Judith Jennewein Die wundersamen Weltraumabenteuer von Helen Hayer und Christine de Castelbaraque
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Judith_Jennewein
Die wundersamen Weltraumabenteuer von Helen Hayer und Christine de Castelbaraque Roman
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Gedruckt mit freundlicher Unterstützung durch das Amt der Oö. Landesregierung, Direktion Kultur.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © Zaglossus e. U., Wien, 2013 1. Auflage 2013 Alle Rechte vorbehalten Lektorat: Katja Langmaier Korrektorat: Silvia Stoller Druck: Prime Rate Kft., Budapest Printed in Hungary ISBN 978-3-902902-04-7 Zaglossus e. U. Vereinsgasse 33/12, A-1020 Wien E-Mail: info@zaglossus.eu www.zaglossus.eu
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Fßr Commandress McClean – bei dir bin ich gelandet.
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1 Der Tag hatte früh begonnen für Helen Hayer. Schon um sechs Uhr morgens war sie aufgestanden, hatte Fan-Post und Anfragen von Journalist_innen beantwortet, an ihrer Präsentation gearbeitet und mehrmals mit ihrem Agenten telefoniert. Jetzt war es elf Uhr und Helen war viel zu spät dran für ihren Termin bei Marissa Applegate. Schnell hetzte sie durch dichtes Schneegestöber die zwei Blocks entlang, die ihre Wohnung vom mächtigen Hauptsitz des Applegate-Konzerns trennten. Wie immer waren die Wege zu Boden und in der Luft verstopft, und Helen hätte mit einem Taxi länger als zu Fuß gebraucht. Auf dem breiten Boulevard, den sie entlanglief, drängten sich dichte Menschenmassen, Sirenengeheul und das unangenehme Piepen von Alarmosonics erfüllten die klare Luft – ein ganz normaler Tag in der Megalopolis Saint Arna und ein ebensolcher im Leben der amtierenden und fünfmaligen Miss Universe, die kurz vor der nächsten Wahl stand. Helen zog ihre Kapuze tiefer ins Gesicht, um nicht erkannt zu werden. Selbstverständlich stand sie stets gern für einen Schnappschuss oder einen Plausch mit Fans bereit, doch Marissa Applegate reagierte auf Unpünktlichkeit sehr unwirsch, und das selbst bei Helen, die dem Konzern durch die Kooperation immerhin saftige Gewinne brachte. Misswahlen waren im Jahr 2848 zu einem globalen Spektakel geworden. Geschickte PR, professionelles Marketing und eine grundlegende Neupositionierung des Bewerbs hatten bewirkt, dass statistisch jeder Zweite der elf Milliarden Menschen auf der Erde die jährliche Liveübertragung der Wahlen zur Miss Universe verfolgte. Das Aussehen der Teilnehmerinnen war unwichtig geworden. Die Teilnahme war ab einem IQ von 130 möglich, bei der Wahl selbst präsentierten die Anwärterinnen eine fünfzehnminütige Auseinandersetzung mit einer selbst gewählten Fragestellung, bevor sie vor einer Fachjury diverse Aufgaben aus den Gebieten Denken, Handeln und Fühlen lösen mussten. Die besten fünf wurden von der Fachjury nominiert, die Gewinnerin wurde per Televoting von der Weltbevölkerung gewählt und war für die Dauer ihrer Amtszeit
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als globale Botschafterin der Menschheit unterwegs. Selbstverständlich gab es auch einen Mister Universe und seit 2788 ein Child Universe. Die drei reisten nie gemeinsam, um nicht den Eindruck zu erwecken, die Konstellation Mann-Frau-Kind sei nach wie vor das Ideal auf der Erde. Andere Zivilisationen hätten dies als äußerst peinliches Eingeständnis technischer Unterlegenheit gewertet. Wer etwas auf sich hielt, reproduzierte sich heute extrakorporal. Auch wenn so manch konservativer Idee noch immer von verschworenen Zirkeln in holzvertäfelten Hinterzimmern gehuldigt wurde, so war es schließlich mit der Entdeckung, dass der Mensch nicht die einzige und intelligenteste Lebensform des Universums war, endlich zu einer Abkehr von althergebrachten Normen gekommen. Heute, mehr als dreihundert Jahre nach dem ersten Kontakt mit erdfremden Zivilisationen und fast ein Millennium nach den ersten Schritten hin zur Extrakorporalen Reproduktion, war die jahrtausendealte Tradition der Glorifizierung von fortpflanzungsbasierten Beziehungsformen Geschichte geworden. Und so reiste Helen Hayer also stets ohne Mister und Child durchs All und langweilte sich auf Empfängen und Konferenzen. Recht viel Handlungsspielraum hatten Miss, Mister und Child nämlich nicht – „Botschafter_innen der Menschheit“ klang zwar nett, war aber eine rein repräsentative Aufgabe. Immerhin brachte der Titel ein fantastisches Auskommen, viel Reisetätigkeit und globale Berühmtheit. Helen hatte es geschafft, unglaubliche fünf Mal als Siegerin aus dem Bewerb hervorzugehen, niemand zuvor war das je gelungen. Sie war ein Superstar und, wie eine aktuelle Umfrage vor kurzem gezeigt hatte, beliebter als der Geist von Juri Gagarin, der jedes Jahr am 12. April auf dem Sputnik die Erde bereiste, um Kindern Geschenke unter den Allbaum zu beamen. Dennoch war für sie klar: Die sechste Wahl würde ihre letzte sein. Die Berühmtheit war mehr Fluch als Segen, die Wahlen zu vorbereitungsintensiv, die Tätigkeit als Miss Universe zu langweilig. Helen hatte schlicht genug davon und für die Zukunft ganz andere Pläne: Vielleicht war es möglich, wieder in die Raumfahrt einzusteigen? Die Ausbildung dazu hatte sie schließlich, und wäre nicht die erste Misswahl dazwischengekommen, so wäre Helen wohl schon längst Wissenschaftsoffizierin auf einem Forschungsschiff. Nun galt es vorerst, den nächsten Wettkampf zu überstehen und diesen im Idealfall natürlich zu verlieren,
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um Marissa Applegate Helens Ausstieg aus dem Bewerb schmackhaft zu machen, ohne die erquickliche Geschäftsbeziehung zu ihrer Sponsorin damit zu belasten. Helen war endlich beim Hauptsitz von Applegate Inc. angelangt und betrat die beeindruckende Empfangshalle, in der Gold und Marmor um die Wette glänzten. Insgesamt vielleicht ein wenig protzig, doch AI hatte einen Ruf zu verteidigen: Der Konzern galt als einflussreich und mächtig, der ursprünglich kleine Familienbetrieb war über viele Generationen hinweg zu einem undurchsichtigen Geflecht von Firmen herangewachsen – Applegate Inc. war durch unzählige Beteiligungen zu einem globalen Player in unterschiedlichsten Geschäftsfeldern geworden: Nahrungsmittelindustrie, Mobilitätsbranche, Immobilien und Raumfahrttechnologien waren nur einige Bereiche, in denen AI aktiv war. Vermutlich wusste niemand außer der mächtigen Konzernherrin Marissa Applegate selbst, was AI alles tat, fertigte, beeinflusste und entschied. Kaum jemand konnte sich heute noch daran erinnern, aus welchem Geschäftsfeld das Unternehmen einst hervorgegangen war. Helen hatte sich natürlich damals vor der Unterzeichnung des Kooperationsvertrags eingehend mit dem Konzern beschäftigt, und tatsächlich war es für sie als Wissenschaftlerin keine allzu schwierige Aufgabe gewesen, die Unternehmensgeschichte bis zur Gründung zurückzuverfolgen. Als sie später dann Marissa Applegate einmal im verzweifelten Bemühen um ein SmallTalk-Thema, das ergiebiger war als das Wetter über Saint Arna und die Folgen, die es für die Starts der Applegate’schen Weltraumflotte hatte, auf die Gründungsgeschichte des Unternehmens angesprochen hatte, hatte Marissa mit einem ihrer berühmten Blicke ihr Missfallen kundgetan, und das Thema war erledigt gewesen. Ganz hatte Helen das nicht verstanden, war es doch Marissas Urururururgroßvater gewesen, der durch die Erfindung des Kadavervaporisators dazu beigetragen hatte, die Erde von einem überhandnehmenden und ernsten Problem zu befreien. Dass jedoch der Reichtum der Familie Applegate im Geschäft der Totengräberei und dem Aufkauf von Nachlässen begründet war, war für Marissa offenbar ein Tabu. Das Marketing des Konzerns war jedenfalls ausgesprochen gut. Applegate war vor allem bei den Misswahlen omnipräsent, und Helen war für die Marketingstrateg_innen eines der wichtigsten
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Testimonials des Konzerns. Heute wollten Marissa und Helen noch mal das genaue Programm der nächsten Tage durchgehen, es galt, so professionell wie möglich aufzutreten. Mit ihrer Zugangskarte durchquerte Helen die Schleuse zu den Büros des Konzerns und fuhr mit dem Panoramalift in den 190. Stock des Wolkenkratzers. Der Lift war an der Außenseite des Gebäudes angebracht und brachte Helen höher und höher. Die Straßen, Parks und Häuser wurden klein, die riesige Ausdehnung von Saint Arna war erst von oben so richtig zu erahnen. Saint Arna erstreckte sich bis zum Horizont und darüber hinaus, unzählige Aeros wirkten wie schwarze Insekten am dunkelgrauen Himmel. „Applegate Inc., 190. Stock: Vorstandsetage. Zutritt nur mit roter Berechtigungskarte!“, ertönte eine sanfte Frauenstimme aus einem Lautsprecher, als der Lift sachte stoppte. Natürlich besaß Helen eine rote Berechtigungskarte, der Zutritt wurde ihr also gewährt. Sie stand im Foyer der Vorstandsetage. Gemütliche Fauteuils mit Kognomaten-Terminals sollten den Größen der Geschäftswelt die Wartezeit verkürzen, und auch Helen nahm in einem der Sessel Platz. Belanglose Musik klang aus unsichtbaren Lautsprechern, Helens Getränkewunsch, den sie in den Order-Terminal eingab, wurde nach Sekundenbruchteilen durch eine automatische Schiebetür in der Platte des Tischchens aus Naraaraholz neben ihrem Fauteuil hochgefahren. Es war immer so ruhig in der Vorstandsetage des Konzerns, man konnte nicht glauben, dass hier weitreichende, billionenschwere Entscheidungen getroffen wurden. Jetzt öffnete sich die Lifttür abermals, und ein kleiner Herr mittleren Alters trat zu Helen. „Heeelen, Liiiiiebste, hallooo!“ Helen umarmte Louis Schneider, ihren Agenten und „Entdecker“. Er hatte sie vor sieben Jahren in der E-Thek von London dabei beobachtet, wie sie ihren KoLibri neu programmiert hatte, und sie darauf angesprochen. „Wie geht es dir, mein Goldstück? Wie weit bist du mit der Präsentation?“, fragte Schneider, an einem bestellten und schon servierten Tee nippend. „Alles im grünen Bereich, lieber Louis. Ich bin insgesamt guter Dinge.“
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„Ich auch, ich auch, meine Liebe. Das Programm steht jetzt fest, Marissa wird aber noch ihre eigenen Ideen einbringen wollen.“ „Deshalb sind wir ja wohl hier“, sagte Helen. Louis war ein guter Agent, verschaffte ihr viele Aufträge und organisierte ihre Reisen stets perfekt. Das Ende ihrer Zusammenarbeit würde ihn sicherlich schwer treffen, doch am Hungertuch würde er auch nicht nagen müssen. „Frau Hayer, Herr Schneider, darf ich bitten?“, sagte nun Marissa Applegates Assistentin, die in der Lounge erschienen war. Sie führte die beiden den bekannten Weg entlang zu Marissas Büro. „Marissa Applegate wird in wenigen Minuten bei Ihnen sein.“ Das Büro bot eine herrliche Aussicht auf Saint Arna. Im Kamin loderte ein Feuer, eine reichhaltige Getränkebar ließ keine Wünsche offen. Marissas Arbeitsplatz glich der Kommandobrücke eines hochmodernen Raumschiffs – ihr Komm-Terminal war eine eigens für Marissa angefertigte und beeindruckende Konstruktion. Doch Helen hatte etwas anderes in Marissa Applegates Büro immer faszinierender gefunden als die Aussicht oder die Technik: An der Längsseite des Büros hatte Marissa Applegate eine Sammlung höchst unterschiedlicher Exponate ausgestellt. Jedes ruhte unter einem Glassturz auf einem Samtkissen, gehalten von einer Stele aus glitzerndem Kristall und in warmes und sanftes Licht getaucht. Alle waren Stücke aus dem Applegate’schen Familienbesitz, wie Marissa Helen bei ihrem ersten Besuch hier erklärt hatte. Von Generation zu Generation war die Sammlung weitergegeben worden, manche Stücke davon bereits seit über zweihundert Jahren. Fast alle von ihnen stammten aus der Zeit vor dem Transatlantischen Krieg und waren allein schon deshalb unbezahlbar. Sie je zu veräußern, war undenkbar. Und wenn ein Mitglied der Familie auf ein weiteres unbezahlbares Stück stieß, wurde es selbstverständlich aufgekauft und die Sammlung erweitert. Unbezahlbar war eine Kategorie, die nur für andere galt. Helen stand auf und ging die kleine Ausstellung wie schon so oft ab: eine grob geschnitzte hölzerne Figur, ein schmuckloser Ring, das Fragment einer Vase, ein kleines Blatt Papier mit einer seltsamen, an der Hüfte gespiegelten Figur und einem Rautensymbol an jeder Ecke und eine mumifizierte Fledermaus, die mit hocherhobenen Vorderbeinen unter dem Glassturz aufgerichtet war.
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„Sie bewundern meine Sammlung, Helen?“, kam jetzt eine Stimme von der Tür. Marissa Applegate war in den Raum getreten. Sie strahlte Macht und Souveränität aus, beeindruckte mit geschmackvollem Auftreten und schneller Entschlusskraft, Herzlichkeit war ihre Sache allerdings nicht. Helen nickte. „So ist es, Marissa. Diese Stücke faszinieren mich jedes Mal aufs Neue.“ Marissa lächelte. „Diese Saaaaammlung!“, rief jetzt Louis Schneider theatralisch aus. „Lassen Sie sich doch endlich überreden, gemeinsam eine Exhibition der wertvollsten Stücke zu organisieren. Was das für ein Erfolg wäre!“ Marissa winkte ab. „Nein, Herr Schneider. Sie wissen doch, dass meine Sammlung unzugänglich ist. Ich möchte sie mit niemand teilen.“ Die Sammlung mit Geschäftspartner_innen zu teilen und sie in ihrem Büro auszustellen, ist für Marissa natürlich keineswegs ein Problem, dachte Helen bei sich, als sie vor Marissas mächtigem Schreibtisch Platz nahm und ihr Blick dabei auf das einzige Exponat fiel, das dort ausgestellt war. Es war ein schwarzer, völlig glattpolierter, flacher Stein, der mit einer unsichtbaren Vorrichtung an einer silbernen Kette befestigt war. Ein faszinierendes Stück, und Helen hatte sich oft dabei ertappt, wie sie in Besprechungen mit Marissa mit ihrem Blick an der matt schimmernden Oberfläche des Steins geradezu hängen blieb. Er schien eine beinahe hypnotische Wirkung zu haben und stand, keineswegs zufällig, wie Helen vermutete, genau zwischen Marissa und den Besucher_innen, die sie in ihrem Büro empfing. „Doch wir wollen heute nicht über mich, sondern über Sie, Helen, sprechen“, lenkte Marissa Applegate das Gespräch nun weg von vorsintflutlichen Artefakten direkt in die Gegenwart. Die drei begannen, das festgelegte Programm für die Misswahl auf dem Planeten Eden® durchzugehen. Neben Proben für die Liveübertragung standen IQ-Trainingseinheiten, Pressekonferenzen, Charity-Veranstaltungen und diverse andere Auftritte auf dem Plan. Applegate Inc. würde sein Logo und seine Produkte ständig und überall positionieren, wie schon in den Jahren davor. Marissa Applegate selbst sollte auf Eden® Helens ständige Begleiterin sein und hatte einige
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Punkte mehr in Helens Programm reklamiert, als ursprünglich vorgesehen waren. Helen überflog die Ergänzungen und fand nicht alle Ideen unterstützenswert. „Ich soll beim Aussteigen aus der Stretch-Aerousine auf einen UBahn-Schacht steigen und der Wind daraus soll ‚zufällig‘ meinen Slip entblößen? Das ist absurd! Was soll das bringen? Es gilt schließlich der wichtigste Grundsatz der Misswahlen – die völlige Neutralbewertung der biologisch-materiellen Ausgangslage.“ Marissa fand Helens Protest offenbar naiv. „Sie sollen doch nicht irgendeinen Slip entblößen.“ Sie griff in eine Schublade ihres Schreibtisches. „Sie sollen diesen Slip entblößen.“ Das einzig Gute an dem Slip war, dass er beim nächsten Wintereinbruch gute Dienste leisten würde, er schien aus original Dämmleinen gewebt. Auf der Vorderseite war ein großes AI-Logo eingestickt. „Unsere Leute vom Marketing halten das für eine gute Idee, um wieder einmal so richtig Aufmerksamkeit zu erregen.“ „Ich weigere mich“, sagte Helen einfach und sah Marissa fest an. Sie hatte keine Angst vor Marissa Applegate. Warum sollte sie auch? Die beiden waren eine geschäftliche Symbiose eingegangen und befanden sich schließlich in gleich starker Position. „Aber das Logo ist handgestickt!“, warf Marissa verärgert ein. „Heeelen, Liebste“, schaltete Louis sich jetzt ein, „vielleicht genügt ein wiiiinzig kleines Sekündchen ...“ Seine Worte erstarben unter Helens Blick. Es war ihm sichtlich unangenehm, Marissa einen Wunsch abzuschlagen. Marissa sah Helen eindringlich an, doch Helen blieb hart. Endlich gab Marissa auf und wandte sich kurz ihrem Komm-Terminal zu. „Nun gut, Helen – ich kann Sie ja nicht zwingen. Wir streichen diesen Punkt, lassen Sie mich dies nur kurz der PR-Abteilung mitteilen; die Bewerbung ist ja schon in vollem Gange, es soll nichts Falsches kommuniziert werden.“ Helen sah sich das von Marissa ergänzte Programm weiter an. Waren noch irgendwelche peinlichen „Missgeschicke“ geplant? Nein, das nicht – doch diesmal sollte das Medienspektakel gar schon während des Fluges nach Eden® beginnen. Geplant waren ein Pressegespräch sowie zwei Aufführungen von Helens Fertigkeit im
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Kopfrechnen, dieses altmodisch-sinnlosen, die Menschen aber immer wieder aufs Neue faszinierenden Talents. Der Flug nach Eden® sollte vom beeindruckendsten Raumschiff der Applegate’schen Raumflotte durchgeführt werden: der Agina V. Schon die Aginas I bis IV waren Meister_innenwerke des technischen Fortschritts gewesen, mit der Agina V jedoch war der Fortschritt zur Perfektion geworden. „Wir fliegen auf der Agina V nach Eden?“, fragte Helen. Marissa nickte. „So ist es. Wir haben das Schiff und Castelbaraque schon länger nicht mehr in Marketing-Maßnahmen eingebunden, das soll nun verstärkt ...“ Helen hatte im selben Moment bemerkt, dass sich auf Marissas Schreibtisch etwas rührte. Der Stein an der silbernen Kette hatte sich – hatte sich, ja was eigentlich? Er hatte sich nicht bewegt, er lag noch immer da wie zuvor, schwarz, matt glänzend. Und doch, aus den Augenwinkeln und ganz und gar unbewusst hatte Helen gemeint zu sehen, dass der Stein irgendetwas getan hatte. Hätte Marissa nicht im selben Moment innegehalten, hätte Helen es als Einbildung abgetan. Der Komm-Terminal piepte, Marissa drehte ihren Kopf und sah auf einen der unzähligen Bildschirme, auf dem Marissas Assistentin erschien. „Commandress Castelbaraque ist eingetroffen.“ Aus dem Hintergrund war leise eine Stimme zu hören. „De Castelbaraque natürlich, Verzeihung. Commandress de Castelbaraque ist eingetroffen“, sagte die Assistentin jetzt mit einiger Röte im Gesicht. „Bestens. Schicken Sie sie doch sofort herein“, befahl Applegate. Dann sah sie lächelnd zu Helen und Schneider. „Wenn man von der Sonne spricht ...“, sagte sie, besser gelaunt als zuvor. „Hat die Commandress eigentlich schon einen Agenten? Wer repräsentiert sie denn?“ Louis tippte schon aufgeregt in seinen Kognomaten. Helen war gespannt – der Ruf der Commandress eilte ihr voraus. In Saint Arna war sie, wie eine Umfrage kürzlich festgestellt hatte, fast so beliebt wie der Geist von Juri Gagarin. Helen strich sich durchs Haar und zupfte ihren Kragen zurecht.
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2 Termine, Termine, Termine! Christine de Castelbaraques Aufenthalte auf der Erde gestalteten sich in letzter Zeit zunehmend hektisch. Früher noch, ja früher, da war man nach monatelanger Abwesenheit enthusiastisch an Land gegangen, hatte den erfolgreichen Abschluss feucht-fröhlich gefeiert und sich dann aufgemacht, um das süße Leben in vollen Zügen zu genießen. Doch früher, da war „man“ ja einfach Besatzungsmitglied gewesen, ohne Verantwortung, ein anonymes Rädchen im feingliedrigen Zusammenspiel der Besatzung eines Raumschiffes. Heute war aus „man“ Christine de Castelbaraque geworden, die Commandress der Agina V, deren Abenteuer schon längst als Fortsetzungsromane erschienen und deren Verdienst es war, dass der Streit zwischen der Erde und den Mignonen vor fünf Jahren nicht eskaliert war. Seither war die Commandress meist in wissenschaftlich-erkundender Mission unterwegs gewesen und vermaß mit der 200-köpfigen Besatzung der Agina V bislang unbekannte Sektoren der Milchstraße. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die auf diesen Reisen gewonnen wurden, waren zahllos und hatten Christine zur anerkanntesten Phytobiologin der Erde gemacht. Die in den Fortsetzungsromanen Castelbaraques coole Coups geschilderten Abenteuer hatten zwar nicht immer tatsächlich so stattgefunden, doch die Expeditionen der Agina V und ihrer unerschrockenen Commandress waren nicht immer ungefährlich und spannend allemal. Christine hatte schon mehrere Termine hinter sich, als sie das Gebäude von Applegate Inc. betrat. Eigentlich sollte sie den Artikel über das in der arapahoischen Steppe beobachtete Schunkelgras fertigstellen, doch wenn die oberste Chefin rief, konnte sie wohl kaum ablehnen. Marissas Assistentin – eine wenig bemühte Person, deren Qualifikation Christine in all den Jahren verborgen geblieben war – hatte nicht durchklingen lassen, was bei dem Termin besprochen werden sollte. Das hatte Christine stutzig gemacht. Marissa Applegate setzte stets auf den Überraschungsmoment, wenn es darum ging, eine unangenehme Mission anzuordnen – als
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hätte irgendjemand in ihren Diensten ernsthaft eine Wahl. Schon in der Lounge der Direktionsetage wurde sie von Marissas Assistentin erwartet und zu Marissas Büro geführt. Sie trat ein. Marissa erhob sich und begrüßte Christine herzlicher als sonst. „Christine – wie schön, dass Sie da sind. Es freut mich, Sie zu sehen“, sagte sie, auf einen Stuhl deutend. Christine nahm Platz. „Sicher kennen Sie Helen Hayer, Commandress, und hier haben wir Louis Schneider, Frau Hayers Agenten.“ „EN-CHAN-TÉ!“, rief der Agent übereifrig. Christine nickte den beiden wenig erfreut zu. Natürlich kannte sie Helen Hayer. In ganz Saint Arna lächelte Hayer von den Screens, alle sprachen über sie, in jeder zweiten Werbung schien sie aufzutauchen, man konnte ihr gar nicht entkommen. Sogar auf Missionen war Helen Hayer immer dabei, denn unter den jungen Rekrut_innen an Bord war es seit einiger Zeit in Mode gekommen, die Screens ihrer Kognomaten mit den aktuellsten Fanimationen von Hayer zu versehen, um sich dann auf den Gemeinschaftsdecks lautstark darüber auszutauschen, wer die neuesten erstanden hatte und welche davon die schönste war. Während der gesamten Reise nach Arapahoia und zurück war Christine gar nicht umhingekommen, darüber informiert zu sein, dass in dieser Saison besonders die Fanimationen im Trend lagen, auf denen Hayer sehnsüchtig in die Weite blickte. Sie tat das vor unzähligen verschiedenen Hintergründen, von denen allein fünfzehn, hatte Christine gezählt, Sonnenuntergänge waren. Christine hatte genug von Hayers Omnipräsenz, und jetzt saß sie hier in Marissas Büro, direkt neben dem Original, das – Christine traute ihren Augen nicht – einen sehnsüchtigen Blick auf den unscheinbaren schwarzen Stein unter der Käseglocke auf Marissas Schreibtisch warf. „... eine stärkere Einbindung in unsere Marketingmaßnahmen geben.“ Marissa hatte angefangen zu sprechen. „Deshalb werden Sie, Commandress, morgen mit der Agina V und der gesamten Besatzung nach Eden aufbrechen. Helen steht unter Ihrem persönlichen Schutz, ich will Sie bis zur Rückkehr zur Erde bei allen Aktivitäten dabei haben, an unserer Seite. Ihrem Ruf wird das Medienspektakel sicherlich auch nützen.“
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Christine kochte innerlich, antwortete aber ruhig: „Sicherlich ist Ihnen bekannt, Marissa, dass ich bereits mehrmals öffentlich gegen die Wahlen zur Miss Universe aufgetreten bin. In wissenschaftlichen Kreisen kann ich mich nach so einem Auftrag nicht mehr sehen lassen, wenn das ...“ „Papperlapapp“, fuhr Marissa streng dazwischen, „Ihr Ruf wird so einen unbedeutenden Transportflug wohl überstehen. Sie sind schließlich Christine de Castelbaraque!“ Christine fixierte Marissa mit funkelnden Augen. Ja, sie war Christine de Castelbaraque! Noch nie hatte sie etwas getan, was gegen ihre Prinzipien verstieß. „Vielleicht überzeugt es Sie, Commandress de Castelbaraque, wenn Sie erfahren, dass auch ich mich der Wissenschaft verpflichtet fühle und einen Abschluss von der Nante Dalmiano summa cum laude vorweisen kann“, brachte sich nun Hayer in das Gespräch ein. Christine sah zu ihr hin. „Es ist mir jedenfalls nicht bekannt, dass Sie sich aktuell mit den brennenden Fragen der heutigen Wissenschaft beschäftigen.“ „Beim Bewerb selbst ist ja auch ein Referat nach den Grundregeln des guten wissenschaftlichen Arbeitens zu halten“, gab Hayer knapp zurück. Christine schwieg. Herr Schneider beschäftigte sich mit seinem Kognomaten. Marissa war eine Weile still, bevor sie sich wieder einschaltete. „Christine, ich habe Ihnen verschwiegen, dass es einen weiteren Grund für meinen Auftrag an Sie gibt. Die Marketing-Abteilung und auch ich, Louis übrigens ebenso“, Hayer blickte zu Louis Schneider, der gerade versuchte, in seinem Sessel zu verschwinden, „haben Zweifel, ob Helen in diesem Jahr den Sieg wieder nach Saint Arna bringen kann.“ Marissa wandte sich zu Helen: „Nichts für ungut, liebe Helen, aber die Konkurrenz schläft nicht, und die Veranstalter_innen fürchten bereits, dass der Wettbewerb Aufmerksamkeit verlieren wird, wenn immer nur Sie gewinnen. Und jünger werden Sie schließlich auch nicht, Ihre kognitiven Leistungen lassen schön langsam nach.“ „Nichts für ungut“, gab Hayer durch die Zähne zurück. Diplomatie war Marissas Sache nicht.
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„Was soll denn meine Anwesenheit daran schon ändern?“ Christine verspürte eine gewisse Genugtuung. Offenbar lief Hayers Zeit an der Sonne schön langsam ab. „Nicht Ihre Anwesenheit“, sagte Marissa Applegate, „sondern die dieses Amuletts.“ Marissa deutete auf den schwarzen Stein unter dem Glassturz vor sich. Dann sah sie ernst in die Runde. „Ich möchte, dass Helen das Amulett während des Wettbewerbs als Schmuckstück trägt. Es scheint viel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und kann so für Helen vielleicht den Sieg entscheiden. Er kann von ihren Schwächen ablenken.“ Vor Zorn rauschte das Blut in Helens Ohren, dann fiel ihr jedoch wieder ein, dass sie sowieso vorgehabt hatte, sich bei dem Wettbewerb unmerklich zurückzuhalten, um den Titel nicht noch ein weiteres Jahr tragen zu müssen. Ein eigenartiges Amulett würde sie an diesem Plan nicht hindern können. „Wie Sie alle wissen“, fuhr Marissa fort, „bin ich, was meine Familienerbstücke anbelangt, äußerst vorsichtig. Ich will das Amulett gut geschützt wissen, und dafür, Christine, brauche ich Sie.“ Einen Moment sagte niemand etwas, alle sahen auf das Amulett. „Was meinen Sie damit, dass das Amulett Aufmerksamkeit auf sich zieht?“, fragte Christine dann ohne Marissa anzusehen, ihren Blick noch immer auf das Amulett gerichtet. „Genau das, meine liebe Christine.“ Marissa lachte kurz und sah dann in die Runde. „Ich würde meinen, wir haben alles besprochen“, schloss sie dann. Sie meint wohl, sie hat nun Ihre Aufträge verteilt, dachte Christine bei sich. Sie wusste nicht, was sie mehr ärgerte: dass sie nach dieser wahnwitzigen Arapahoia-Mission nun etwas dermaßen Belangloses machen musste oder dass sie mit einem Mal mit einer Miss-Universe-Wahl zu tun hatte. Es war jedenfalls nichts dagegen zu machen. Wie immer bekam Marissa Applegate, was sie wollte. Louis stand wie immer auf der Seite des Geldes, Helen konnte mit dem Ablauf des Wettbewerbs leben, solange sie der Welt nicht ein handgesticktes AI-Logo auf ihrem Slip präsentieren musste. Für sie war die Aussicht, ein paar Tage in Begleitung einer der größten Wissenschaftlerinnen der Erde zu verbringen, ein unvorhergesehener Bonus, und Christine
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gehorchte zähneknirschend, schlieĂ&#x;lich konnte sie es nicht riskieren, ihr Kommando auf der Agina V zu verlieren. Ihre Kabine hatte einen eigenen Swimmingpool.
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