Kurto Wendt ich rannte aus zitronen
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Kurto_Wendt
Ich rannte aus zitronen Roman
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Wir bedanken uns für die Förderungen durch die Fakultätsvertretung für Geistes- und Kulturwissenschaften an der Universität Wien und die Studienvertretung Politikwissenschaft an der Universität Wien. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung durch das Amt der Oö. Landesregierung, Direktion Kultur.
Autor und Verlag danken dem Milena Verlag für die freundliche Genehmigung zum Wiederabdruck des ersten Kapitels, das bereits veröffentlicht wurde in: Wendt, Kurto: Sie sprechen mit Jean Améry, was kann ich für Sie tun? Wien: Milena 2011, S. 5-6. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © Zaglossus e. U., Wien, 2013 1. Auflage 2013 Alle Rechte vorbehalten Umschlagfoto: flickr/mrhayata Autorenfoto: © corn, www.corn.at Lektorat: Silvia Stoller Druck: Prime Rate Kft., Budapest Printed in Hungary ISBN 978-3-902902-03-0 Zaglossus e. U. Vereinsgasse 33/12, A-1020 Wien E-Mail: info@zaglossus.eu www.zaglossus.eu
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1 Liebe Magda! Ich hoffe, ihr habt euch nach meinem Verschwinden keine zu großen Sorgen gemacht. Die beiliegenden Fotos zeigen jedenfalls, dass es mir gut geht. Ich habe mich verändert, örtlich wie namentlich, es gibt keinen Frank mehr. Ich schreibe dir, weil ich außer der zweiten Frau meines verstorbenen Onkels Karl, Tante Luise, keine Verwandten habe und ich dich für die fähigste Person in meiner früheren Umgebung halte, Frank abzuwickeln. Dem Brief lege ich meine Sozialversicherungskarte, meinen Führerschein, meine Bankomatkarte und einige PINs und TANs meines Kontos bei und bitte dich, den Mietvertrag meiner Gemeindewohnung mit beiliegender Vollmacht zu kündigen. Die Schlüssel sind für meine Wohnung, hol dir einfach, was du brauchen kannst, und verschenk den Rest. Auf meinem Konto sind noch mehr als 600 Euro, die du gerne als Spesen verwenden kannst. Wenn was übrig bleibt, verschenk es an Bettler*innen in der U-Bahn. Kündige bitte mein Falter-Abo und meinen Internetanschluss. Wenn du bei mir bist, schau bitte in der Blauen Tomate vorbei, denen schulde ich noch 25 Euro, wäre nett, wenn du das abgleichen könntest, wenn nicht, auch egal. Ach ja, meinem Nachbarn Franz, der in der Wohnung quer gegenüber wohnt, schieb bitte einen Zettel unter der Tür durch, auf dem steht, dass es mir gut geht und dass ich ihn vermisse. 5
Dir wollte ich noch sagen, was ich als Frank nicht gewagt habe: Schau, dass du in diesem Telefonladen nicht versauerst, du hast mehr drauf! Eine Affäre mit dir hatte ich vor Wochen auch angedacht (grins). Damals wollte ich keine mögliche Abfuhr riskieren, und dann haben sich die Ereignisse relativ schnell überschlagen. Ich mag dich. Ciao, Frank PS: Die Opern-Premieren-Karten gehören natürlich dir. Du wirst eine würdige Begleitung finden, da bin ich sicher.
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2 Sie hatte ihm das nicht zugetraut. Einfach abhauen. In die USA. Magda hatte Frank für einen gebildeten, larmoyanten Kerl gehalten, der bis an sein Lebensende kaum mehr etwas verändern würde. Liebenswürdig und nett, aber äußerst antriebslos und passiv, dieser Typ Mann, der fest daran glaubte, damit auch noch cool zu sein. Magda hatte sich schon zweimal in solche Exemplare verliebt und sie, jeweils knapp bevor die inszenierte oder echte Depression auf sie übergriff, wieder verlassen. Dann lieber allein. Hatte sie sich in Frank getäuscht? Magda wollte immer schon mal in die USA. Chicago, New Orleans, San Francisco! Mit wildfremden Menschen Nächte durchtanzen und dann abhängen. Während ihrer Uni-Zeit fehlte ihr das Geld und jetzt der Mut. Hätte er sie gefragt, ob sie mitginge, hätte sie ihn ausgelacht und es nicht ernst genommen. Fast schämte sie sich dafür, dass Frank es geschafft hatte, in Philadelphia zu sein, und sie immer noch Desktop-Managerin bei TMobile in Wien war. Vielleicht gab es in seiner Wohnung konkrete Hinweise auf sein neues Leben. Sie fühlte sich auch geschmeichelt, dass er sie damit beauftragt hatte, seine Wiener Identität abzuwickeln, und war gespannt, wie die anderen darauf reagieren würden. Um zehn vor acht war sie im Office. Es war wichtig, dass niedere und mittlere Führungskräfte kurz vor den anderen im Büro waren. Das hatte man ihnen oft genug nahegelegt, wegen der Vorbildwirkung und Motivation. Nur höhere Führungskräfte konnten kommen und gehen, wann sie wollten, und auch mürrisch sein. Implizit gab es für niedere und mittlere Führungskräfte das 7
Versprechen, irgendwann ganz nach oben zu kommen. Magda war schon über vier Jahre in dem Laden, und niemals war eine frei gewordene Management-Position von unten nachbesetzt worden. Immer war rechtzeitig jemand von außen gekommen, und all die Mittleren hatten weiterhin Vorbilder für die Unteren abgeben müssen, die es da schon leichter hatten. Alle überqualifiziert, viele von ihnen mit abgeschlossenem Studium, und irgendwie in innerer Emigration. Niemand konnte sagen, was sie so dachten. Sie erledigten ihre Arbeit und lebten woanders. Ihnen wurde kaum etwas versprochen, und an das Wenige, das ihnen versprochen wurde, glaubten sie nicht. Magda spürte immer mehr Unbehagen, diese immer größer werdende Gruppe an Individuen zur Arbeit einzuteilen. Sie ließen sie spüren, dass sie kein Vertrauen zu ihr hatten und sie für den unteren Zipfel des Establishments hielten. Dabei waren sie kultiviert und höflich, ganz so, als würde ein geheimer großer Coup geplant. Frank hatte ihr mehrmals geraten, sie solle weg von hier. Und jetzt, wo er einfach abgetaucht war, bekamen seine Worte zusätzlich Gewicht. Aber was sollte sie tun? Mit fünfunddreißig und einem abgeschlossenen Kunstgeschichte-Studium hatte sie seit fast zehn Jahren keine Kontakte mehr zu all den Artsy-Fartsys. Wer sollte ihr da einen sinnvollen Job geben? Magda bemühte sich, freundlich zu den Agents zu bleiben, und auch zu Frau Zobel-Riem, die wie ein Gummiball durch das Office hüpfte, um wirklich allen mitzuteilen, dass ihr Versetzungsgesuch nach München bewilligt worden war. Kurz vor zwölf gönnte Magda sich einen großen Mocca in der Kantine und gesellte sich zu Ronnie, dem Leiter der IT-Abteilung. „Na?“ Immerhin eine Begrüßung, wenn auch kurz. 8
„Was tut sich, Ronnie-Bär?“ Magda signalisierte, dass sie an einem Pausengespräch interessiert war. „Ich kündige.“ Magda wartete auf nähere Erklärungen oder auf schallendes Gelächter. Es dauerte noch zwei oder drei Runden des Kaffeelöffels in der Tasse, bis sich der Zucker ganz aufgelöst hatte, dann schüttelte Ronnie den Löffel ab, legte ihn behutsam auf die Untertasse und ergänzte: „Du bist die Erste, die es erfährt.“ „Wieso? Du bist doch ein Star hier. Du verdienst sicher gut, und Doc Schneider hat vor niemand mehr Ehrfurcht als vor dir.“ „Was nützt das? Seit Jack weg ist, hat niemand mehr Feuer in diesem Laden, und selbst Leute wie dieser verrückte Frank haben es geschafft, einfach zu gehen.“ „Aber deine Arbeit macht dir doch Spaß, da kann dir niemand was vormachen!“ Ronnie lächelte bitter. „Ich programmiere, was die wollen, und das heißt, Kunden und auch alle, die hier arbeiten, zu überwachen. Was nützt mir das schönste Programm, wenn seine Anwendung nur Scheiße produziert?“ „Vielleicht sollten wir zusammen gehen?“ „Du?“ Ronnie lachte so laut, dass die Umstehenden schmunzelten, obwohl sie kein Wort verstanden hatten. „Von dir hab ich noch nie ein klagendes Wort gehört. Da würden sie aus allen Wolken fallen. Du bist die Seele dieses Ladens!“ Es war erstaunlich, dass Freundlichkeiten im beruflichen Umfeld meist erst dann ausgesprochen wurden, wenn es dafür schon zu spät war. 9
„Ich weiß nicht, ob ich es schaffe, aber mit dir gemeinsam geht es leichter. Magst du Opern?“ Ronnie schien sehr erstaunt, welche Vertrautheit seine Ankündigung, zu gehen, auslöste. „Warum nicht?“ „Ich hab von Frank zwei Premierenkarten für ‚Tosca‘ am achtzehnten Oktober, also in acht Wochen. Lass uns doch diesen Tag als letzten Arbeitstag absolvieren und anschließend in die Oper gehen. Wie klingt das?“ „Ich wollte nächste Woche abhauen.“ „Ronnie!“ Magda war klar, dass ihr eine kurzfristige Kündigung zu viel wäre und dass sie es ohne Ronnie wahrscheinlich wieder nicht machen würde. Er war ihre Ausstiegschance. „Bitte!“ „‚Tosca‘? Ist das cool?“ „Extrem!“ Ronnie schien zu überlegen. An seiner Mimik war keine Richtung zu erkennen. „Na, dann machen wir es so!“ Magda fiel ihm spontan um den Hals, was den Hünen in leichte Verlegenheit brachte und den anderen begrenzt Stoff für Gerüchte lieferte. „Offiziell machen wir es aber erst Ende September, okay? Mit einem Aushang in der Kantine. Die Geschäftsführung soll es als letzte erfahren.“ Magda war richtig beschwingt. All die Last, alternativlos zu leben, schien abzufallen. Die Kündigung als Inszenierung gefiel ihr doch viel besser, als einfach wegzubleiben. Und dann mit Ronnie gemeinsam! Er war wirklich ein Star auf seinem Gebiet. Der Star und die Seele, da blieb kaum etwas übrig. 10
Magda hatte die Pause um fünf Minuten überzogen, was bei ihr immer auffiel, da in ihrer Pausenzeit Frau Zobel-Riem ihre Arbeit machen musste, obwohl diese eine Art Vorgesetzte Magdas war. Verflogen war Magdas Wunsch, dieser peinlichen Person mit ihrem „In München hab ich ein eigenes Büro und bin nicht mehr vom Kommen und Gehen der anderen abhängig!“ ins Gesicht springen zu müssen. „Da werden Sie es richtig schön haben, Frau Zobel-Riem, herzlichen Glückwunsch!“
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3 Sie hatte kein gutes Gefühl beim Betreten von Franks Wohnung. Sie kannte ihn kaum. Vielleicht war der angebliche Brief aus den USA nur ein Scherz gewesen. Oder Frank hatte in seiner Wohnung Selbstmord begangen und wollte, dass sie ihn fand. Doch es war alles so, wie Frank es beschrieben hatte. Der Sicherungskasten befand sich exakt an der angegebenen Stelle, und der Strom war abgeschaltet. Keine vergammelten Sachen im Kühlschrank, kein unabgewaschenes Geschirr. Frank schien ein ordentlicher Mensch zu sein, und nichts deutete darauf hin, dass er Hals über Kopf aufgebrochen war. Sie suchte nach einem Hinweis, den er ihr hinterlassen haben könnte, wie bei einer Schnitzeljagd. Leider nichts. Nicht für sie und auch nicht für jemand anders. Die Wohnung wirkte verlassen, wie vor einem längeren Urlaub. Pflanzen hatte Frank keine, und bezüglich nachbarschaftlichen Kontakts hatte sie nur Anweisung, Franz einen Grußzettel unter der Tür durchzuschieben. Der Falter lag aufgestapelt neben dem Schreibtisch, ungefähr drei Jahrgänge, offenbar vollständig. Das erinnerte sie an ihre Aufgaben; sie wollte mit etwas Leichtem beginnen. Mehr als fünf Minuten musste sie sich das Gelabere von der Tonbandstimme Hermes Phettbergs anhören, bevor im Callcenter der Stadtzeitung abgehoben wurde. „Sie sprechen mit Sandra Wurm, was kann ich für Sie tun?“ „Ein Freund von mir ist ausgewandert und hätte gerne das Falter-Abo gekündigt. Frank Smutny. Abo-Nummer vier-eins-einsneun-sechs-fünf.“ 12
„Sind Sie seine Lebensgefährtin?“ Im selben Moment, in dem ihr ein ehrliches „Nein, nur eine Freundin“ rausrutschte, war Magda klar, einen unverzeihlichen Fehler begangen zu haben. „Tut mir leid, dann kann ich nichts machen“, zwitscherte die junge Frau, die sich Wurm nannte. „Hören Sie, wenn ich Sie belogen hätte, wäre es gegangen. Ich arbeite selber in einem Callcenter. Stellen Sie das Abo einfach ein, dann sparen Sie noch Postgebühren für ein halbes Jahr, und die Zustelladresse wird es bald auch nicht mehr geben, dann kommt die Zeitung einfach wieder zurück. Das können Sie doch nicht wollen?“ „Es tut mir leid, ich habe keinen Spielraum.“ Unsinnige Worthülsen, die im Callcenter internalisiert und nicht mehr hinterfragt wurden und andernorts rasend machten. Magda legte auf. Sie wollte es per E-Mail versuchen, vielleicht sogar hinlatschen, aber nicht heute. Sie suchte noch nach einem leeren Blatt Papier und fand eine Postkarte mit dem Text „Heute wegen gestern geschlossen“. Sie schmunzelte und schrieb auf die Rückseite: „Lieber Franz, Ihrem Nachbarn Frank geht es gut, er vermisst Sie.“ Sie zögerte, den Brief zu signieren. Franz würde nicht wissen, wer sie war, Frank hatte sicher nie von ihr erzählt, zu beiläufig war ihre Beziehung gewesen. Aber wenn sie nicht unterzeichnete, würde er vielleicht lange grübeln, von wem die Nachricht stammte. Sie entschied sich für die Ergänzung: „Er ist ausgewandert. Magda, eine Freundin.“
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Franks Bankomatcode war korrekt. Magda hatte daran auch nicht gezweifelt. Sie hob hundertfünfzig Euro ab, suchte im Netz die Adresse des Blue Tomato und beschloss, die zwei Kilometer dorthin zu Fuß zu gehen. Sie bestellte an der Bar ein kleines Bier, trank die Hälfte davon und fragte die Kellnerin, ob sie einen Frank kenne. Damit löste sie bei den beiden anderen an der Bar offensichtlich Assoziationen aus. Sie grinsten wissend. „Den Agenten mit seinem amerikanischen Freund?“ „Klar kennen wir ihn, aber er war schon länger nicht mehr da. Ist wohl mit seinem schönen Freund abgezogen in eine andere Welt.“ Magda war nicht klar, ob dies homophob gemeint war, sie entschied sich dafür und wollte nicht mehr über Frank preisgeben. „Er ist länger weg und schuldet euch noch fünfundzwanzig Euro. Er hat mich gebeten, das für ihn zu begleichen.“ Sie steckte der Kellnerin, die von den anderen Gerti genannt wurde, dreißig Euro in die Hand und vermied weiteren Blickkontakt mit den Gästen. „Der Rest ist für das Bier.“ Gerti zeigte sich überrascht. „Weißt du mehr über ihn? Ein bisschen eigenbrötlerisch mit einigen Macken war er schon ... eigentlich ein feiner Kerl.“ „Nein, wir haben uns kaum gekannt.“ Magda wollte nicht mehr über Frank sprechen, sie hatte ihn selbst unterschätzt, und hier würde das Bild über ihn um keine ernstzunehmende Facette bereichert werden. Dabei war sie neugierig, wer dieser amerikanische Freund sein konnte, Frank hatte jedenfalls nie von ihm erzählt, und schwul war Frank sicher nicht, darauf würde sie wetten. Warum hatte sie nie mit ihm über sein Leben gesprochen? Ärgerlich. Sehr. 14
Mit ihren Eltern hatte Magda einen Deal. Jeden ersten Sonntag im Monat besuchte sie sie vom obligatorischen Mittagessen bis zum fakultativen Tatort. Ein Jour fixe der besonderen Art. Im Gegenzug erhielt sie seither keine Vorwürfe mehr, dass sie zu selten anrufe. Früher begann praktisch jeder Anruf mit der Grußformel „Ja Magda! Du meldest dich ja überhaupt nie“, falls ihre Mutter am Apparat war. Der Vater hatte oft noch den Spruch „Wir wollten schon eine Vermisstenanzeige aufgeben“ parat, egal ob das letzte Gespräch zwei Tage oder zwei Wochen zurücklag. Entscheidend war wohl die gleichmäßige Verbreitung schlechten Gewissens. Seit der Jour-fixe-Regel war alles ruhig, und Magda freute sich sogar auf die ausführlichen Familiensonntage. „Ich kündige.“ Sie wollte nicht bis nach dem Essen warten. „Hast du dir das gut überlegt, Kind?“ „Mama!“ Ihre Mutter war immer dagegen gewesen, dass sie studierte, und gegen Kunstgeschichte sowieso. Als Magda dann nach dem Studium den Callcenter-Job angenommen hatte, hatte sie nur gefragt: „Und dafür haben wir dich studieren lassen?“ Alle drei kauten Hühnerbrust, das Essen war ein guter Moment für große Themen. „Weißt du schon, was du machen wirst?“ Der Vater wusste genau, dass Magda keine Ahnung hatte; seine Art der Abwertung versteckte sich hinter einer planerischen Frage. Magda war klar, dass sie noch zwei bis drei Wortmeldungen der beiden abwarten musste, um wieder, ohne sich aufzuregen, etwas Sinnvolles sagen zu können. „Du hättest schon vor fünf Jahren unseren Rat annehmen und dir einen ordentlichen Posten suchen sollen.“ 15
Beide Eltern waren seit Beginn ihrer Berufslaufbahn bei der Gemeinde Wien beschäftigt, die Mutter bei der Bestattung Wien, der Vater bei den Wiener Linien. Sie waren beide Mitglieder der SPÖ, lebten in der Gemeindewohnung, in der Magda schon geboren worden war, und für beide war es allein eine mittlere Katastrophe, dass ihre jeweiligen Dienstgeber*innen-Organisationen aus der direkten Gemeindeverwaltung ausgelagert worden und damit keine direkten Magistratsabteilungen mehr waren. Der Vater wollte damals als Protest gegen die Auslagerung aus der Partei austreten, wurde von der Mutter aber mit dem bestechenden Argument „Austreten hat noch nie wem was gebracht!“ davon abgehalten. Beide waren Beamt*innen und unkündbar, und daran änderte auch die Auslagerung nichts. „Posten“ war nicht nur der veraltete Begriff für Beruf, ein Posten war schon etwas ganz anderes als ein Job. Einen Posten bei der Gemeinde Wien zu haben war eine quasi militärische Aufgabe, eine moralische; man arbeitete dort, um historische Werte zu verteidigen, um Ordnungen aller Art aufrechtzuerhalten. Der Posten machte dich zum Teil eines Ganzen, der Job kaufte dir bloß Lebenszeit ab. Ihre Eltern waren stolz auf ihre Posten und auf die Partei, die ihnen die Posten verschafft hatte. Die Auslagerung war nur eine Nuance, machte aus den Posten eben Vorposten, genauso wichtig und verantwortungsvoll. „Wenn du willst, dass deine Mutter oder ich was für dich tun, dann musst du das jetzt sagen. Nächstes Jahr gehen wir in Pension, dann ist es zu spät.“ Beide waren keine Entscheidungsträger*innen in ihren Bereichen, aber Magda zweifelte nicht daran, dass ihre 35 Jahre der Treue einen Einfluss auf das Personalwesen der Stadt Wien haben könnten. 16
„Ihr könnt mir ja beide helfen, dann heuere ich als Straßenbahnerin an und fahr mit dem 71er jeden Tag zum Zentralfriedhof.“ „Wann wirst du endlich erwachsen, dein Vater hat das ernst gemeint!“ Das war Magda längst klar, es war immer superernst, wenn die beiden sich gegenseitig „dein Vater“ und „deine Mutter“ nannten. Vor fünf Jahren, als sie noch gedacht hatte, dass ihr bei T-Mobile mittelfristig etwas anderes geboten würde, war es für Magda noch ein absolutes No-Go gewesen, sich „berufliche Hilfestellung“ vonseiten ihrer Eltern angedeihen zu lassen. Es hätte sich damals angefühlt wie die freiwillige lebenslange Ausweitung der kindlichen Abhängigkeit. Sie wollte ihren Eltern keinen zusätzlichen Einblick in ihr Leben gönnen. Jetzt nach den Jahren der pseudoaufregenden Langeweile im Callcenter hatte sich Magdas Zugang zur Arbeit verändert. Die anfangs in Ansätzen vorhandenen Entfaltungsfantasien waren verdampft und einer Ernüchterung gewichen, die sich nicht einmal schlecht anfühlte. Künftig würde sie arbeiten, um Geld zu verdienen, nicht mehr und nicht weniger. Sich nicht mehr hineinziehen lassen, nett und freundlich wollte sie sein, klar, warum auch nicht, aber nicht mehr die Seele des Unternehmens sein. Da war es dann auch schon egal, ob sie den Job über Intervention ihrer Eltern vermittelt bekäme. Mittlerweile fragte sie sich, warum nicht? Was hatte sie zu verlieren? Die beiden freuten sich, wenn sie sich in ihrem Bereich für sie engagieren konnten. „Ich weiß zwar nicht, was du mit Kunstgeschichte bei uns machen kannst ...“, musste die Mutter noch mal ihre Kardinalskritik drüberlegen. Magda verbiss sich die Antwort „Kränze binden und beschriften!“. Sie wollte nicht so werden wie ihre Mutter. 17
„Ich wäre eh viel lieber bei den Wiener Linien!“ Diese ehrliche Antwort ließ ihren Vater frohlocken, für Momente waren atmosphärische Risse im elterlichen Bollwerk zu spüren. „Ich werd gleich morgen mit dem Ingenieur Swoboda sprechen, der ist mir noch was schuldig!“ Es musste sich dabei um eine Führungskraft im Alter ihres Vaters handeln, denn der Ingenieur war in modernen Entscheidungsetagen nicht mehr zu finden. Magda verblüffte auch die öfter einmal dahingesagte Floskel, „jemand wäre einem oder einer noch was schuldig“, ohne den Gegenstand dieser Schuld zu nennen. Dabei ging es nie um reale Tauschschuld, mehr um ein irreales Geschäft oder auch nur um eine starke Geste. Jedenfalls würde ihr Vater Nachfragen dazu nicht beantworten, und eigentlich interessierte sich Magda nicht wirklich dafür. „Wenn das was wird, bin ich dir was schuldig“, meinte sie fast schon wieder gut gelaunt und kniff dabei ihren Vater in die Wange. „Dafür wasche ich heute das Geschirr ab.“
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