkrank war. Sie hatte es nicht übers Herz gebracht, dem Menschen, der ihr am meisten bedeutete, sagen zu müssen, dass sie bald sterben würde. Wahrscheinlich hatte es die 12


DIE GRENZGÄNGERIN UND IHR KREIS

Mutter geahnt, aber es nicht wahrhaben wollen. Als Mopsa nach Ravensbrück abtransportiert worden war, hatte ihre Mutter auf ihre Rückkehr hoffen können, aber diesmal würde es keine Rückkehr für sie geben. Der Krebs saß ihr schon zu lange in den Eingeweiden. Warum wohl war sie die Einzige in ihrem Freundeskreis gewesen, die so unerschütterlich an der eigenen Mutter gehangen hatte? Dafür hatte sie nie eine Erklärung gefunden, obwohl sie sich immer wieder – oft verzweifelt – gefragt hatte, warum sie ihre Mutter so sehr liebte. René Crevel hatte seine Mutter regelrecht gehasst, Annemarie Schwarzenbach hatte unsäglich unter ihrer tyrannischen Mutter gelitten, Klaus Mann hatte seine Mutter zwar geliebt, aber sie war zu sehr mit anderem und anderen beschäftigt gewesen, um ihm je die nötige Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, und Rudolph Ripper hatte seine Mutter ausgenutzt und ihre Liebe nie erwidert. Mopsa hatte immer gespürt, dass ihre Mutter ihre Liebe zwar huldvoll entgegengenommen, sie aber nicht mit Gesten erwidert hatte. Was Mopsa tat, war nie wirklich von ihr wahrgenommen, geschweige denn geschätzt worden. Keines ihrer Talente war von der Mutter beachtet worden, und alle Aufforderung Mopsas, ihr Tun doch endlich anzuerkennen, war unbeantwortet geblieben. Manche ihrer Freundinnen und Freunde, die die Mutter gekannt und um die komplizierte Beziehung zwischen den beiden gewusst hatten, hatten wiederholt versucht, Mopsa darauf hinzuweisen, dass die überbordende Leidenschaftlichkeit, die sie für ihre Mutter empfand, nur schwer von dieser erwidert werden konnte, und hatten Mopsa versichert, dass ihre Mutter ihr sicherlich dennoch in großer Liebe zugetan sei. Jene Freundinnen und Freunde, die jetzt fast ständig bei ihr waren, die halfen, damit die Rund-um-die-Uhr-Betreuung in diesem schönen, trockenen und hellen Zimmer, 13


Mopsa Sternheim – Ein Leben am Abgrund

das sie ganz für sich allein hatte, auch funktionierte, das waren diejenigen, die sie in den letzten Jahren kennengelernt hatte. Die alten Freundinnen und Freunde waren fast alle tot, und die wenigen, die noch lebten, waren in alle Winde zerstreut. Sie konnte sich alle in Erinnerung rufen, die Frauen und Männer, die ihr in den Kinderjahren in Belgien so viel bedeutet hatten, und jene, die ihr Heranwachsen begleitet hatten, als ihre Familie in der Schweiz und später in Dresden gelebt hatte. Und natürlich all jene, mit denen sie ab der Mitte der Zwanzigerjahre in Berlin alle Facetten des Lebens ausgekostet hatte. Dann war der große Bruch gekommen. Die Nazis hatten die Macht im Staat übernommen und viele aus Mopsas damaligem Kreis waren, so wie sie, nach Frankreich ins Exil gegangen. Zuerst hatten die meisten noch Pässe und etwas Geld gehabt, und sie waren weiter in Europa unterwegs gewesen – immer einen großen Bogen um Deutschland machend. Mit Kriegsausbruch war der Freundeskreis jedoch immer kleiner geworden. Viele schafften es noch zu entkommen – vorwiegend in die USA und nach Mexiko. Sie war eine der wenigen gewesen, die versuchen mussten, im besetzten Frankreich zu überleben. Da hatte sie dann die neuen Freundschaften geschlossen mit jenen, die so wie sie versuchten, über die Runden zu kommen. Wie eine Litanei ging sie immer wieder die Namen ihrer alten Freundinnen und Freunde durch. Es waren immer dieselben und auch die Reihenfolge blieb immer dieselbe. René Crevel – wer las jetzt im Jahr 1954 noch Werke des bereits im Jahr 1935 verstorbenen Schriftstellers? Michel Zimmermann, mit dem sie so gut hatte reden können und der ihr für einige Zeit so nahe gewesen war. Sie hatte ihm geholfen, nach England zu entkommen, und hatte nach dem Krieg nichts mehr von ihm gehört. Er 14


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war verschwunden geblieben. Walter Landauer, der Verleger, war 1944 in Bergen-Belsen ermordet worden. Die Schweizer Schriftstellerin Annemarie Schwarzenbach, die so vielen Frauen den Kopf verdreht hatte, war 1942 mit dem Fahrrad tödlich verunglückt. Und Klaus Mann – den sie immer lieber gehabt hatte als seine Schwester Erika – hatte sich 1949 in Cannes das Leben genommen. Die, die noch lebten, waren weit fort, und selbst wenn sie nahe gewesen wären, wären sie sich inzwischen schon fremd geworden. Rudolph von Ripper – im Freundeskreis wegen seines Familiennamens meist Jack oder nur Ripper genannt –, mit dem sie verheiratet gewesen war und dem sie so lange beigestanden hatte, hatte ihr, sobald er sie nicht mehr brauchte, den Rücken gekehrt. Ruth Landshoff – die Frau, mit der sie ihre erste längere Beziehung gehabt hatte – war in New York geblieben, ebenso die einstige Herzensfreundin Alice Apfel. Mit Pamela Wedekind, die sich während des Krieges in Deutschland mit den Nazis arrangiert hatte, hatte sie nichts mehr zu tun haben wollen, und nach Klaus’ Tod war auch der Kontakt zu Erika Mann eingeschlafen. Was wussten diese „Kinder“, die sie jetzt so liebevoll umschwirrten, von all diesen Menschen, die ihr über so viele Jahre nahegestanden hatten, die sie auf ihre Weise geliebt hatte und von denen sie geliebt worden war? Es waren alle Arten von Liebe gewesen: körperliche, freundschaftliche, geschwisterliche. Liebe, die sie zum Wahnsinn, zur Verzweiflung getrieben hatte, und in ganz seltenen Momenten auch eine Liebe, die Ruhe und Glück in ihr Leben gebracht hatte. Aber das war alles vorher gewesen. Vorher, das hieß vor Ravensbrück. Seitdem war alles anders. Auch wenn sie es nach außen hin geschafft hatte, wieder „die alte Mopsa“ zu werden, war doch alles gebrochen und reflektiert im 15


Mopsa Sternheim – Ein Leben am Abgrund

Spiegel von Ravensbrück. Dabei – und das hatte sie nur ihrem Tagebuch anvertraut – war sie in Ravensbrück glücklich gewesen. Darüber konnte sie nicht reden. Wem sollte sie schon von ihrem „Glück“ im Konzentrationslager erzählen? Sicherlich nicht denen, mit denen sie dort eingesperrt gewesen war. Und den anderen, die das alles nicht durchlitten hatten? Anfangs waren sie alle begierig nach Geschichten über das Konzentrationslager gewesen, doch dann war ihre Neugierde befriedigt gewesen und sie hatten ihr Interesse verloren. Das Überleben im mühsamen Nachkriegsalltag war wichtiger: Essen aufzutreiben oder warme Kleidung zu organisieren, weil die Heizungen nicht funktionierten. Alle hatten ihre eigenen Leidensgeschichten, wen kümmerten da schon die Leiden der anderen? Mopsa konnte das nur zu gut verstehen. Kaum waren die Gräuel dieses einen Kriegs vorbei, gab es schon so viele neue Gräuel. Ein ewiges Rad. Nein, eigentlich gefiel ihr das Bild des Rades nicht, die Geschichte war kein Rad, sondern eine nie enden wollende Aneinanderreihung von Ereignissen, die denselben Namen trugen, aber dennoch immer neu gestaltet und erlebt wurden. In Ravensbrück hatte sie erfahren, was es hieß, nicht nur über Politik zu reden, sondern politisch zu handeln. Jede Sekunde, die sie im Lager gelebt hatte, war eine politische Tat gewesen. Ans Überleben hatte sie damals keinen Gedanken verschwendet. Sie war nur von einem Gedanken getrieben gewesen: die Nazis in die Knie zu zwingen, ihre Herrschaft zu beenden. Dazu hatte sie beigetragen. Und das war ihr politisches Vermächtnis. Wahrscheinlich würde sie nicht mehr die Kraft haben, ihren Roman, den einzigen, an dem sie je gearbeitet hatte, zu Ende zu schreiben. Wie glücklich war sie gewesen, als sie aus dem Lager zurückgekommen war und all die Seiten, 16


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die sie schon vor Ravensbrück geschrieben hatte, bei ihrer Mutter unversehrt wiedergefunden hatte. Mit welchem Eifer hatte sie sich daran gemacht, den Roman fertigzustellen. Er musste fertig werden, musste publiziert werden, damit auch sie im Kreise ihrer kreativen Freundinnen und Freunde ihren Platz einnehmen konnte. Wer würde sich sonst ihrer erinnern? Sie wusste nur zu gut, wie es um Ruhm bestellt war. Einst hatte ihr der Name des Vaters, Sternheim, alle Türen geöffnet. Nach der Heirat mit Rudolph von Ripper hatte dann das „von“ einen nützlichen Unterschied gemacht, auch wenn der Name Ripper fast immer mit dem Londoner Frauenmörder und nicht mit dem österreichischen Militäradel in Verbindung gebracht wurde. Doch nun: Wer würde sich ihrer erinnern?

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