Kurto Wendt Der Juli geht aufs Haus
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Kurto Wendt
Der Juli geht aufs Haus Roman
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Wir bedanken uns für die Förderungen durch die Fakultätsvertretung für Geistes- und Kulturwissenschaften an der Universität Wien, die Studienvertretung Politikwissenschaft an der Universität Wien und die Institutsgruppe Germanistik an der Universität Wien. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung durch das Amt der Oö. Landesregierung, Direktion Kultur, sowie durch die Kulturabteilung (Magistratsabteilung 7) der Stadt Wien.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © Zaglossus e. U., Wien, 2014 1. Auflage 2014 Alle Rechte vorbehalten Umschlagfoto: Judith Jennewein Lektorat: Katja Langmaier, Silvia Stoller Druck: Prime Rate Kft., Budapest Printed in Hungary ISBN 978-3-902902-14-6 Zaglossus e. U. Vereinsgasse 33/25, A-1020 Wien E-Mail: info@zaglossus.eu www.zaglossus.eu
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1 Ich muss dir was sagen. Ein Satz, der Leben verändert, kleine Katastrophen auslösen kann oder neuen Schwung. Selten leichtfertig dahingesagt, wohl überlegt, den richtigen Moment abwartend, mehrfach verschoben. Und doch ist die Reaktion nie vorhersehbar. Hunderte Male hatte Harald schon überlegt, Ioanna seine eigentliche Identität offenzulegen, und jedes Mal hatte er davor zurückgeschreckt, sein lieb gewonnenes gemütliches Leben hier auf Zypern aufs Spiel zu setzen. Er liebte Ioanna wirklich, das machte es ihm schwer, dem leichtfüßigen Rat seiner Freundin Magda zu folgen, mit Ioanna einfach nach Wien zu fahren und ihr dort auf dem Weihnachtsmarkt in Schönbrunn das Geständnis zu machen. Sie würde nicht lachen, so viel war Harald schon klar. Magda war die Einzige, mit der er sich via Skype immer wieder über die Frage austauschen konnte, und sie machte ihm klar, dass der Druck von Tag zu Tag größer werden würde. Eine Woche wollte er noch warten, höchstens zwei. Oder es sein lassen? Wäre Magda nicht wieder in sein Leben getreten, würde er sich diese Frage gar nicht stellen. Vielleicht einfach den Kontakt mit Magda abbrechen? Sie würde es verstehen. Bestimmt. Seit er und Ioanna in Larnaka im Süden der Insel wohnten, übernachtete er, wenn er einen Geschäftstermin im Norden hatte, regelmäßig in Girne, im „The British“, in jenem Hotel, in dem er auch die ersten Wochen seines Zypernaufenthalts verbracht hatte. Er war dort ein beliebter Gast und erhielt immer das gleiche 5
Zimmer im obersten Stockwerk. Der winzige Balkon, von dem aus man* den ganzen Hafen überblicken konnte, war Haralds Nachdenkort Nummer eins geworden. Wenn er in Girne übernachtete, ging er nie aus wie früher, er setzte sich mit einer kleinen Flasche Raki auf den Balkon und dachte nach. Hier skypte er auch gern mit Magda. Dieses Hotel und Magda waren sein Kontakt zu seinem früheren Leben in Wien, und sie hatte ihm versprochen, niemand über ihren Kontakt zu erzählen. Heute hatte er sich eine große Flasche Raki mit aufs Zimmer genommen. Magda hatte er nichts von seinem Girne-Aufenthalt erzählt. Er wollte allein entscheiden und hatte keine Ahnung, wie das gehen sollte. Unter seinem Balkon, in den dutzenden kleinen und großen Lokalen, wurde gegessen, getrunken, geküsst und gelacht. Die Livebands der größeren Lokale spulten routiniert ihr Programm ab, das hier oben auf Haralds Balkon nur mehr als Soundbrei zu hören war. Auf den neun anderen Balkonen des „The British“ saß niemand. „Hallo? Ja, alles gut gelaufen. Sie werden das Haus kaufen. Nein, noch nicht, aber sie werden. Mein Gefühl hat mich noch nie getäuscht. Nein. Ich bin kein Angeber. Ein bisschen Raki. Nein, sonst nichts. Allein. Am Balkon. Geht’s dir gut? Ich fühl mich einsam heute. Versprochen? Ja. Du darfst auch ein anderes Hotel aussuchen. Ich liebe dich. Noch ein bisschen nachdenken. Nur so. Nichts Bestimmtes. Zum Abendessen spätestens. Ja, ja, ich weiß genau, wann das ist. Ich liebe dich. Ich weiß, aber das kann man nicht oft genug sagen. Dir auch. Schlaf gut!“ Harald war es am liebsten, wenn große Entscheidungen von anderen getroffen wurden, um sich dann spontan dazu positionieren zu können. Aber was, wenn niemand eine Ahnung davon hatte, dass eine Entscheidung anstand? Er konnte einfach ein 6
Skype-Protokoll mit Magda „zufällig“ offen lassen, damit Ioanna es las. Und dann? Ein dummer Gedanke! Nein, er musste ihr alles sagen oder nichts, und zwar bald. Er war wohl eingeschlafen. Die Tourist*innen hatten sich alle in ihre Hotelzimmer zurückzogen, der Hafen war leer, und die Wellen glucksten und schlürften, wenn sie sich an den kleinen Segelbooten brachen, die hier vor Anker lagen. Wach geworden war er wohl durch das Bellen eines kleinen Hundes, der zwei schwer betrunkene britische Touristen zum Weitergehen bewegen wollte. Er könnte jetzt einfach zu ihnen runtergehen und ihnen die einfache Frage stellen: „Should I or should I not?“, und sie könnten ihm völlig unvoreingenommen und ohne Entscheidungsdruck mit „Yes“ oder „No“ antworten. Was aber, wenn sie unterschiedliche Antworten gaben? Harald nahm noch den letzten Schluck aus der Flasche und ging dann zu Bett. Auf Träume hielt er nicht viel, also musste die Entscheidung wohl erst am nächsten Morgen fallen. Er hatte sich für zehn Uhr einen Weckruf bestellt, den er offensichtlich überhört hatte. Es war schon nach halb elf, als der Portier ihn durch lautes Klopfen an die Zimmertür aus dem Schlaf riss. Harald sprang unter die Dusche, sein Termin mit den Kund*innen und dem Notar war für elf Uhr in der Hotellobby vereinbart. Er rasierte sich gründlich und schlüpfte in seinen Business-Anzug, in dem er sich immer etwas verkleidet fühlte, warf noch einen kurzen Blick in den Spiegel und fand gar nicht übel, was er da sah. Die Frühstückszeit war eigentlich schon vorbei, er konnte aber den Kellner noch überreden, ihm eine Portion Ham and Eggs und einen Kaffee mit Milch in einem separaten Kännchen zu bringen. Er wollte Ioanna noch anrufen und ihr sagen, dass sie ihm für den Abschluss des Geschäfts die Daumen halten solle und dass er sie 7
liebe, fand aber sein Handy nicht und lief die Treppen hoch in sein Zimmer, wo es wohl im Nachtkästchen liegen geblieben war, der Ort, an dem er es für gewöhnlich zu verstauen pflegte. Die Anstrengung ließ den Raki wieder in seinen Adern zirkulieren, und es schwindelte ihm, als er das Zimmer betrat, in dem das Zimmermädchen schon das Bett machte. Harald entschuldigte sich, drückte der Frau einen Zehn-Lira-Schein in die Hand, öffnete die Lade des Nachtkästchens und holte sein Handy heraus. Er stutzte. Auf dem Boden der Lade des Nachtkästchens war deutlich ein „F“ in das weiche Holz geritzt. Hatte er das vor dem Schlafengehen noch gemacht? Oder ein anderer Gast? Er ging ins Badezimmer und nahm einen Schluck Wasser. Das Zimmermädchen fragte ihn, ob alles in Ordnung sei und ob sie später wiederkommen solle. Harald lächelte sie an und versicherte ihr, dass alles bestens und er froh sei, sein Handy wieder zu haben. Er ging noch mal zum Nachtkästchen, betrachtete einige Momente lang noch das geritzte „F“, schloss dann die Lade und ging wieder nach unten, wo das Frühstück bereits auf seinem Tisch stand. Es war zehn vor elf und die Kund*innen würden jeden Moment erscheinen. Harald schrieb noch schnell ein SMS an Ioanna. „Ich muss dir was sagen, und ich liebe dich.“ Dann schaltete er das Handy ab. Das Geschäft war schnell abgewickelt. Die beiden Briten hatten ihr Haus in Paphos im Süden der Insel verkauft und sich jetzt hier am Stadtrand von Girne im türkischen Teil der Insel niedergelassen. Harald hatte an beiden Deals verdient, die Finanzkrise im griechischen Teil ließ immer mehr britische Inselbewohner*innen nach Norden übersiedeln, und er wurde zum echten Krisengewinner. Harald setzte sich ins Auto und schaltete sein Handy ein. 8
„Ich bin gespannt. Bitte sei pünktlich, mein Vater kommt zum Essen. Kiss, Ioanna.“ Seine Zuversicht, Ioanna seine wahre Identität preiszugeben, war gewichen. Ioannas Vater hielt große Stücke auf ihn, er hatte ihm schon mehrfach unter vier Augen zu verstehen gegeben, dass er es gut fände, wenn Ioanna und er heiraten würden. Wenn Ioannas Vater zum Essen kam, bestand immer die Möglichkeit, dass dieser zum Dessert große Pläne präsentieren wollte. Sollte er es nicht doch einfach dabei bewenden lassen? Was sollte schon groß passieren? Er konnte Ioanna einfach heiraten, ihren Namen annehmen – Konstantinou war doch viel schöner als Smutny oder Jenninger – und bald mal zypriotischer Staatsbürger werden. Dann wären wohl alle Spuren verwischt. Mit Magda müsste er dann wohl tatsächlich den Kontakt abbrechen, denn das wäre auf die Dauer zu stressig. Ach verdammt! Das Essen mit dem alten Konstantinou abwarten, einmal noch drüber schlafen und am nächsten Morgen entscheiden. Große Ansagen blieben aus. Ioannas Vater berichtete stolz, dass das letzte Geschäftsquartal das Beste seit dem Bestehen der Kooperation mit der Partnerfirma im Norden gewesen war, dass Harald dabei eine ganz entscheidende Rolle eingenommen hatte und er mit einem guten Gefühl in wenigen Jahren Ioanna die Firma übergeben können werde, mit Harald an ihrer Seite. „Du wolltest mir was sagen?“ Harald hatte gehofft, dass ihm diese Frage heute nicht mehr gestellt werden würde. Ioanna und er lagen bereits im Bett, das Licht war aus. „Ich bin schon zu müde, Ioanna, lass uns morgen drüber reden. Ich liebe dich.“ 9
Ioanna schlief schnell ein. Harald verfolgte ihren ruhigen Atem, schmiegte sich an sie, rollte sich dann wieder weg und starrte minutenlang auf den leise schnurrenden Deckenventilator. Er dachte an das geritzte „F“ im Nachtkästchen des Hotels in Girne und schlief erst in der Morgendämmerung ein. Harald war froh, sich nicht an den Inhalt seiner wirren Träume erinnern zu können. Die Gefühlserinnerung war schlimm genug. Ioanna schlief noch fest, als er unter die Dusche ging. Er bereitete das Frühstück und schaltete den Laptop ein. Magda war online, ungewöhnlich für diese Zeit. „Hi, Magda!“ „Sorry, ich bin busy.“ „Ich werd’s ihr sagen, halt mir die Daumen.“ „Wird schon gut gehen, ich muss weiter, baba.“ Frank checkte den Koffer mit ein wenig Kleidung und dem Bargeld ein. Vor vier Jahren, als er Hals über Kopf Wien verlassen musste, waren es 100.000 Euro gewesen, und er war unter seiner neuen Identität gereist. Damals war er in Abenteuerlaune gewesen und hatte Scheißangst gehabt, erwischt zu werden. Heute, mit 110.000 Euro im Gepäck, fühlte er sich leer, ganz leer. Warum hatte er das gemacht? War das nicht vorauszusehen gewesen? Er kaufte noch eine völlig überteuerte große Flasche Ouzo Veto, da fand er die Flasche am hübschesten, und schlich zum Flugsteig. Es war sehr eng, jedes Jahr wurden die Sitze wohl um ein paar Millimeter enger zueinander geschraubt. Fiel das niemand außer ihm auf? Und dann auch noch der Sitzplatz B! Immer B! Frank war erst achtmal geflogen, und das immer alleine. Auf B saß er immer zwischen A und C, zwischen Menschen, die ihm mit ihrer Mimik und Körperhaltung vom ersten Moment an wissen ließen, 10
dass sie enttäuscht waren. Vor allem Männer, die wohl die dumme Hoffnung nie aufgaben, einmal ohne große Anstrengungen zwei Stunden neben einem Supermodel sitzen zu können. Frank sah eindeutig nicht wie ein Supermodel aus und Franks Sitznachbar auf A, der offensichtlich Flugangst hatte und sich nicht einmal damit begnügte, das Handy auszuschalten, sondern auch noch die SIM-Karte und den Akku herausnahm, war ebenso eindeutig nicht schwul, denn er streichelte auch noch ein Foto von seiner Freundin, welches an seinen Kanten vom vielen Gestreicheltwerden schon ein wenig eingerollt war. Er hatte wohl Angst, sie nie wiederzusehen. Aber warum flog er dann weg? Oder würde sie ihn am Flughafen in Wien abholen? Wie gerne hätte Frank jetzt mit Nachbar A getauscht. Hätte er Ioanna doch nichts gesagt! Ioanna war gut gelaunt aus der Dusche gekommen, hatte Harald einen Kuss auf die Wange gegeben, ihm zärtlich über seine noch feuchten Locken gestrichen und sich zum Frühstückstisch gesetzt. „Komm zu mir, sag mir, was dir auf dem Herzen liegt!“ Da hätte er immer noch zurückziehen können, aber nein, er hatte ihr sagen müssen: „Ioanna, alles, was wir gemeinsam erlebt haben, war echt, ich genieße das Leben mit dir und möchte noch viel mehr davon.“ Und dann wie in einem schlechten Agentenfilm weiter: „Es fällt mir sehr schwer, es anzusprechen. Es betrifft jedenfalls nicht unsere Gegenwart und unsere Zukunft, sondern meine Vergangenheit. Ich heiße nicht Harald, sondern Frank, und ich bin kein Belgier, sondern Österreicher.“ Wie dumm kam er sich jetzt selbst vor im Vergleich zu seinem Nachbarn im Sitz A, der, Schweißperlen im Gesicht, die Augen schloss, während die Maschine abhob und in einer Schleife aufs offene Meer rausflog. 11
Frank hatte Ioanna ausführlich von seinem Wiener Leben erzählt. Davon, wie er über seinen Job in einem Call-Center in eine Sache hineingeraten war, die ihn schließlich gezwungen hatte, aus Wien zu fliehen und eine andere Identität anzunehmen. Und er hatte erzählt, wie vor eineinhalb Jahren seine ehemalige Arbeitskollegin Magda plötzlich hier aufgetaucht war, um nach ihm zu suchen, und sie ihn schließlich in Alsancak gefunden hatte und wie seither sein Wunsch immer größer geworden war, ihr, Ioanna, alles zu erzählen. Wie dumm, dass er geglaubt hatte, sie mit einem Plädoyer dieser Art beeindrucken zu können! Was hatte er sich gedacht? Dass Ioanna ihn für einen großen Helden halten würde? Oder ihn wegen dem großen Leidensdruck der letzten Jahre bemitleiden und ihn in den Arm nehmen und sagen würde: „Ich habe immer gewusst, dass du ein Geheimnis hast, ich bin froh, dass du es jetzt gesagt hast, und ich liebe dich, das weißt du.“ Ioanna hatte sich seinem Versuch, sie zu umarmen, energisch entzogen. Sie war wütend und verletzt gewesen und hatte ihn gebeten zu gehen. Es dauerte einige Sekunden, bis Frank begriff, dass das „Everything okay with you, Mister?“ nicht seinem flugängstlichen Sitznachbarn galt. „Yes, yes“, brachte er noch heraus und nahm dankend das gereichte Taschentuch des Stewards entgegen. Ioannas Vater war in jeder Hinsicht ein Profi. So sehr er es während der letzten Monate betrieben hatte, in Harald seinen Schwiegersohn aufzubauen, so schnell und präzise hatte er es organisiert, Frank aus dem Leben von Ioanna verschwinden zu lassen. Bereits drei Tage nachdem Ioanna Harald vor die Tür gesetzt hatte, hatte der Anwalt von Ioannas Vater Frank im Hotel einen umfassenden 12
Trennungsvertrag überreicht. Der alte Konstantinou würde Frank sein Haus zu einem guten Preis abkaufen und Frank eine großzügige Abfindung erhalten. Das Geld war bar in einem Koffer überreicht worden, und Frank hatte sich verpflichtet, alle Dokumente und Spuren, die auf Harald Jenninger hinwiesen, nach seiner Landung in Wien zu vernichten und auch als Frank Smutny nie wieder Geschäftskontakte mit der Firma Konstantinou aufzunehmen. In einem persönlichen Brief hatte Ioannas Vater bedauert, dass es so habe kommen müssen, er habe Haralds Fähigkeiten immer geschätzt und ihn wirklich gerne als Schwiegersohn gehabt, er müsse seine Familie aber vor Schwierigkeiten beschützen. Er hatte sogar ein Empfehlungsschreiben lautend auf Frank Smutny für eine Firma TRImmoSolutions mit Sitz in Wien beigelegt, mit der er Geschäftskontakte pflegte. Ioanna hatte ihn noch zum Flughafen gefahren, und Frank war bis zuletzt hoffnungsvoll geblieben. „Magst du nicht mitkommen?“ Ein letzter Versuch. Sie hatte aber nicht mit in die Halle gehen wollen. Beide hatten geheult und sich umarmt. „Schau, Harald, du hast nicht mir gestanden, dass du ein anderer warst, sondern du hast dir eingestanden, dass du ein anderer bist. Ich finde dich auch als Frank süß, aber verliebt hab ich mich in Harald. Das ist ein Unterschied, auch wenn du den vielleicht nicht spüren willst.“ „Komm doch nach Wien studieren, vielleicht kannst du dich auch in Frank verlieben.“ Ioanna hatte Frank fest an sich gedrückt. „Ich glaube nicht, Frank. Pass auf dich auf. Geh jetzt, bitte.“ Warum hatte er zugelassen, dass sie die Umarmung gelöst hatten? Und dann einfach rein, einchecken, einmal noch umdrehen, 13
winken, heulen. Emotionaler Abschied nach Vorschrift. Frank hatte nicht gekämpft. Wie immer. Warum hatte er nicht einfach einen Aufstand machen und Joanna damit beeindrucken können? Irgendetwas! Nein, jetzt saß er hier auf B, wie jedes Mal, zwischen A und C, am schlechtesten Platz der Einsamen und beneidete seinen jungen Sitznachbarn, der völlig erschöpft eingeschlafen war. „Chicken or beef?“, fragte eine Flugbegleiterin, Frank schüttelte nur den Kopf und begann wieder zu weinen.
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2 Der Donauwalzer als peinliche Ankunftsmusik trieb ihm erneut Tränen in die Augen. Er fühlte sich abgeschoben und wusste genau, dass er selbst dran schuld war. Da Larnaka im SchengenGebiet lag und die Maschine zu zwei Dritteln mit Tourist*innen gefüllt war, gab es bei der Einreise keine relevanten Kontrollen. Seine Reisetasche war unversehrt. Frank stieg in ein Taxi und sagte: „Bitte ins Hilton, das an der Donau.“ Frank hatte Magda nicht gesagt, dass er heute schon nach Wien fliegen würde. Er hatte Angst, ihr die Schuld an seiner Situation zu geben und sie zu beschimpfen. Dabei war sie die einzige Freundin, die ihm geblieben war, und den unregelmäßigen SkypeKontakt mit ihr hatte er lieb gewonnen. Aber war das überhaupt eine Freundschaft? Eine ehemalige Arbeitskollegin, die den Ehrgeiz hatte, ihn in seinem Exil auf Zypern zu finden, und ihm dann einen Tipp gab, der dazu führte, dass seine Geliebte ihn vor die Tür setzte? Doch, Magda war schon cool. Und nicht nur, weil sie hier die einzige Person war, für die er sich keine besondere Geschichte ausdenken musste. Frank wollte zumindest in der Anfangszeit die Orte meiden, die er früher besucht hatte. Er hatte keine Lust auf die Nasen im Blue Tomato, in der Blue Box und all den anderen Lokalen. Er würde sich auch neue Ärzt*innen suchen und jedenfalls eine Wohnung in einem anderen Bezirk. Nicht Transdanubien, aber weit weg von Ottakring. Und wenn ihn jemand zufällig auf der Straße erkennen würde, hatte er sich eine detaillierte Geschichte zurechtgelegt. Eigentlich war sie geklaut von einem 15
ehemaligen israelischen Elitesoldaten, mit dem er eine Nacht durchgesoffen hatte, nachdem er ihm ein Grundstück verkauft hatte. Dieser hatte von seinem Trip nach Goa erzählt, nachdem er den Militärdienst quittiert hatte – von seinen exzessiven Erfahrungen mit halluzinogenen Substanzen wie Pilzen oder LSD, dazu Ecstasy, Kokain und dem allgegenwärtigen Charas, dem indischen Haschisch, das zwanzigmal stärker als israelisches Haschisch war. Fast ein Jahr lang war der Soldat in Goa geblieben und denen dankbar gewesen, die ihn dann zurückgeholt und ihn therapeutisch unterstützt hatten. „In Israel passen die Leute aufeinander auf, auch wenn sie im Ausland stranden“, hatte er gemeint, was Frank gut in Erinnerung geblieben war. Das war eine gute Geschichte für Frank. Vier Jahre in Goa, viele Drogen, da würde niemand nachfragen, kennst du diesen und jenen Ort, diese Bar oder jenen Strand. Er würde sagen, er erinnere sich kaum an etwas, und niemand würde das bezweifeln. „Was sagen Sie zum Frauentaxi?“ Der Taxifahrer verstellte etwas den Rückspiegel, um Frank besser sehen zu können. „Wir haben am Anfang sehr gelacht, meine Kollegen und ich, und der Chef hat gesagt, die werden schnell wieder verschwinden, aber sie sind sehr gut ihm Geschäft, glaub ich, und meine Frau fährt auch lieber mit denen, wenn ich nicht im Dienst bin. Zwei meiner Kolleginnen von früher fahren jetzt auch dort. Jetzt haben wir gar keine Frauen mehr, das ist echt ein Nachteil.“ Frank bezog sein Zimmer an der „Waterfront“, wie es ihm Prospekt der Hotelkette hieß, öffnete das Fenster und starrte durch den Novembernieselregen auf die langsam vorbeifließende Donau. Was mach ich hier? Er dachte an Ioanna und musste weinen. Er klappte den Laptop auf und schrieb ein E-Mail an Magda. 16
„Liebe Magda. Ich hätte nicht auf dich hören sollen, aber es ist meine Schuld. Ich komm übermorgen nach Wien, ein Häuflein Elend. Können wir uns am Abend sehen?“ Und an Ioanna schrieb er: „I miss u, honey, please forgive me, Frankharald“.
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Frank wachte erst gegen elf auf, hängte das „Do not disturb“Schild vor die Tür und checkte seine E-Mails. Ioanna hatte nicht geschrieben und Magda bloß: „SMS me nach der Landung“. Er fühlte sich völlig ignoriert, zog die Vorhänge zu und schlief weiter bis kurz vor zwei. Das Zimmer verließ er auch nachher nicht, er sah sich nicht in der Lage und auch keinen triftigen Grund, dies zu tun. Die 110.000 Euro waren im Hotelsafe sicher, und solange er mit den Papieren von Harald Jenninger herumlief, konnte er kein Konto eröffnen. Um wieder amtlich Frank zu werden, brauchte er vor dem Passamt zwei Zeug*innen. Magda hatte ihm versprochen, dies alles mit ihm zu checken. Vielleicht hatte sie ja doch ein bisschen ein schlechtes Gewissen? Frank ließ sich ein wenig aufregendes Wiener Schnitzel auf sein Zimmer bringen, trank zwei Bier aus der Minibar und legte sich wieder ins Bett. Der Nieselregen hatte nicht nachgelassen. „Frank, na endlich! Lass dich umarmen, hast du nicht mehr Gepäck dabei?“ Das Geld hatte er im Hotelsafe gelassen und das Zimmer für eine Woche im Voraus bezahlt, bevor er sich auf den Weg zu Magda gemacht hatte. Er wollte sich nicht komplett dem Wohlwollen von Magda ausliefern, sondern notfalls auch alleine zurechtkommen. Wie selbstverständlich stellte Magda Frank neben dem Kaffee separat ein Kännchen Milch hin; ein Lichtblick, 18
eine erste klare Erinnerung daran, dass das Leben als Frank auch früher schon seine Reize gehabt hatte. „Bist du mir sehr böse?“ Magda legte Frank die Hand auf die Schulter und ließ sie dort liegen, bis er zu reden anfing. „Vergiss es, Magda. Du hast ja nicht gewusst, was für Ioanna wichtig ist, und das Drama ist, dass ich es völlig falsch eingeschätzt habe. Diese Scheiß-Identitäts-Geschichte! Ist es nicht egal, wer man* ist? Kommt es nicht immer darauf an, was man* tut? Wir hatten eine wunderbare Zeit miteinander! Weißt du, dass Ioanna die erste ernsthafte Beziehung in meinem Leben war? Und jetzt setzt sie mich vor die Tür, weil ich aus Österreich geflüchtet bin und es ihr nicht erzählt hab.“ „Tust du Ioanna damit nicht ein wenig Unrecht, Frank? Für sie waren halt Vertrauen und Offenheit anscheinend die wichtigste Grundlage für eure Beziehung. Wichtiger als konkrete Pläne oder Sex oder so. Vielleicht ist für sie das alles ohne Vertrauen gar nicht vorstellbar.“ „Du kennst sie ja gar nicht! Woher nimmst du jetzt schon wieder die Sicherheit, alles einschätzen zu können!“ „Du hast Recht, Frank, entschuldige. Aber vergrab dich jetzt nicht in Selbstmitleid. Ich helfe dir, hier ein neues, interessantes Leben aufzubauen, und vielleicht ist das dann die Basis dafür, dass Ioanna dich wieder haben will.“ „Das glaubst du doch selbst nicht!“ „Ich halte es nicht für wahrscheinlich, aber den alten Frank gibt’s nicht mehr, Harald gibt’s nicht mehr, jetzt musst du dich halt als Frank neu definieren. Man* kann sowieso nie zweimal in denselben Fluss steigen, egal, wie man* heißt. Und glaub mir, nichts ist weniger sexy als Selbstmitleid.“ 19
„Hilfst du mir?“ „Ma, diesen Leidenston kannst du dir echt abgewöhnen. Sicher helfe ich dir, du bist ein Freund! Du kannst die ersten Tage bei mir wohnen, ich helfe dir, die Papiere zu checken, und wenn du dein Geld wo parken willst, sagt dir unsere Steuerberaterin, wie das am unauffälligsten gehen kann. Ach ja, ich hab noch was für dich.“ Magda holte aus dem Nebenzimmer einen Schuhkarton und überreichte ihn Frank mit einem triumphierenden Gesichtsausdruck. „Ich hab vom alten Frank noch Einiges gerettet.“ In der Kiste waren alte Fotos, einige Shoppingcards, die Geburtsurkunde von Frank und sein Führerschein, den er damals bei seiner Flucht dem Brief an Magda, in dem er sie gebeten hatte, seine Wiener Identität abzuwickeln, beigelegt hatte. Er nahm die Geburtsurkunde aus der Kiste, tat so, als würde er das Dokument auf seine Echtheit prüfen, und meinte dann trocken: „Das ist mal ein Anfang!“ Magda schlug vor, Frank könne sich vorübergehend bei ihr in der Wohnung als Mitbewohner anmelden. Mit Meldezettel, Führerschein und Geburtsurkunde wäre es ein Leichtes, sich wieder einen Reisepass zu besorgen. Magdas Souveränität wirkte beruhigend auf Frank. Erstmals seit der Landung hatte er das Gefühl, wieder Boden unter den Füßen zu bekommen. Er kramte in seinem Rucksack und stellte die Flasche Ouzo vor Magda auf den Tisch. „Für dich, danke für alles!“ „Veto?“ „Der soll angeblich der Beste sein.“ Magda nahm Frank in den Arm. „Du bist auch einer der Besten, Frank, und irgendeinen positiven 20
Reiz wird es für dich schon gegeben haben, jetzt wieder Frank sein zu wollen, auch wenn du das jetzt noch nicht so sehen kannst.“ Magda bot Frank an, auf der Couch zu übernachten, er zog es aber vor, zurück ins Hotel zu fahren. Den Ouzo würden sie zu zweit trinken, sobald Frank wieder lachen konnte. Mit der Schuhschachtel seiner früheren Identität unter dem Arm betrat er die Lobby des Hotels und fragte spaßhalber an der Rezeption, ob es irgendwelche Nachrichten für ihn gäbe. „Tut mir leid, Herr Jenninger.“ Ja, ja, Jenninger. Good-bye. Am nächsten Tag wachte Frank erstaunlich gut gelaunt auf, und er schaffte es sogar, rechtzeitig in der Frühstückslounge zu sein. Ein dichtes Programm zur Reimplementierung von Frank Smutny stand ihm bevor. Zuerst spazierte er ins nahe gelegene Einkaufszentrum, um sich Winterklamotten zu besorgen; keine feinen Sachen, sondern eine Art Erstversorgung, mit der er bei Amtsterminen nicht auffallen würde. Sein erster Weg führte ihn aufs Meldeamt, wo er den von Magda unterschriebenen Meldezettel vorlegte, der ihn als ihren Untermieter auswies. Die Beamtin runzelte die Stirn. „Wo waren Sie die letzten vier Jahre?“ Die normale Reaktion wäre wohl „Ist das so wichtig?“ gewesen. Frank wusste aber, dass dies in der Regel nicht als selbstbewusste, aufgeklärte, staatsbürgerliche Haltung wahrgenommen werden würde, sondern als Renitenz, und diese würde seinen Aufenthalt im Amt unnötig verlängern. „Ich war viel unterwegs.“ Die Beamtin musterte ihn, konnte aber offensichtlich nichts Verdächtiges an ihm erkennen. 21
„Ich hab da eine Zwangsabmeldung aus einer Gemeindewohnung als letzten Eintrag. Hatten Sie keinen ordentlichen Wohnsitz in der Zwischenzeit?“ „Ich war im Ausland.“ „Sie wissen schon, dass Sie sich bei der Botschaft melden müssen, wenn Sie längere Zeit weg sind?“ Sie erwartete darauf keine Antwort. „So, Ihre Anmeldung ist jetzt bestätigt, es könnte aber sein, dass Sie noch eine Anzeige bekommen wegen Verstoß gegen das Meldegesetz. Das entscheide aber nicht ich. Und denken Sie künftig dran. Immer melden! Auch im Ausland.“ Das Passamt lag im selben Gebäude, nur einen Stock höher. Der junge Mann am Schalter war erstaunlich kooperativ. Er fragte Frank, ob er den Reisepass im Inland oder Ausland verloren habe, ließ ihn aber nicht lange nach der opportunsten Antwort suchen. „Sicher im Inland, sonst wären Sie ja illegal eingereist, und so sehen Sie nicht aus.“ Er lachte schallend, stand auf und besprühte seinen beeindruckenden Elefantenfuß mit Wasser. Beinahe zärtlich nahm er zwei Blätter kurz zwischen die Finger, setzte sich dann wieder und meinte: „Meldezettel, Lichtbildausweis, Geburtsurkunde, alles perfekt. Sie kriegen Ihren neuen Reisepass binnen zwei Wochen per Post an Ihre Meldeadresse. Wenn nicht, rufen Sie mich an.“ „Fühlen Sie sich wohl hier im Amt?“ Der Mann stutzte kurz. Solche Fragen stellten sonst nur Vorgesetzte, und da war Vorsicht und Misstrauen geboten. „Wohlfühlen wird überschätzt, Herr Smutny, glauben Sie mir!“ Er lachte wieder schallend. „Schönen Tag noch.“ 22
„Meine Lieblingsnachbarin Renee will dich kennenlernen. Sie hat uns zum Essen eingeladen. Heute um 20 Uhr. Kommst du? Magda.“ „4sure.“ Als letzten Akt seines formalen Comebacks galt es, ein Bankkonto zu eröffnen. Schräg gegenüber dem Amtshaus war eine Filiale der Volksbank. Warum nicht? „Können meine Finanzen genauso flexibel sein wie ich“ stand auf einem Plakat, der Jugend wurde ein „Festival-Schlafsack“ versprochen, wenn sie einen JugendBausparvertrag abschloss, und die Vierteljahres-Zeitschrift nannte sich „Geld&Leben“. Was mussten das für traurige Kreativjobs sein, deren Inhalt es war, sich dermaßen Dümmliches einfallen lassen zu müssen? Das Konto war schnell eröffnet. Frank zahlte gleich mal zweitausend Euro ein und bat um einen Beratungstermin zur Veranlagung einer größeren Summe. Der Schalterbeamte bekam leuchtende Augen und meinte, dass „unsere Frau Klein“ ihn gerne am darauffolgenden Montag über alle Möglichkeiten informieren würde. Gedrucktes Informationsmaterial gebe es dazu leider nicht. „Die Finanzwelt ist so schnelllebig und die Konkurrenz schläft nicht, aber das wissen Sie sicher selbst am besten, Herr Smutny.“ Das wusste Frank, sagte es aber nicht.
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