Markus Ruf Das Loch in der Musik
zaglossus
1
2
Markus Ruf
Das Loch in der Musik Roman
zaglossus
3
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung durch die Kulturabteilung (Magistratsabteilung 7) der Stadt Wien.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © Zaglossus e. U., Wien, 2015 1. Auflage 2015 Alle Rechte vorbehalten Umschlag: shutterstuck.com/Pavel Reband Druck: Prime Rate Kft., Budapest Printed in Hungary ISBN 978-3-902902-30-6 Zaglossus e. U. Vereinsgasse 33/12+25, A-1020 Wien E-Mail: info@zaglossus.eu www.zaglossus.eu
4
London
5
Die Grenzen der Liebe Ich blättere mich durch die CD-Neuheiten des RoughTrade-Stores im Osten Londons. Es ist Sommer und extrem heiß. Zwei traurige Klavierakkorde flirren in der Luft. Eine brüchige Stimme singt: „There’s a limit to your love.“ Wieder das Klavier. „Your love, your love, your love …“ Dann ein ungewöhnlich langer Moment der Stille. Ein Loch in der Musik, durch das alle Ungewissheiten dieser Welt in mich hineinfallen. Ums Eck verwandeln Curry-Imbisse die Brick Lane in einen Dunstabzugsschacht. In der anderen Richtung machen sich Cafés und Boutiquen breit, die mit großem Designaufwand einfach und authentisch aussehen wollen. Sehr wahrscheinlich, dass die Bangladeshis die gut gemeinte, aber dennoch feindliche Übernahme nicht überleben werden. Nicht hier. Vor dem Rough-Trade-Store versammeln sich jugendliche Rockstar-Lookalikes. Ihre dünnen Beine stecken in schwarzen Achtzigerjahre-Röhrenjeans. Die Pete-Doherty-Hüte sitzen schief über Stirnfransen, die in die Augen hängen. Die Kiddos schmollen zweifach: Einmal, weil das ihre Vorbilder auch so machen. Noch einmal, weil 7
keine Paparazzi da sind, die sie beim Schmollen fotografieren. Was ist das für eine Subkultur?, habe ich überlegt, als ich an ihnen vorbeigegangen bin. Retro-Post-Punks? Keine Ahnung. Fest steht nur, dass ich mal wieder nicht dazugehöre. Ich halte eine CD in der Hand, die ich Sekunden später fallen lassen werde. Vor Schreck, ausgelöst durch die Explosion. Die Hülle zerschellt auf dem Boden. Die CD rollt unter zwei Regalreihen durch und bleibt schließlich im Staub liegen. Ich habe diese zwei bis drei Sekunden als einen Moment der Stille in Erinnerung. Unwirklich und losgelöst von der Umgebung. Alle Bewegungen wie in Zeitlupe. Es ist nur das Rollen der CD zu hören. Überdeutlich. Sie stößt gegen ein Regalbein, dreht sich zunächst wie ein Kreisel und fällt dann um. Ich bekomme ihren Aufdruck zu sehen. Er zeigt einen gezeichneten grauen Vogel, der auf weißem Hintergrund seine Flügel ausbreitet. Dann kommen in der Erinnerung Umgebungsgeräusche dazu. Gedämpft und leise, weit weg im Hintergrund. Ich höre Schritte, höre Menschen, die ängstlich miteinander reden. Auch Schreie dringen zu mir durch. Nachdem der erste Augenblick der Trance vorüber ist, sehe ich mich um. Mein Blick fällt auf einen Passbildautomaten. Er ist hier für Indie-Rock-Tourist*innen aus aller Welt aufgestellt worden, die darin Erinnerungsfotos schießen können. Schwarz-weiß und mit Rough-TradeLogo inklusive. 8
Ich mache einen Schritt auf den Automaten zu, ziehe den Vorhang beiseite und stolpere schutzsuchend hinein. Drinnen kauere ich mich auf den Boden. Dabei stoße ich auf etwas Weiches. Jemand sitzt auf dem Hocker. Ich schaue nach oben. Genau in diesem Augenblick knackt der Auslöser. Im Blitzlicht sehe ich ein blondes Mädchen. Ihr Blick brennt sich in mich ein. Er sagt: ‚Verpiss dich!‘ Während der zweite Blitz aufleuchtet, stößt sie mich weg. Sie klettert über mich nach draußen. Der Stoß ist so heftig, dass mein Kopf gegen eine Wand schlägt. Ich blute. Aber das merke ich erst später. An den dritten und vierten Blitz des Automaten kann ich mich nicht erinnern. Eine zweite Bombe explodiert. Weiter weg, wie ein Donner, der sich allmählich verzieht. Ich bleibe zunächst liegen. Langsam schaltet mein Bewusstsein wieder auf Scharf. Ich stehe auf. Keine*r im Shop scheint ernsthaft verletzt zu sein. Ich sehe nur kleine Wunden von den Glassplittern der Fenster- und Türscheiben. Erst jetzt nehme ich das Blut an meiner Stirn wahr. Schnell wische ich es mit der Hand weg. Meine Mütze hat zum Glück nichts abbekommen. Zufällig bemerke ich, wie die Fotos in den Entnahmeschlitz des Automaten fallen. Ich nehme sie an mich. Unauffällig verschwinden sie in einer Arschtasche meiner Jeans. Alles passiert wie von selbst. Im Normalzustand hätte ich mich nicht getraut, die Bilder einzustecken. Die Platte läuft immer noch. Klaviermusik. 9
„Let me see where she has gone.“ Glassplitter knirschen unter meinen Füßen. Mir zieht sich alles zusammen. Wie beim Quietschen von Kreide auf einer Schultafel. Niemand hält mich auf. Benebelt gehe ich durch die Gassen des Viertels. Sirenen heulen. Ich komme zu einer breiten Straße. Rechts eine große, moderne Moschee. Ich gehe weiter. Wie benommen. Gehe, um mich abzulenken. Oder nein, anders: Ich gehe. Punkt. Ohne Intention, ganz automatisch. Ein Bomben-Verdauungsspaziergang. Die Explosion hat nicht nur die Gedanken zersplittert. Sie hat sich auch in meinen Körper hineingefressen. Etwas fieses Kleines wurde freigesetzt, das sich nun in mir ausbreitet. Mir durch Mark und Bein geht. Das ist das richtige Bild: Die Explosion steckt mir in den Knochen. An einem Zeitschriftenstand kaufe ich eine Flasche Wasser. In den Schlagzeilen werden randalierende Jugendliche gedisst. Morgen wird sie die Öffentlichkeit auch noch als Bombenleger verdächtigen. Immer auf die Kleinen. Der Verkäufer schaut mich skeptisch an und zeigt auf mein Gesicht. In einer Glasscheibe des Zeitschriftenstandes sehe ich, dass ich das Blut beim Wegwischen auf meiner Stirn verteilt habe. Ich wasche das Gröbste mit dem Wasser weg. Mir fällt auf, dass ich eine ziemlich große Strecke zurückgelegt haben muss. Eine reine Wohngegend. Mietshäuser mit schmucklosen Balustraden, die Stockwerk für Stockwerk in die Wohnungen führen. Schön 10
anzusehen, aber nicht sehr einladend. Immer noch viele Passant*innen aus Bangladesch, Indien, Pakistan. Niemand scheint beunruhigt zu sein. Wahrscheinlich ist der Tatort zu weit entfernt. Ich setze mich auf eine Bank und hole das Foto, genauer, die vier Fotos, aus der Hosentasche. Die beiden unteren zeigen fast nichts. Zweimal der schwarze Hintergrund, leicht aufgeblitzt. Auf dem Bild rechts oben schiebt sich eine Jeansjacke vor die Linse. Das muss das blonde Mädchen sein, das sich an mir vorbei nach draußen drängt. Nur das erste Foto ist brauchbar. Verschwommen kauere ich neben der Blonden und schaue nach oben. Direkt in ihr Gesicht. Mein spärlicher Bartwuchs sticht scharf hervor. Der Rest verliert sich im Trüben. Ich wirke extrem alt. Als wäre ich vierzig. Ihr Gesicht ist überbelichtet. Das Blitzlicht macht die Haut hell, fast so hell wie die wasserstoffblonden Haare. Das Bild erinnert mich an etwas. Es hat Ähnlichkeiten mit dem Foto der Musikerin Anika auf dem Cover von ‚Masters of War‘. So nenne ich sie: Anika. Sie schaut mir auf dem Foto direkt in die Augen. Der Blick ist nicht so abweisend, wie ich ihn erlebt habe. Ihr Mund ist leicht geöffnet. Auf den Zähnen liegt ein Glitzern, das auf eine Zahnspange schließen lässt. Mein Gehirn projiziert einen Film auf die Innenseite der Stirn. Eine Wiederholung läuft. Ich schaue mir dabei zu, wie ich die CD in der Hand halte, die mir kurz danach aus der Hand fallen wird. Anika steht neben mir. Ihre 11
Hand spielt mit meinem Unterhosensaum, der hinten aus der Jeans herausschaut. Ich schwärme ihr von der CD vor. „Eine meiner Lieblingsplatten.“ In Wirklichkeit war niemand da, mit der ich über Musik hätte reden können. Oder über Klamotten, über Politik, das Wetter, einfach irgendwas. Ich bin dagestanden und habe das Cover angesehen, unzählige gezeichnete Vögel zu einem schwarzen Knäuel verbunden. In dem schwarzen Fleck weiß der Name der Künstlerin. „Der Lebenstraum eines meiner Freunde ist es, einmal eine Nacht mit PJ Harvey zu verbringen.“ Diesen Satz hätte ich gerne gesagt, als ich die CD betrachtet habe. Um eine Reaktion auszulösen. Um zu hören, was Anika darüber denkt. „So ein Macho!“, hätte sie vielleicht erwidert. Und ich hätte geantwortet: „Stimmt, er ist etwas seltsam, aber eigentlich ganz okay.“ Dann die Explosion, die wie eine Naturkatastrophe über mich hereinbricht. Ein innerstädtischer Mini-Tsunami. In einer Endlosschleife reißen schreiende Menschen vor Entsetzen ihre Münder auf. Schlaglichtartig schiebt sich das Bild von Anika dazwischen. Sie soll dem Loch in der Musik Gestalt geben. Es mit Inhalt füllen. Der Knall hallt in meinem Kopf nach. Ich möchte sie fragen, wie es ihr jetzt geht und ob sie auch ganz benommen ist. ‚Wenn eine Bombe explodiert, sollte man nicht alleine sein.‘ Das könnte die Weisheit sein, die ich mitnehme. Ich weiß nur nicht, was ich daraus für den Rest meines Lebens lernen kann. 12
Ich gehe und gehe. Irgendwann lande ich in bekannten Gefilden – in Southwark, meinem Lebensabschnittszuhause. Ich erkenne den Borough Market und steuere auf mein Hotel zu. Jetzt einfach nur schlafen! ‚Schlafen kannst du, wenn du tot bist.‘ Wenn dieser blöde Spruch stimmen sollte, wäre ich manchmal gerne tot. Zum Beispiel jetzt. Ich lege mich ins Bett. Tatsächlich gelingt es mir, mich aus der Realität auszuklinken. Tief in der Nacht lässt mich mein Körper aber im Stich. Er spuckt mich wieder aus. Schwups. Schon bin ich mittendrin in meinen Gedanken. Warum informiere ich mich nicht darüber, was passiert ist? Die TV-Sender kommentieren den Anschlag bestimmt rauf und runter. Aber mein Zimmer hat keinen Fernseher. Und mein antikes Handy ist nicht internettauglich. Ich sollte in eine Bar gehen, kann mich jedoch nicht dazu aufraffen. Die meisten Lokale werden ohnehin geschlossen sein. Und in den anderen laufen sicher keine Sondersendungen. Vielleicht weiß der Typ an der Rezeption Bescheid. Vielleicht. Meine Gedanken kreisen wie die Rotoren eines Helikopters. Mal schneller, dann wieder langsamer. Ohne von der Stelle zu kommen. Als es hell wird, schlafe ich ein zweites Mal ein. Das nächstbeste Lokal ist ein Bobo-Café beim Markt. Geschäftsleute stellen sich für Coffee to go an. In ihrem Leben gibt es einen Unterschied zwischen Arbeit und 13
Freizeit. Bei mir ist alles ein Brei aus Nichtstun und Gelegenheitsjobs. Momentan mit einem Schwerpunkt auf Ersterem. Gemessen an der Länge der Warteschlange muss der Kaffee etwas Besonderes sein. Neben der Theke gibt es drei kleine Tische. Einer davon ist frei. Ich schnappe mir einen Bündel Zeitungen und nehme Platz. Die beiden Bomben sind der große Aufmacher. Die erste ist in einer Mülltonne unweit des Rough-Trade-Stores explodiert. Sie hat ‚wie durch ein Wunder‘ niemand getötet. Die zweite ist eine Straßenecke weiter hochgegangen und hat einen Jaguar in die Luft gerissen. Ein Toter. Von den Täter*innen keine Spur, kein Bekennerschreiben, nur Vermutungen. Der Boulevard verdächtigt die randalierenden Jugendlichen. Wie sollte es auch anders sein?! Die seriöseren Blätter trauen den ‚Chaoten‘ so eine Tat nicht zu. Bei ihnen stehen die üblichen Langzeitverdächtigen im Fokus: islamistische Terroristen. Der Kaffee ist tatsächlich nicht schlecht. Dazu esse ich Rührei mit Speck. Genauer gesagt stochere ich lustlos darin herum und zwinge mich, den einen oder anderen Bissen hinunterzuwürgen. Die Nachrichten lesen sich wie die Berichte eines Konzertes, das ich am Abend zuvor besucht habe: Ich war dabei und will wissen, was andere darüber denken. Als ich genug gelesen habe, lege ich die Zeitungen zurück auf die Theke. Nach dem letzten Schluck Kaffee ist nicht nur die Tasse leer, sondern auch mein Depot an Möglichkeiten, den 14
Tag hinter mich zu bringen. Wenn ich auf Urlaub wäre, würde ich einfach etwas besichtigen. Bin ich aber nicht. Ich frage mich, was ich überhaupt hier mache. Ist London für mich ein Reiseziel? Wenn ja, wo wäre dann mein Zuhause? Jetzt nur nicht philosophisch werden!, ermahne ich mich. Ohne Erfolg. Ich grüble weiter, wie sich mein derzeitiger Daseinsstatus definieren lässt. Als Flucht? Wovor? Dann, endlich, gleite ich aus den hohen Sphären abwärts und lande in der Zone der trivialen Fragen: Wie komme ich zu Geld? Vielleicht sollte ich eine Bank überfallen, oder zumindest einen Shop. Aber das ist zu anstrengend. Und alleine macht es keinen Spaß. „Tu nicht so cool!“, würde meine Ex jetzt sagen, wenn sie hier wäre und meine Gedanken lesen könnte. „Du bist einfach nur zu feige!“ Wahrscheinlich hätte sie sogar recht. Ich bin für so etwas nicht geschaffen. Die Nebenwirkungen sind bei mir einfach zu stark: Gewissensbisse, Verfolgungsängste und der ganze Kram. Es ist wie mit Alkohol: Der Kater danach ist oft heftiger als der Rausch davor. Daher begrenze ich das Feld meiner Entscheidungen auf die kleinsten und wesentlichsten Dinge. Erstens: das scheißteure Frühstück bezahlen. Zum Glück reicht das Geld. Zweitens: in London bleiben. Na ja. Das ist kein richtiger Entschluss. Was sollte ich sonst tun? Drittens: zu Hause anrufen. Puh. Zum Glück ist meine Wertkarte fast leer. 15
Ich scanne den Raum ab. Auf der Theke steht ein Telefon. So ein Pech. Jetzt habe ich keine Ausrede mehr. „Die Explosion? Ach ja, das stand in der Zeitung.“ „Nein, nein, ich habe nichts davon mitbekommen.“ „Keine Sorge, Mama, mir ist nichts passiert. Alles ist in Ordnung.“ Danach imitiere ich ein Knacken in der Leitung und lege auf. Für das Ferngespräch wird gleich noch mal abkassiert. Beim Zurückstecken der Geldbörse kommen mir die Automatenbilder von Anika zwischen die Finger. Ich fahre zur Brick Lane und streife in dem Viertel umher. Endlich habe ich wieder ein Ziel. Die Vorstellung, ihr zu begegnen, gibt mir Kraft. Nicht viel. Aber genug, um mich durch den Tag zu schleppen. Die ganze Umgebung um den Tatort ist abgesperrt. Auf dem Spitalfields Market mustere ich die T-Shirt-Aufdrucke an einem Klamottenstand. „Free enterprise“ steht auf einem. „enterprise“ ist mit knalligem Rot durchgestrichen und durch „love“ ersetzt. Die Botschaft auf einem anderen lautet: „The revolution will be tweeted“. Ein kleines Kofferradio spielt „Don’t you remember“ von Adele. „You left with no goodbye.“ „Du kannst gerne eins probieren“, bietet mir der ergraute Verkäufer an. Er trägt eine Nickelbrille auf der Nase und sieht aus wie Hermann Hesse mit langen Haaren. Oder wie Rainer Langhans. 16
„Ich schaue nur“, sage ich. Und dann zeige ich ihm die Bilder. Einfach so. Ich weiß auch nicht, was mich dabei geritten hat, mit ihm über Anika zu reden. „Kennst du die Frau?“ Er grinst: „Bist du ein Bulle?“ „Nein, natürlich nicht …“ „Privatdetektiv?“ „Nein!“, beschwere ich mich. „Das ist … eine Bekannte.“ „Ist ihr etwas zugestoßen?“ „Du meinst bei dem Anschlag?“ „Das hab ich nicht gemeint, aber ja, bei dem Anschlag, zum Beispiel.“ „Es hat einen Toten gegeben, oder?“ Er nickt: „Den hat es samt seinem Jaguar erwischt.“ „Wer war das?“ „Ein hohes Tier in Canary Wharf. Bist du Deutscher?“ „Ja“, antworte ich. „Und was ist jetzt mit der Lady? Stehst du auf sie?“ „Genau. Wollte sie mal wieder sehen.“ „Versuchs im Internet“, rät er und greift zu einer Thermoskanne, die hinter ihm auf dem Boden steht. Statt seinem Rat zu folgen, schlendere auf der Whitechapel Road Richtung Osten, vorbei an der Moschee, die ich schon gestern links liegen gelassen habe. Oder, genauer gesagt, rechts. Meine Mission: Anika suchen, eine „Bekannte“, die ich „mal wieder sehen will“. Der Steckbrief: Blonde Haare. Zahnspange … Da bin ich mir schon nicht mehr ganz sicher. Vielleicht haben die Zähne von sich aus geglänzt. 17
Selbstzweifel wachsen. Was treibt mich zu dieser Mission? Eine Gegenfrage: Was hindert mich daran? Irgendwas muss ich ja tun. Ich hätte in dieser Situation genauso gut auch Alkoholiker werden oder mich zum Hinduismus bekennen können. Aber Anika ist gesünder als Ersteres und weniger abstrakt als die religiöse Alternative. Vielleicht ist das die richtige Antwort: Ich sehne mich nach jemand an meiner Seite. Die migrantische Community des Viertels gibt sich bedeckt. Ich komme mir wie ein Schnüffler vor, bis ich die Story erfinde, dass ich mit Anika liiert bin. Der Trick funktioniert. Die romantische Geschichte verschafft mir Zugang zu den Menschen. Sie reagieren nun mit weniger Skepsis. Manche stellen mir Fragen zu meiner Freundin. Ich beginne, mir unsere Beziehung auszumalen. Durch die Erzählungen wird Anika immer realer. Wenn ich so weitermache, drehe ich am Ende noch durch. In Wien soll es einmal einen Künstler gegeben haben, der hoffnungslos verliebt war. Nach und nach ist die Angebetete zu einem Hirngespinst geworden. Er soll sogar eine Puppe gebastelt haben, die ihre Züge hatte. Die Suche nach Anika gibt meinem Umherschweifen an diesem Nachmittag einen Sinn. Ich fühle mich dadurch besser. Allerdings habe ich nur ein Foto, das zu allem Übel wenig aussagt. Ihre Haut ist vom Blitzlicht aufgehellt. Ich bilde mir jedoch ein, ihre echte Blässe zu kennen. Die Poren ihrer 18
Haut. Die kleinen Härchen, die im Gegenlicht sanft schimmern. Ich bin überzeugt davon, dass sie unter der blauen Jeansjacke ein kurzes Kleid trägt (schwarz, mit weißen Punkten), obwohl auf dem Foto nur die Jacke zu erkennen ist. Aus dem Blitzen im Mund ist längst eine Zahnspange geworden, die sie seit drei Monaten hat. „Tut die Spange nicht weh beim Küssen?“ fragt mich ein neugieriger Pakistani, dem ich eine genaue Beschreibung von Anika gegeben habe. „Nein, es ist wunderbar“, sage ich und spüre zum ersten Mal seit Wochen einen Hauch von Glück. Natürlich kann mir auch der Pakistani nicht weiterhelfen. Ich denke an den intimen Augenblick, den ich mit Anika in dem Passbildautomaten erlebt habe. Es war dunkel und wir waren uns nahe. Ich bilde mir ein, mich an ihren Geruch zu erinnern. Ein Parfüm. Blumenwiese. Anika wird zu meiner Begleiterin auf meinen Streifzügen durch die Stadt. Wenn ich alleine bin, fantasiere ich mir auch sonst sehr oft Menschen herbei, mit denen ich erfundene Gespräche führe. Eine Partnerin, mit der ich bespreche, was ich erlebe. Einen Reporter, der mir zu einem belanglosen Thema Fragen stellt. Neu sind diese Begleiter*innen nicht, aber sie sind sonst nie so real. Anika ist bei mir, aber gleichzeitig auch weit weg. Ich bin auf der Suche nach ihr, und sie begleitet mich dabei. Am darauffolgenden Tag sind die Erinnerungen an den Frühling in Berlin wieder da. Als ich über die Themse gehe, verwandelt sie sich für mich in die Spree. Ich sehe meine Ex, deren Namen ich nicht mehr aussprechen 19
möchte. Sie ist komplett entnervt und will mich nur noch loswerden. „Ich dachte, du liebst mich“, bettle ich verzweifelt. „Träum weiter!“ „Ich verstehe das alles nicht.“ „Weißt du“, sagt sie eiskalt, „seit ich dich kenne, ist mein Leben von etwas Dunklem überschattet.“ Manchmal werden Träume real. Sehr viel öfter verwandelt sich jedoch die Realität in einen Albtraum. Das Monument wird in meiner Vorstellung zur Siegessäule. Zum Glück kommt mir Anika zu Hilfe und macht den Spuk rückgängig. Es ist wie bei einem Computerprogramm, mit dem man Gesichter hin und her morphen kann: Die kalten Züge der Ex verschwinden und irgendwann ist nur noch Anika da. Meine neue Flamme wirft sich vor der Säule, die jetzt wieder das Monument ist, in Pose. Ich drücke auf den Auslöser, und wir schauen das Ergebnis gemeinsam auf dem Bildschirm der Handykamera an. Das Foto ist nicht schwarz-weiß, sondern in Farbe. Sie fährt sich mit der Hand durch die wasserstoffblonden Haare. „Gehen wir zur Brick Lane“, schlägt sie vor und springt in die Luft, sodass ich unter der Jeansjacke den gepunkteten Rock bewundern kann. „Wie heißt du eigentlich?“, frage ich. „Gefällt dir ‚Anika‘ nicht?“, antwortet sie. Wir gehen durch East London, das sich wieder völlig berlinfrei präsentiert. Der Weg zum Rough-Trade-Store ist zugänglich. Der Shop hat aber noch geschlossen. Eine Plastikplane verdeckt die zersprungenen Fensterscheiben. 20
Der zweite Tatort, dort, wo es den Toten gegeben hat, ist abgesperrt. Einige Neugierige drängen sich an das Polizeigitter und versuchen, einen Blick in die Gasse zu erhaschen. „Was hältst du von der ganzen Geschichte?“, frage ich sie. Anika schweigt. Und während wir schweigend weitergehen, spüre ich, dass Berlin erneut an der Oberfläche meiner Wahrnehmung kratzt. Dieses schicke Café dort – das könnte es auch in Prenzlauer Berg geben! Als ich Anika ins Gesicht schaue, setzt die Morphfunktion ein. Diesmal in die andere Richtung. Anikas Schweigen kenne ich zu gut. Auch meine Ex hat mich zuletzt aus wichtigen Teilen ihres Lebens ausgeschlossen. „Du bist für meine Pläne zu schwach“, war ihre Erklärung. „Ich dachte, du magst keine Muckis?!“ „Wir reden hier nicht über Muckis. Wir reden über Zielstrebigkeit. Manchmal denke ich, du wurdest mit denselben Zutaten gebacken wie ein Omelett.“ „Wie kommst du darauf ?“ „Weil du ständig so herumeierst.“ Am Nachmittag führen mich meine ziellosen Streifzüge in die Kosmetikabteilung eines Kaufhauses. Ich teste mich durch die Parfüms und sprühe die Proben, die mir am besten gefallen, auf das Handgelenk. Erst auf das linke, dann auf das rechte. Schließlich wandern die Gerüche den Unterarm hinauf. 21
Ich rieche orientalische Düfte und frische Zitrusnoten. Irgendwann stoße ich auf einen frischen, fast sterilen Klinikgeruch, der zu meiner Ex passen würde. Nur Anikas Blumenwiese ist nicht darunter. „Kann ich weiterhelfen?“, fragt eine aufgetakelte Verkäuferin. Alles an ihr wirkt unecht. Nicht nur die Fingernägel, Wimpern und Haare. „Blumenwiese“, sage ich, „ich suche etwas, das nach Blumenwiese riecht.“ Sie deutet auf ein Parfüm, das, so ihre Erklärung, an einen ägyptischen Garten erinnern soll. Wir sind auf einer heißen Spur. Dann greift sie zu einem Fläschchen, dessen Verzierungen Bienenwaben nachempfunden sind. Ich rieche am Zerstäuber. Und atme Anika ein! An meinem Blick erkennt die Verkäuferin, dass wir ins Schwarze getroffen haben. „Das ist es, oder?“ Ich nicke und sprühe eine dichte Wolke auf mein linkes Handgelenk. „Wollen Sie es kaufen?“ Ich schüttle den Kopf: „Genau genommen, nein, aber vielen Dank!“ „Kein Problem“, meint sie, „leider haben wir davon keine Probe.“ Schon als ich das Kaufhaus verlasse, hat sich die Blumenwiese im Gemisch der anderen Düfte verflüchtigt. Ich gebe meine Nachforschungen für heute auf. Bevor ich am nächsten Tag mein Jagdgebiet aufsuche, mache ich einen Abstecher zum Bahnhof London Bridge. Dort gibt es eine kleine Parfümerie. Ich sprühe 22
mir eine dicke Ladung Blumenwiese auf das frisch gewaschene Handgelenk. Auf dem Weg zum Rough-TradeStore schnüffle ich daran, wie ein Hund, dem ein Kleidungsstück der Gesuchten unter die Nase gehalten wird. Dann nehme ich die Fährte auf. Der Store hat zu meiner Überraschung wieder geöffnet. Die Schaufenster sind noch zugeklebt, sonst erinnert nichts an die Explosion. Die PJ-Harvey-CD, die ich habe fallen lassen, ist ordentlich unter „H“ in das Regal eingereiht. Möglichst unauffällig inspiziere ich den Fotoautomaten. Vielleicht sind dort, wo ich mit dem Kopf aufgeschlagen bin, Blutreste zu finden. Ich kann allerdings nichts erkennen. An meiner Stirn hat sich eine Kruste gebildet, die bald abfallen wird. Vermutlich wird nicht einmal eine kleine Narbe bleiben. In der Nähe der Tür entdecke ich ein Schwarzes Brett. „Punkband sucht Schlagzeugerin“, lese ich. Suchanfragen wie diese gibt es viele. Aber eine rote Schrift sticht mir ins Auge: „Du, weiblich, schwarze kurze Haare, hast am 1. Juli hier ‚Last of the Country Gentlemen‘ von Josh T. Pearson gekauft. Melde dich bitte, bitte, bitte, bitte bei mir!“ Wer ist Josh T. Pearson? Ich suche die CD. Das Cover zeigt einen langhaarigen, bärtigen Typen, der neben einer Frau kniet und ihre Schenkel umfasst. Die Frau hat halblange hellbraune Haare. Sie trägt einen Cowboyhut und eine ärmellose, braune Wildlederweste mit Fransen. Unter der Weste, die vorne offen ist, trägt sie nichts. Mein Blick bleibt an ihrer linken Brust hängen. Ich habe eine Idee … 23
Eine der Verkäuferinnen beschreibt mir den Weg zum nächsten Copyshop. Dort kopiere ich die Fotos von Anika. Auf den weißen Rand des Papiers schreibe ich: „Wir sind uns vor Kurzem im Passbildautomaten begegnet. Ich habe die Bilder und würde sie dir gerne zurückgeben. Melde dich bei mir!“ Als Kontaktmöglichkeit gebe ich meine E-Mail-Adresse an. Ich hänge das Blatt im Store auf und setze mich in eines der Cafés rund um das Geschäft. Der Alkohol wirkt schneller als sonst und konserviert meine gute Laune. Zumindest für ein oder zwei Stunden. Dann heißt es wieder: „Pferd satteln, weiterreiten!“ An der Tür eines Schuhgeschäftes hängt ein Schild mit der Aufschrift „Free Internet“. Es bedeutet, dass der Laptop neben der Kasse verwendet werden kann. Ein seltsames Angebot, das ich aber sofort nutze. Noch keine Nachricht von Anika. Klar. Das war zu erwarten. Dennoch bin ich enttäuscht. Gegen Abend schaue ich noch einmal bei Rough Trade vorbei. Der Zettel ist weg. Ich frage beim Personal nach. Niemand hat sein Verschwinden bemerkt. Schnell fertige ich eine zweite Kopie an und hänge sie, kurz bevor der Laden schließt, auf. Die einbrechende Dunkelheit wirft Fragen auf. Etwa die Frage, wie ich den Abend erträglich gestalten kann. Kino wäre eine Option. Aber dafür habe ich jetzt keine Nerven. Pubs sind normalerweise zu gesellig, um darin alleine abzuhängen. Umso mehr freue ich mich darüber, 24
auf eines zu stoßen, das ziemlich leer ist. Es heißt „The Three Crazy Cats“. Im Fernsehen bringen sie Bilder von der zweiten Explosion. Jemand hat sie gefilmt. BBC hat die Aufnahmen anonym erhalten. Es ist ein Haus zu sehen. Eine oder zwei Gassen vom Rough-Trade-Store entfernt. Die Haustür geht auf. Zoom auf einen jungen Mann im Anzug – das hohe Tier in Canary Wharf, wie der Verkäufer auf dem Spitalfields Market gesagt hat. Er geht schwungvoll auf ein großes Tor zu, das sich wenige Meter neben der Tür befindet. Die Kamera folgt ihm. Er öffnet das Tor und verschwindet im Dunkeln. Kurze Zeit später fährt ein weißer Jaguar heraus. Die Kamera bleibt auf ihm. Als der Wagen in die Straße einbiegen will, geht der Bildausschnitt zurück in die Totale. Dann explodiert das Auto. Der Film wiederholt die Explosion immer und immer wieder. Punkt zehn Uhr stehe ich vor der Tate Modern. Ich suche einen Internetterminal, finde aber nichts. Ein Besucher leiht mir sein iPad. Ich checke den Posteingang. Nichts. Das heißt, nichts von ihr. Weil der Eintritt gratis ist, schlendere ich durch die Ausstellung. Die Kunstwerke ziehen wie eine Kulisse an mir vorbei. Würde mich Anika begleiten, hätte ich einen Zugang zu ihnen. Anikas Gedanken würden den Bildern eine Bedeutung geben. Nur ein Raum interessiert mich. Dort sind postkartengroße Zeichnungen ausgestellt. Sie zeigen einfache Skizzen, die von kurzen Texten eingerahmt sind. Der Künstler ist von der Elfenbeinküste. 25
Vielleicht sollte ich so etwas auch probieren. Ich zeichne in der Vorstellung ein explodierendes Auto. Um das Auto herum ist der Inhalt des Bekennerbriefs geschrieben. Apropos Bekennerbrief: Wurde überhaupt schon einer gefunden? Ich ziehe weiter. Wie an den Tagen zuvor habe ich dasselbe Ziel: Anika Country! Meine Kopie im Plattengeschäft ist schon wieder weg. So langsam glaube ich nicht mehr an Zufall. Und dann geschieht etwas, das ich nicht geplant habe. Nicht hätte planen können. Es passiert einfach. Kurz nachdem ich den Store verlassen habe, tippt mir jemand auf die Schulter. „Bist du nicht der, der die Blonde sucht?“ „Ja“, sage ich. Und er: „Ich kann dir helfen, komm mit.“
26