Nora Sternfeld Kontaktzonen der Geschichtsvermittlung Transnationales Lernen Ăźber den Holocaust in der postnazistischen Migrationsgesellschaft
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Nora Sternfeld
Kontaktzonen der Geschichtsvermittlung Transnationales Lernen Ăźber den Holocaust in der postnazistischen Migrationsgesellschaft
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Wir bedanken uns für die Förderungen durch den Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus und durch den Zukunftsfonds der Republik Österreich.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © Zaglossus e. U., Wien, 2013 Alle Rechte vorbehalten Umschlagfoto: © Werner Prokop, Foto im Rahmen des Projektes „ ,Und was hat das mit mir zu tun?‘ Transnationale Geschichtsbilder zur NSVergangenheit“ Druck: Prime Rate Kft., Budapest Printed in Hungary ISBN 978-3-902902-02-3 Zaglossus e. U. Vereinsgasse 33/12, A-1020 Wien E-Mail: info@zaglossus.eu www.zaglossus.eu
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Inhalt
Einleitung – Geschichtsvermittlung als kritische Aufgabe und unvollendeter Prozess I. Verstrickungen vermitteln. Transdisziplinäre thematische Klärungen
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I.1 Verstrickte Bedingungen
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I.1.1 Was heißt hier transnational?
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I.1.2 Die postnazistische Kondition
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I.1.3 In der Migrationsgesellschaft
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I.2 Agonistische Kontaktzonen
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I.2.1 Geteilte soziale Räume
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I.2.2 Konfliktzonen
55
I.2.3 Bildung in agonistischen Kontaktzonen: Offenheit, Reflexivität und Dissens 61 I.3 Heterogene Kontexte
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I.3.1 Historisches Lernen und Geschichtsbewusstsein in der Geschichtsdidaktik 70 I.3.2 Ansprüche und Werte der Holocaust Education
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Exkurs: Multiperspektivität und die pädagogische Funktion der Bystander 113 I.3.3 Konkretion und Partizipation in der Gedenkstättenarbeit
117
I.3.4 Reflexivität in Bildungstheorie und kritischer Migrationspädagogik 136 I.3.5 Das Dazwischen in der Kultur- und Geschichtsvermittlung
150
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II. Geschichtsvermittlung als Kontaktzone II.1 Erfahrungen
153 153
II.1.1 Ein Projektdesign zwischen Forschung, Bildung und Ausstellung
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II.1.2 Die Vermittlungsarbeit – Wie sind wir vorgegangen?
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II.1.3 Erste Schlüsse aus der Zusammenarbeit
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II.2 Räume öffnen/Räume schließen II.2.1 Öffnungen: Handlungsräume in der Kontaktzone
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II.2.2 Schließungen: Wie umgehen mit Antisemitismus und Rechtsextremismus? 192 II.2.3 Widersprüche zwischen Öffnung und Schließung II.3 Was geschehen ist und was es für die Gegenwart bedeutet Danksagung Bibliografie
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220 233
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Einleitung – Geschichtsvermittlung als kritische Aufgabe und unvollendeter Prozess „Du brauchst die Arbeit nicht zu vollenden, aber du bist auch nicht frei, dich daraus zu entziehen“1 (Sprüche der Väter 2,2). Nun beginnt dieses Buch doch mit einem rabbinischen Wort. Der Eindruck einer religiösen Orientierung soll dabei aber gleich zurückgewiesen werden. Vielmehr wird es darum gehen, eine säkulare, poststrukturalistische Seite des rabbinischen Satzes herauszuarbeiten und eine solche, womöglich blasphemische Auslegung für die Bildungstheorie fruchtbar zu machen. Versuchen wir also eine Lektüre des Satzes, bei der mit „Arbeit“ eine Geschichtsvermittlung nach Auschwitz gemeint ist. Zunächst scheint dann sofort auf der Hand zu liegen, dass es eine Vollendung dieser Arbeit nicht geben kann oder soll – denn ihr Ziel ist ja gerade eine Auseinandersetzung und Erinnerung, unter die kein Schlussstrich gezogen wird. Des Weiteren bedeutet dies jedoch auch, dass es auszuhalten gilt, dass es stets neue, unvorhersehbare Formen der Erinnerungs- und Vermittlungsarbeit, des Lehrens und Lernens nach und über Auschwitz geben wird und muss, die aus der jeweiligen Gegenwart ihren eigenen aktuellen Weg der Unabschließbarkeit definieren und formulieren. Es handelt sich also um eine Tätigkeit, die niemals das gute Gefühl einer positiven oder auch nur annähernden Erledigung mit sich bringen, sondern immer 1 Zitiert nach: Mannheimer, Max: Wie viel Erinnerung braucht der Mensch? – Wie viel Gedenken braucht ein Volk? In: Nickolai, Werner/ Brumlik, Micha (Hg.): Erinnern, Lernen, Gedenken. Perspektiven der Gedenkstättenpädagogik. Freiburg im Breisgau: Lambertus 2007, S. 17–21, hier S. 20. Es handelt sich um ein Zitat aus den Sprüchen der Väter: „Es ist deine Obliegenheit nicht, die Arbeit zu vollenden, doch steht es dir nicht frei, sich ihrer zu entledigen.“ Talmud: Die Sprüche der Väter. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2009, S. 22.
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den Charakter der Offenheit und auch des Scheiterns beinhalten wird. Doch der rabbinische Satz hat ja gerade dahingehend etwas Beruhigendes: Wenn es nicht mehr darum geht, das Ende der pädagogischen Arbeit vorwegzunehmen, lohnt es sich umso mehr, eine konkrete und alltägliche Perspektive einzunehmen und sich genau den damit verbundenen Bedingungen und damit einhergehenden Fragen nicht zu entziehen. Was sind diese konkreten Bedingungen, die den Hintergrund für eine aktuelle Geschichtsvermittlung zu den Themen Holocaust2, 2 Mit „Holocaust“ bezeichne ich in dieser Studie dezidiert nicht nur den industrialisierten Massenmord an Jüd_innen (zur Verwendung der generischen Form Jüd_innen und zur Schreibweise mit Unterstrich s. Fußnote 8), sondern die Gesamtheit der nazistischen Massenverbrechen. Was der Begriff alles meint und bezeichnet, ist in der Literatur umstritten. Aber heute wird jedenfalls die Zusammenfassung aller Opfer der Nazis unter dem Schlagwort „Holocaust“ empfohlen. So schreiben etwa Geoffrey Short und Carol Ann Reed: „We would therefore urge teachers, when dealing with the Holocaust, to make more than a token acknowledgement of the fate of the Roma and Sinti and the Slavs and those who were persecuted on grounds other than ethnicity such as Jehovah’s Witnesses, homosexuals, political opponents and Germans with disabilities“. Short, Geoffrey/Reed, Carol Ann: Issues in Holocaust education. Aldershot/Burlington: Ashgate 2004, S. xi. Den planmäßig organisierten und industriell durchgeführten Massenmord der Nazis an Jüd_innen bezeichne ich mit dem Begriff Shoah. Zahlreiche Reflexionen wurden zur Bezeichnung des Verbrechens angestellt, alle bisherigen Benennungen bleiben problematisch und ungenügend. Wörtlich aus dem Hebräischen übersetzt heißt Shoah „Katastrophe“. Dass damit die Konnotation eines scheinbar täter_innenlosen Schicksals mitschwingt, ist ein Aspekt, der die Verwendung des Begriffs schwierig macht, das Angebot einer Identifikation mit den Opfern ein anderer. Ich wähle die jüdische Selbstbezeichnung – die mittlerweile über Israel und jüdische Gemeinden hinaus Verbreitung gefunden hat – trotzdem, weil sie mir immer am sinnvollsten erscheint, um den Massenmord an Jüd_innen zu bezeichnen. Das Wort Holocaust wird in der Literatur zu den verschiedenen Themen dieser Arbeit am häufigsten verwendet, ist jedoch – und das wurde vielfach besprochen – dennoch unzulänglich und problematisch: Unter anderen macht Giorgio Agamben darauf aufmerksam, dass der Begriff Holocaust – der auf Griechisch „Brandopfer“ bedeutet und aus einem religiösen Kontext stammt – bereits im Mittelalter höhnisch gebraucht wurde, um Pogrome an Jüd_innen zu beschreiben. Vgl. Agamben, Giorgio: Was von Auschwitz bleibt. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 26 ff. Dieser antisemitischen Geschichte des Wortgebrauchs
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Nazismus3 und Zweiter Weltkrieg an Jugendliche bilden? Zunächst sollen diese hier mit zwei Konditionen beschrieben werden, in denen jede Geschichtsvermittlung heute steht: dem Postnazismus und der Migrationsgesellschaft. Beide – die Auseinandersetzung mit den Kontinuitäten und spezifischen gesellschaftlichen und edukatorischen Verantwortungen in den NS-Nachfolgestaaten und die Realität des Aufeinandertreffens unterschiedlicher Erinnerungskollektive in jedem Klassenzimmer – geben einen Rahmen vor, dem es sich zu stellen gilt und der, wenn dies geschieht, zahlreiche, teilweise auch widersprüchliche Herausforderungen mit sich bringt. Dabei kann es nicht darum gehen, das Nischenthema der Migration als ein weiteres marginalisiertes möchte ich mich nicht anschließen – auch wenn ich weiß, dass der Begriff mit dem gleichnamigen US-Fernsehvierteiler, der 1978 bzw. in Deutsch 1979 erstmals ausgestrahlt wurde, auch im deutschsprachigen Raum Verbreitung fand und zunächst als Errungenschaft und Möglichkeit erschien, um den industriellen Massenmord der Nazis an den europäischen Jüd_innen zu benennen, der bis dahin gern unthematisiert gelassen und in den Hintergrund gedrängt wurde. Ein weiteres Problem beider Begriffe ist, dass sie keine „Dimension in der Alltagssprache“ des Postnazismus haben und somit dazu einladen, die Verbrechen zu externalisieren. Vgl. Claussen, Detlev: Die Banalisierung des Bösen. Über Auschwitz, Alltagsreligion und Gesellschaftstheorie. In: Werz, Michael (Hg.): Antisemitismus und Gesellschaft. Zur Diskussion um Auschwitz, Kulturindustrie und Gewalt. Frankfurt am Main: Neue Kritik 1995, S. 55; sowie zur Problematik der Begriffe: Rajal, Elke: Erziehung nach/über Auschwitz. Holocaust Education in Österreich vor dem Hintergrund kritischer Theorie. Diplomarbeit, Wien 2010, S. 19–23. Schlussendlich habe ich mich bei all diesen Problematiken deshalb für die Bezeichnung Holocaust entschieden, weil der Begriff vor dem Hintergrund seiner „Globalisierung“ zahlreiche Reklamationen erfahren und neue aktuelle Dimensionen erhalten hat und damit zumindest das Potenzial hat, die Verbrechen an Roma und Sinti, an Homosexuellen und den vielen anderen Opfern nicht auszuschließen. 3 In Anlehnung an die Konvention im Englischen und Französischen wähle ich die Bezeichnung Nazismus für die Weltanschauung und politische Bewegung der Nazis. Neben einer bewussten Entscheidung für die Exil- und alliierte Fremdbezeichnung ist es auch eine gegen die Selbstbezeichnung der NSDAP und die damit einhergehende scheinbare Verbindung von Nationalismus und Sozialismus. Ich verdanke Ernesto Laclau den Hinweis auf die eigentümliche Beständigkeit des langen Wortes „Nationalsozialismus“ im postnazistischen deutschen Sprachgebrauch im Gegensatz zu den meisten anderen sprachlichen Kontexten.
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Feld in die Holocaust Education hineinzureklamieren. Vielmehr soll hier eine allgemeine Diskussion bestehender Debatten und Wissensproduktionen im Bereich der Geschichtsvermittlung zum Holocaust, dem Nazismus und dem Zweiten Weltkrieg im postnazistischen deutschsprachigen Raum geführt werden, um diese vor dem Hintergrund der Migrationsgesellschaft neu zu positionieren und Kenntnisse für die Praxis zu erarbeiten. Es handelt sich dabei um zwei Bedingungen unserer Gesellschaft, die für eine aktuelle Geschichtsvermittlung des Nazismus prägend sind und heute auch in den unterschiedlichen Feldern, die sich mit ihr theoretisch und praktisch beschäftigen, zweifellos als notwendige Hintergründe der Auseinandersetzung gelten.4 So werden sie auch in den Medien längst diskutiert;5 Die Zeit schreibt etwa im Januar 2010: „Migranten sind in der großen deutschen Erzählung, in der es um die Erinnerung an die NS-Verbrechen und den anspruchsvollen Umgang mit dieser Erinnerung geht, nicht vorgesehen. Nicht als Zuhörer und schon gar nicht als Akteure mit einer eigenen Perspektive. Aber wie lange kann das so bleiben in einem Land mit mittlerweile mehr als 15 Millionen Menschen, die keine familiären Bezüge zur deutschen Vergangenheit haben?“6
Mediale Zuschreibungen in der Migrationsgesellschaft Die öffentliche Debatte ist allerdings weit davon entfernt, differenzierte Perspektiven auf ein allgemein als notwendig betrachtetes 4 Vgl. Welzer, Harald: Erinnerungskultur und Zukunftsgedächtnis. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 25–26/2010, S. 16–29, hier S. 17. 5 Dank an Doron Rabinovici für wichtige Gespräche und Hinweise. 6 Topcu, Özlem/Wefing, Heinrich: „Bist du Jude?“ Zwei Deutschtürken versuchen, die deutsche Geschichte zu erklären – und treffen auf hartnäckige Vorurteile. Die Zeit (04/2010), http://www.zeit.de/2010/04/ Umfrage-Reportage?page=all [Stand: 20.11.2012].
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Umdenken in der Geschichtsvermittlungspraxis einzunehmen. Vielmehr folgen die journalistischen Auseinandersetzungen mit dem Thema einer oftmals dichotomen Logik zwischen guten migrantischen7 Vermittler_innen8 einerseits und problematischen migrantischen Jugendlichen andererseits:
7 Das Adjektiv „migrantisch“ wird in dieser Studie in zwei Zusammenhängen verwendet: Einerseits wie in diesem Beispiel als Fremdbezeichnung und Markierung, im Hinblick auf deren Offenlegung und Kritik; andererseits als Sprecher_innenposition, dann steht es in der Tradition einer antirassistischen Selbstbezeichnung als einer politischen Subjektivierung und im Sinne der „Autonomie der Migration“. Vgl. Bojadzijev, Manuela/Karakayali, Serhat/Tsianos, Vassilis (Kanak Attak): Papers and roses. Die Autonomie der Migration und der Kampf um Rechte, http:// www.kanak-attak.de/ka/text/papers.html [Stand: 20.11.2012]. In beiden Fällen handelt es sich also nicht um einen sozialwissenschaftlichen Begriff, der nach Generationen berechnet und zurückverfolgt werden kann. Vielmehr geht es um eine Begriffsbildung vor dem Hintergrund einer Auseinandersetzung mit der Realität rassistischer Markierungen innerhalb von Machtverhältnissen einerseits und mit der Möglichkeit und dem Recht, sich selbst als nicht oder (wohl zumeist) nicht nur dominanzkulturell zu bezeichnen und zu verstehen. 8 In diesem Buch wird die Schreibweise mit Unterstrich (auch „Gender Gap“ genannt) verwendet, um die nicht zuletzt durch Sprache hergestellte strikt binäre Geschlechterordnung zu unterbrechen und Personen mitzubenennen, die sich nicht innerhalb dieser verorten. Vgl. Herrmann, Steffen Kitty: Performing the Gap – Queere Gestalten und geschlechtliche Aneignung. In: arranca! Nr. 28, Aneignung I. Berlin 2003. http:// arranca.org/ausgabe/28/performing-the-gap [Stand: 20.11.2012]. Auch die deutsche Antidiskriminierungsstelle des Bundes verwendet diese Schreibweise in einer Handreichung aus dem Jahr 2012 und stellt dazu fest: „Der Unterstrich als Lücke macht darauf aufmerksam, dass es jenseits von Frauen und Männern auch Personen gibt, die sich keinem der beiden Geschlechter eindeutig zuordnen können oder wollen (z. B. Intersexuelle oder Trans*Personen). Heute ist diese Schreibweise sowohl in einschlägigen wissenschaftlichen Kontexten als auch bspw. in genderpolitisch aktiven Organisationen verbreitet.“ Antidiskriminierungsstelle des Bundes: Diversity-Prozesse in und durch Verwaltungen anstoßen: von merkmalsspezifischen zu zielgruppenübergreifenden Maßnahmen zur Herstellung von Chancengleichheit. Berlin 2012, http://www.antidiskriminierungs stelle.de/SharedDocs/Downloads/DE/publikationen/Handreichung-Diver sity-Verwaltung-20120412.pdf?__blob=publicationFile [Stand: 20.11.2012], S. 4.
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Am 3. Juli 2008 berichtet die Frankfurter Allgemeine Zeitung9 über Ufuk Topkara, Geschichtsvermittler im Jüdischen Museum in Berlin. Der Nachrichtenwert seiner Führungen mit Jugendlichen besteht darin, dass er muslimisch ist. Der Artikel beginnt mit einer Unterstellung: „Es sind nur acht Schüler gekommen. Ein Mädchen aus einer arabischen Familie ist heute einfach nicht erschienen. ‚Da kann man durchaus Absicht unterstellen‘, sagt Lehrerin Elke Menzel, ‚und ich mache das auch mal.‘“ Hier wird also nicht nur ein Vermittler vorgestellt, sondern auch die Dramaturgie eines möglichen „Kulturkonflikts“ aufgebaut: Der Artikel erzählt von einem Schüler namens Zafer, der bereits im Vorfeld die Frage stellte, ob er ins Jüdische Museum müsse, obwohl er gar kein Jude sei, und beschreibt das Verhalten der Schüler_innen – die alle als migrantisch vorgestellt werden10 – als „lustlos, aber nicht feindselig“. Doch dann erfahren die Jugendlichen, dass sie es mit einem muslimischen Vermittler zu tun haben, der Verbindungen zwischen dem Islam und dem Judentum herausarbeitet, und mit einem Mal wird die Führung, so der Artikel, für die Jugendlichen interessant. Am Ende des Textes wird Ufuk Topkara dann noch weit über die Führung hinaus zu einem Helden des Alltags gemacht: „Hat Topkara also etwas erreicht in der vergangenen Stunde? Konnte er Vorurteile abbauen? ‚Ich glaube, der Effekt verpufft sehr schnell, wenn sie zurückkommen in ihr soziales Umfeld‘, sagt er nachdenklich. Vielleicht hat er recht. Vielleicht werden sie nicht als Einzige widersprechen, wenn jemand gegen Juden hetzt. Aber sie werden sich an den großen Bruder Ufuk aus dem Museum erinnern. Er hätte widersprochen.“ 9 Vetter, Philip: Muslime im Jüdischen Museum. Lernen vom großen Bruder. Frankfurter Allgemeine Zeitung (03.07.2008), http://www.faz.net/aktuell /feuilleton/debatten/muslime-im-juedischen-museum-lernen-vomgrossen-bruder-1669543.html [Stand: 20.11.2012]. 10 Im Artikel wird das so beschrieben: „Bei der Gruppe im Jüdischen Museum hat heute kein Schüler deutsche Eltern.“
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Für den Vermittler Ufuk Topkara interessierte sich auch Die Zeit.11 Sie stellt ihn gemeinsam mit Aycan Demirel vor, dem Gründer der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus12. Auch er wird als Mann mit Courage präsentiert, der sich nach seinen Jugendjahren, in denen „das Militär in der Türkei jegliche politische Aktivität unterband“, geschworen hatte, „nie wieder unpolitisch sein zu wollen“. Der problematische Tenor der Artikel geht davon aus, dass Migrant_innen Vorurteile gegen Jüd_innen hätten, dass sie sogar zu einem großen Teil antisemitisch wären13 und dass es eine wichtige Aufgabe der deutschen Gesellschaft sei, sich diesen Tatsachen zu stellen. In den beiden Fällen sind die „Guten“ zwei „deutschtürkische“14 Pädagogen, die am Abbau von Vorurteilen 11 Topcu/Wefing: „Bist du Jude?“ 12 http://www.kiga-berlin.org [Stand: 20.11.2012]. 13 Eine kritische Auseinandersetzung mit dem medialen Diskurs zur Aufgabe der Geschichtsvermittlung in der Migrationsgesellschaft soll nicht darüber hinweggehen, dass es tatsächlich Antisemitismus in muslimischen Communitys gibt. Vgl. dazu beispielsweise KNA/EPD/ab: Vize-Chef des Zentralrats der Juden: Graumann warnt vor Antisemitismus bei Migranten, Die Welt (21.02.2010), http://www.welt.de/politik/ deutschland/article6491671/Graumann-warnt-vor-Antisemitismus-bei -Migranten.html [Stand: 20.11.2012]. An späterer Stelle wird hierauf noch genauer eingegangen. Hier geht es vorerst darum, die Funktion der Zuschreibung von Antisemitismus an migrantische Jugendliche für die dominanzkulturelle Beschäftigung mit Nazismus und Holocaust herauszustreichen. Astrid Messerschmidt schreibt in diesem Zusammenhang: „Aktuell werden Antisemitismen auffälligerweise auch unter marginalisierten Minderheiten mit migrantischen Hintergründen artikuliert. Für den mehrheitsdeutschen Umgang mit sekundärem Antisemitismus bietet sich dadurch eine Gelegenheit, zum einen das Problem jenseits der einheimischen Mehrheitsgesellschaft anzusiedeln und zum anderen die Nichtzugehörigkeit dieser ‚Nicht-ganz-Deutschen‘ bestätigt zu sehen. Dabei knüpft der Antisemitismus derer, die auch in der dritten Generation immer noch als ‚Migranten‘ bezeichnet werden, an jenen an, der in der deutschen Gesellschaft nach wie vor vorhanden ist.“ Messerschmidt, Astrid: Postkoloniale Erinnerungsprozesse in einer postnationalsozialistischen Gesellschaft – vom Umgang mit Rassismus und Antisemitismus. In: Peripherie – Zeitschrift für Politik und Ökonomie in der Dritten Welt, 28. Jahrgang 2008, Heft 109/110, S. 42–60, hier S. 48. 14 So lautet der Untertitel des Zeit-Artikels: „Zwei Deutschtürken versuchen, die deutsche Geschichte zu erklären – und treffen auf hartnäckige Vorurteile“.
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arbeiten. Einzelne „gute“ Migrant_innen werden einer Mehrheit von Jugendlichen, „die ein Problem haben“, gegenübergestellt. Neben der Tatsache, dass in dieser Form der Berichterstattung offensichtlich zahlreiche Bilder von „Anderen“ reproduziert werden, ist auch interessant, wie wenig die immer noch verbreitete nationale Form der Geschichtserzählung dabei verändert wird. Geschichtsvermittlung wird zum „Aufeinandertreffen unterschiedlicher Kulturen“, die sich möglichst respektieren sollen – die deutsche dominanzkulturelle15 Perspektive kann dabei weitgehend unangetastet bleiben. Die Frage, die hier dem entgegengestellt werden soll, ist eine andere: Mit dem Blickwechsel auf eine transnationale Geschichtsvermittlung zu Holocaust, Nazismus und Zweitem Weltkrieg in der postnazistischen Migrationsgesellschaft geht es darum, auszuhalten, dass die dominante gesellschaftliche Perspektive selbst herausgefordert wird. Eine aktuelle Geschichtsvermittlung in der Migrationsgesellschaft muss sich also nicht bloß geschichtspolitischen und vermittlungstheoretischen Diskursen zum Nazismus stellen, sondern auch Ansätzen, wie sie in den Bereichen Migrationspädagogik und kritische Migrationsforschung formuliert werden. Diese fordern die gängige, noch immer weitgehend national geprägte schulische und außerschulische Vermittlung insofern heraus, als sie Fragen nach der Definitionsmacht und den mächtigen Unterscheidungen zwischen einem „Wir“ und seinen „Anderen“ in der Gesellschaft stellen sowie Zuschreibungen und damit verbundene „natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeitsverhältnisse“ bearbeiten, ohne Antworten bereits vorwegzunehmen.16 15 Im Unterschied zum Begriff der Mehrheitsgesellschaft, der die Dominanz einer gesellschaftlichen Gruppe implizit der Anzahl ihrer Mitglieder zuschreibt und damit analytisch ungenau ist, betont der Begriff der Dominanzkultur den deutlich zentraleren Aspekt gesellschaftlicher Machtverhältnisse. Vgl. zum Konzept der Dominanzkultur: Rommelspacher, Birgit: Dominanzkultur. Texte zu Fremdheit und Macht. Berlin: Orlanda Frauenverlag 1995. 16 Vgl. Mecheril, Paul: Migrationspädagogik. Hinführung zu einer Perspektive. In: Mecheril, Paul/Castro Varela, María do Mar/Dirim, İnci/Kalpaka,
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Vor diesem Hintergrund wird hier also nicht nach einer spezifischen Form der Vermittlung für „Migrant_innen“ gefragt; vielmehr geht es um die Formulierung von Konsequenzen, wie sie aufgrund der Realität der Migrationsgesellschaft für das Verständnis von Bildung insgesamt und dessen konkrete Implikationen für die Vermittlung zu Holocaust, Nazismus und Zweitem Weltkrieg zu ziehen wären. Es geht also um einen Versuch, sich immer wieder neu nicht der Arbeit einer unabschließbaren Geschichtsvermittlung zu entziehen. Sich ihr zu stellen, steht mit einer Analyse der bestehenden gesellschaftlichen, diskursiven und geschichtspolitischen Bedingungen für die Geschichtsvermittlung in Verbindung. Die Migrationsgesellschaft ist eine davon. Einige weitere seien hier kurz vorgestellt:
Aufgaben im Generationenwechsel In der Literatur wird immer wieder auf eine große Veränderung der Erinnerung an den Holocaust hingewiesen, die mit einem Generationenwechsel und dem damit verbundenen Tod der Überlebenden in Verbindung steht.17 Nachdem Zeitzeug_innen eine zentrale Funktion in der Tradition der schulischen und außerschulischen Vermittlung des Holocaust eingenommen haben, geht damit die Notwendigkeit einer Neuorientierung einher. Diese ist nicht bloß eine Frage der Methodik/Didaktik, sondern betrifft die Inhalte und die Ziele der Geschichtsvermittlung selbst. Annita/Melter, Claus: Migrationspädagogik. Weinheim/Basel: Beltz 2010, S. 7–22, hier S. 13. 17 Vgl. Georgi, Viola B.: Entliehene Erinnerung. Geschichtsbilder junger Migranten in Deutschland. Hamburg: Hamburger Edition 2003, S. 13; Michelsen, Jens: Von der Begegnung zum Bild. Zeitzeugenschaft in der kommunikativen und kulturellen Erinnerung. In: Lenz, Claudia/Schmidt, Jens/Wrochem, Oliver von (Hg.): Erinnerungskulturen im Dialog. Europäische Perspektiven auf die NS-Vergangenheit. Münster: Unrast 2002, S. 161–172.
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In gewisser Weise müssen nachgeborene Vermittler_innen sich die Frage stellen, in welchem Verhältnis sie zu den Überlebenden, deren Erzählungen und Ansätzen stehen. Das Zitat, das dieser Einleitung als Motto vorangeht, verdankt sich vielleicht auch deshalb einem Zeitzeugen. Es ist Max Mannheimer, der Präsident der Lagergemeinschaft Dachau, der den rabbinischen Satz aus den Sprüchen der Väter zitiert und dabei die Gegenwart der Erinnerung mit einem Lernen für die Zukunft verbindet. In seinem Text fragt er: „Wie viel Erinnerung braucht der Mensch?“,18 und stellt sich selbst in den Zusammenhang des rabbinischen Wortes. Er schreibt: „Wenn ich dieses Wort auf mich beziehe, so heißt das, in meiner Arbeit weitermachen, für kommende Generationen weitergeben, was an Erinnerung und Mahnung notwendig ist.“19 Diese Arbeit (die er nicht vollenden kann) bedeutet für ihn und viele andere Zeitzeug_innen weit mehr als die Auseinandersetzung mit den Morden der Nazis. Über sie zu sprechen, soll für die Zukunft wirksam werden. Er schreibt: „Was ich den Jugendlichen heute mitgeben oder sagen möchte: Stärkt die Demokratie, seid wachsam gegenüber jeder Regung von Rassismus, Intoleranz und Fremdenfeindlichkeit.“20 Dieser starke Wunsch der Überlebenden und Zeitzeug_innen, aus der pädagogischen Auseinandersetzung mit dem Holocaust und dem Nazismus Schlüsse und Handlungsaufforderungen für die Zukunft zu ziehen, kann in einer gegenwärtigen Vermittlungspraxis weder verleugnet werden, noch kann ihm einfach Folge geleistet werden.21 Denn welche pädagogische und gesellschaftliche Pflicht sich aus den Verbrechen ergibt, welche Handlungskonsequenzen für die Zukunft gezogen werden sollen, sind 18 19 20 21
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Mannheimer: Wie viel Erinnerung braucht der Mensch? Ebd., S. 20. Ebd., S. 21. Dank an Lisa Bolyos, die mich darauf aufmerksam gemacht hat, dass unsere Überzeugungen – die die geschichtspolitische und vermittelnde Arbeit begleiten – nicht einfach über die Wünsche und Zugänge der Überlebenden hinweggehen können, wenn sie diesen auch nicht hörig Folge leisten müssen.
derzeit offene, geschichtspolitisch umkämpfte Fragen, die – vor allem anhand der Stichworte Singularität und Universalisierung des Holocaust – in dieser Studie genauer untersucht werden. Ein Generationenwechsel in der Erinnerung ist mit der Notwendigkeit verbunden, aktuelle Neudefinitionen vorzunehmen. Der Historiker Michael Jeismann spricht sogar davon, dass es heute nicht mehr so sehr um das ginge, was tatsächlich geschah, sondern darum, „wie das Geschehene erzählt und vergegenwärtigt werden soll“.22 Allerdings findet die Auseinandersetzung um die Repräsentation des Holocaust, des Nazismus und des Zweiten Weltkriegs nicht im luftleeren Raum, sondern vor dem Hintergrund vergangener und aktueller geschichtspolitischer Kämpfe statt – und an diesen waren und sind Überlebende seit 1945 maßgeblich beteiligt. Eine zeitgenössische Geschichtsvermittlungstheorie und -praxis definiert sich in diesem Spannungsfeld: Sie muss sich aktuell und neu positionieren und kann dennoch nicht einfach über Definitionen und Herangehensweisen der Überlebenden – sowie damit verbundene, oft stark ethisch aufgeladene Perspektiven – hinweggehen. Wenn hier also stärker der aktuellen vermittlungstheoretischen These gefolgt wird, dass die Auseinandersetzung mit dem Holocaust niemand notwendig zu einem besseren Menschen macht, soll dadurch dennoch die Aufgabe, die mit dem rabbinischen Motto angesprochen ist, nicht geschmälert werden. Und so beginnt die Auseinandersetzung hier bewusst mit den Worten und Motivationen Max Mannheimers – auch im Hinblick auf ihren antirassistischen Horizont.
Identitätsstiftung und Depolitisierung der Erinnerung Ein weiterer Hintergrund gegenwärtiger Geschichtsvermittlung, der hier einleitend angesprochen werden soll, ist eine diskursive 22 Jeismann, Michael: Auf Wiedersehen Gestern. Die deutsche Vergangenheit und die Politik von morgen. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 2001, S. 140.
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Veränderung, die sich mit einem neuen deutschen Selbstbewusstsein nach der Wiedervereinigung für den Gegenstand des Holocaust und des Nazismus ergeben hat: In den letzten zwanzig Jahren hat sich in Deutschland und teilweise (wenn auch viel ambivalenter) auch in Österreich ein neues Master Narrative in Bezug auf die Shoah durchgesetzt.23 „Immer mehr Menschen scheinen die NS-Verbrechen und insbesondere den Holocaust ‚verstanden‘ und ‚internalisiert‘ zu haben“,24 schreibt die Historikerin Cornelia Siebeck. Teilweise geht dies sogar so weit, wie Hanno Loewy bereits 2000 kritisierte, dass die Erinnerung an die Verbrechen des Nazismus in der Bundesrepublik dazu gebraucht würde, Identität zu stiften. So spricht er polemisch von einer „ethnisierenden Form des Nationalismus“25: Was zunächst wie ein Schuldbekenntnis aussehe, meint Loewy, sei nichts anderes als eine Identität der Ausgrenzung.26 Astrid Messerschmidt pflichtet Loewy bei, wenn sie schreibt: „Der Holocaust eignet sich nicht als Grundlage für den Aufbau einer nationalen Identität. Die Versuche, deutsche Identität auf dieses Ereignis zu gründen, wiederholen nur den ausschließenden Gestus des deutschen Nationalprojekts.“27 In einem anderen Kontext findet sie sogar noch deutlichere Worte:
23 Vgl. Traverso, Enzo: Gebrauchsanleitungen für die Vergangenheit. Geschichte, Erinnerung, Politik. Münster: Unrast 2007. 24 Siebeck, Cornelia: Gedächtnis, Macht, Repräsentation. Zur (Un-)Möglichkeit demokratischer Gedenkstätten. Vortrag auf dem 16. Workshop zur Geschichte der Konzentrationslager: „Neue Perspektiven der Konzentrationslagerforschung: Ort, Ereignis und Gedächtnis“, Oświęcim/ Gedenkstätte Auschwitz, 21. bis 25. Mai 2010 (unveröffentlichter Abstract). 25 Loewy, Hanno: Deutsche Identitäten vor und nach dem Holocaust. In: Erler, Hans/Ehrlich, Ernst-Ludwig (Hg.): Jüdisches Leben und jüdische Kultur in Deutschland. Geschichte, Zerstörung und schwieriger Neubeginn. Frankfurt am Main: Campus 2000, S. 240–251, hier S. 246. 26 Vgl. ebd. 27 Messerschmidt, Astrid: Erinnerung jenseits nationaler Identitätsstiftung. Perspektiven für den Umgang mit dem Holocaust-Gedächtnis in der Bildungsarbeit. In: Lenz/Schmidt/Wrochem (Hg.): Erinnerungskulturen im Dialog, S. 103–114, hier S. 104.
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„In dem Versuch, aus der NS-Vergangenheit ein nationales Gut geglückter Erinnerungsarbeit zu machen, wird Geschichte abgeschlossen und aus der Erinnerung verdrängt. Sie wird zu einem Vehikel nationaler Identität in einer Gesellschaft, die sich ausgesprochen schwer damit tut, sich selbst als eine Einwanderungsgesellschaft anzuerkennen, obwohl sie eine lange Migrationsgeschichte hat.“28
Cornelia Siebeck vertritt darüber hinaus die These, dass in Verbindung mit einer neuen deutschen Identität der Verantwortung für die Geschichte eine Depolitisierung stattfindet: „Gesellschaft wird zu Gemeinschaft harmonisiert.“29 Die Verkomplizierungen einer Positionierung zwischen der Notwendigkeit der spezifischen Perspektivierung im Postnazismus einerseits und der Gefahr einer ausschließenden Identitätsstiftung andererseits werden in dieser Studie untersucht und im Hinblick auf eine aktuelle Geschichtsvermittlung diskutiert. So haben sich die Kontexte der Geschichtsvermittlung stark verändert: Ging es in den ersten Jahren nach 1945 bis weit in die 1980er-Jahre30 noch darum, einen Raum für die Auseinandersetzung mit dem Holocaust geschichtspolitisch zu erkämpfen, handelt es sich heute um ein mehr oder weniger staatlich verordnetes Thema, dem sein kritisches Potenzial innerhalb vorgegebener nationaler Erinnerungskulturen abzuringen ist. Wie zu zeigen sein wird, geht dies mit entpolitisierenden Implikationen für die Geschichtsvermittlung einher, die viel mehr über die Gegenwart als über den historischen Gegenstand aussagen. So werden unter 28 Messerschmidt, Astrid: Weltbilder und Selbstbilder. Bildungsprozesse im Umgang mit Globalisierung, Migration und Zeitgeschichte. Frankfurt am Main: Brandes & Apsel 2009, S. 186. 29 Siebeck: Gedächtnis, Macht, Repräsentation. 30 Heer, Hannes/Ullrich, Volker: Die „neue Geschichtsbewegung“ in der Bundesrepublik. Antriebskräfte, Selbstverständnis, Perspektiven. In: dies. (Hg.): Geschichte entdecken. Erfahrungen und Projekte der neuen Geschichtsbewegung. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1985, S. 9–36.
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dem Stichwort der Multiperspektivität dennoch zahlreiche Perspektiven marginalisiert, während sich bei den historischen Positionen, die bevorzugt behandelt werden, starke Tendenzen der Individualisierung finden lassen (oft zum Zweck einer besseren pädagogischen Einfühlung). Zusammenfassen lassen sich die Positionen, die derzeit in der Geschichtsvermittlungspraxis Konjunktur haben, mit den Stichworten Opfer, Täter_in und Mitläufer_in, auf die hier kurz etwas genauer eingegangen werden soll: Wir haben es heute erstens mit einer Multiplikation und Ausdifferenzierung von Opferdiskursen zu tun, die in sich stark kulturalisiert werden und dennoch in ihrer Syntax und ihren Bildsprachen (ganz im Sinne einer „Globalisierung des Holocaust“31) an das Gedenken an die Shoah anknüpfen. Zweitens gibt es die Tendenz einer Ausarbeitung von Täter_innenperspektiven, denen es leider oft nicht gelingt, einer gewissen Ambivalenz zwischen Kritik und Affirmation – konkreter, zwischen Verurteilung und Empathie – zu entgehen. In Rekurs auf Raul Hilberg32 wurde drittens die Dichotomie von Opferund Täter_innenperspektiven um eine ganze Bandbreite von Zuschauer_innen- und Mitläufer_innenpositionen erweitert.33 Diese ermöglichen eine differenziertere Perspektivierung des gesellschaftlichen Profits am Nazismus sowie eine Auseinandersetzung mit Handlungsspielräumen. Diese Erweiterung ist wichtig. Wenn sie allerdings als einzig mögliche angesehen wird, stellt sie in gewisser Weise auch eine Schließung diskursiver Perspektiven dar. Sehr viel weniger Raum wird in aktuellen Unterrichts- und Vermittlungsformen etwa dem Widerstand eingeräumt.34 Während 31 Vgl. Levy, Daniel/Sznaider, Natan: Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001. 32 Vgl. Hilberg, Raul: Täter, Opfer, Zuschauer. Die Vernichtung der Juden 1933–1945. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1996. 33 Heyl, Matthias: „Holocaust Education“: Internationale Tendenzen im pädagogischen Umgang mit der Geschichte, http://www.fasena.de/ archiv/forschung.htm [Stand: 20.11.2012], S. 5 (erstmals erschienen in: Schriftenreihe Probleme des Friedens, 1/1999, Zivilisationsbruch Auschwitz, Idstein 1999, S. 27–43). 34 Vgl. Flierl, Thomas/Müller, Elfriede (Hg.): Vom kritischen Gebrauch der
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dieser in Ausstellungen, Gedenk- und Bildungsdiskursen in den ersten Jahren nach 1945 überbetont wurde (was in Verbindung mit einer Schuldabwehr auch zu Recht oft kritisiert wurde), scheint er heute nur noch am Rande behandelt zu werden. Widerstandsstrategien werden nur insofern thematisiert, als es sich um mutige, moralische Entscheidungen handelt, die zumeist einzelnen „Retter_innen“ zugeordnet werden. Die mit der Geschichte des Widerstands verbundene Form der politischen Organisation wird dabei zumeist nicht einmal erwähnt. So wird die kollektive Dimension des Widerstands ausgeblendet (steht doch Kollektivität der pädagogisch-moralischen Vereinfachung gemäß eher für den Nazismus). Ein Grund dafür mag in einer antikommunistischen Hegemonie liegen, die sich bereits unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs herausbildete und die freilich nach 1989 mit dem Wegfall kommunistischer Herrschaftsbereiche in Europa eine noch größere Ausprägung erfuhr. Dan Diner macht darauf aufmerksam, dass ein allgemeiner Anti-Kriegs-Konsens eine positive Bezugnahme auf die militärische Dimension der Befreiung durch die Alliierten in den Hintergrund treten lässt. „So lässt eine die Kriegsumstände hintansetzende Geschichtserzählung über den Holocaust es etwa zu, die Alliierten angesichts des ungeheuerlichen Geschehens vorgeblicher Untätigkeit zu zeihen. [...] An die Stelle des verloren gegangenen historischen Urteilsvermögens tritt ein universell drapierter moralisierender Diskurs über unterschiedslose Opferschaft.“35 Gerade in einer Auseinandersetzung mit Dimensionen des Zweiten Weltkriegs läge allerdings eine Möglichkeit multiperspektivischer Geschichtserzählung in der Migrationsgesellschaft. In Österreich beziehen sich etwa zahlreiche Jugendliche auf den Erinnerung. Berlin: Dietz 2009. Die Tendenz einer Moralisierung von Erinnerungsdiskursen bei gleichzeitiger Dethematisierung antifaschistischer Positionen wird hier in mehreren Beiträgen zur Sprache gebracht. Sophia Schmitz und Steffen Kreuseler stellen in dem Band das ERA – European Resistance Archive (http://www.resistance-archive.org) vor. 35 Diner, Dan: Gegenläufige Gedächtnisse. Über Geltung und Wirkung des Holocaust. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, S. 9.
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Zweiten Weltkrieg in Jugoslawien – und zwar sowohl auf die damit verbundenen Verbrechen der Wehrmacht als auch auf die Kämpfe der und die Befreiung durch die Partisan_innen.36 Neben diesen Aspekten eröffnet eine postkoloniale Geschichte zahlreiche weitere konkrete Fragen, Verbindungen und Ansätze, die Verstrickungen zwischen Kollaboration und Widerstand beinhalten und sich schwerlich in die Dreiheit von Täter_in, Opfer und Zuschauer_in fassen lassen.37 Diesen und weiteren Überlegungen zu einer anderen Multiperspektivität, der es gelingen kann, zugleich viel mehr Bezüge einzubeziehen und dabei dennoch nicht beliebig, sondern positioniert vorzugehen, soll hier nachgegangen werden.
Zwischen Theorie und Praxis Aus diesen ersten grundlegenden Reflexionen wird bereits klar, dass eine Geschichtsvermittlung, die sich als unabschließbare, kritische und insistierende Praxis verstehen will, zahlreiche Fragen und Widersprüche mit sich bringt, die hier aus einer poststrukturalistischen bildungs- und museumstheoretischen Perspektive verfolgt werden. Diese Studie ist zwischen Theorie und Praxis angesiedelt: Sie entstand mitten im Prozess der Praxis, verdankt sich 36 Dies konnten wir sowohl im Zuge der Vermittlung für die Wiener Präsentation der Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941–1945“ als auch im Rahmen des im zweiten Teil dieser Studie behandelten Projekts feststellen. Zu den Erfahrungen in der Ausstellung vgl. Büro trafo.K (Sternfeld, Nora/Höllwart, Renate/MartinzTurek, Charlotte)/Pollak, Alexander: In einer Wehrmachtsausstellung. Erfahrungen mit Geschichtsvermittlung. Wien: Turia + Kant 2003. 37 Diesen Überlegungen widmet sich Ines Garnitschnig aus der Sicht einer sozialwissenschaftlichen Geschichtsbewusstseinsforschung: So geht es in ihrer Arbeit im Rahmen des Projekts „Und was hat das mit mir zu tun?“ besonders darum, spezifische, bisher wenig wissenschaftlich beachtete, marginalisierte oder unzureichend gedeutete Erinnerungen an und Haltungen zu Nazismus, Holocaust und Zweitem Weltkrieg kennenzulernen und analytisch angemessen zu fassen. Vgl. Garnitschnig, Ines: Geschichtsbilder zu Nazismus und Shoah in der postnazistischen Migrationsgesellschaft und die Bedeutung transnationaler Aushandlungs- und Vermittlungskontexte (Arbeitstitel).
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einerseits deren Erfahrungen und will andererseits auch für diese wirksam werden.38 Sie folgt dabei einem Prinzip der „Dringlichkeit“. Die Theoretikerin und Kuratorin Irit Rogoff spricht von „Urgency“ im Bereich der „Education“ als jenem Prozess, der vor entscheidenden Fragen nicht zurückschreckt, jedoch auch nicht bloß reaktiv handelt (das würde sie mit „Emergency“ bezeichnen), sondern sich den Dringlichkeiten produktiv und affirmativ stellt. Vor diesem Hintergrund ging der theoretischen Reflexion ein zweijähriger Prozess der Vermittlungspraxis im Rahmen von Büro trafo.K am Brigittenauer Gymnasium im 20. Wiener Gemeindebezirk voraus. Dafür wurden zahlreiche Überlegungen angestellt, Konzepte entwickelt, Ansätze erprobt, reflektiert, revidiert und neu formuliert. Die Erfahrungen und die Fragen, die sich im Zuge der praktischen Arbeit gestellt haben, sollen hier mit aktueller Theorieproduktion verknüpft und systematisiert werden, um wiederum für die Praxis fruchtbar gemacht werden zu können.39
„Und was hat das mit mir zu tun?“ – Ein Forschungs- und Bildungsprojekt Unter dem programmatischen Titel „Und was hat das mit mir zu tun?“ untersuchte das Projekt von Büro trafo.K „transnationale Geschichtsbilder zur NS-Vergangenheit“40 und tat dies auf der 38 Im Kontext des Förderprogramms Sparkling Science des österreichischen Wissenschaftsministeriums versteht sie sich als Baustein eines Projekts, in dem sich Theorie und Praxis permanent verschränken und füreinander wirksam werden. 39 So fanden im zweiten Jahr des Forschungsprojekts Theoriearbeit und Praxis der Geschichtsvermittlung gleichzeitig statt. Darüber hinaus befindet sich zugleich eine empirische Arbeit von Ines Garnitschnig in Entstehung. Die Perspektiven der Theorie und der Forschung wurden also ständig in einem transdisziplinären Prozess miteinander und mit der Praxis in Verbindung gebracht. 40 Ein Projekt von Büro trafo.K, durchgeführt im Rahmen des Förderprogramms Sparkling Science, gefördert vom Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung. Wesentliches Ziel des Projekts „,Und was hat das mit mir zu tun?‘ Transnationale Geschichtsbilder zur NS-Vergangenheit“
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Basis eines Vermittlungsprozesses mit Schüler_innen des Wiener Brigittenauer Gymnasiums.41 Dabei wurden unterschiedliche Zugänge und Formen der Erkenntnisproduktion wie Sozialwissenschaft, Museologie und Theorien zur Geschichtsvermittlung mit einer konkreten Vermittlungspraxis verbunden, was wiederum zu Ergebnissen führte, die sich in Form von Interventionen in eine Ausstellung in der Gedenkstätte Karajangasse42 am Brigittenauer Gymnasium in Wien einschrieben. Die theoretischen Überlegungen und sozialwissenschaftlichen Erkenntnisse wurden laufend mit der Vermittlungspraxis abgestimmt. Dabei waren die Schüler_innen weder nur Objekte der Forschung noch bloße Adressat_innen der Vermittlung, sondern erarbeiteten vielmehr selbst als handelnde Akteur_innen Interventionen in eine Gedenkstätte. Die Ergebnisse der Praxis konnten ihrerseits wiederum Quellen für die Forschung werden. Auf der Basis der Entwicklung von eigenen Recherchefragen der Schüler_innen sind Interventionen war es, Beiträge zu derzeit lebhaft diskutierten Fragestellungen in Ge schichtswissenschaft, Pädagogik, Museologie, empirischer Sozialwissenschaft und Migrationsforschung zu liefern. Dies geschah in Zusammenarbeit mit Schüler_innen und Lehrer_innen des Brigittenauer Gymnasiums in Wien. Angesiedelt an der Schnittstelle zwischen Forschung und Bildung, arbeiteten an dem Projekt im Rahmen von Büro trafo.K: Renate Höllwart, Elke Smodics-Kuscher, Nora Sternfeld, Ines Garnitschnig, gemeinsam mit Dirk Rupnow. trafo.K: Forschungsprojekt „Und was hat das mit mir zu tun?“, http://www. trafo-k.at/prodetail.php?id=50&refer=proauswahl.php?p=1 [Stand: 20.11.2012] und Sparkling Science: Projekt „Transnationale Geschichtsbilder“, http://www.sparklingscience.at/de/projects/312-transnationa le-geschichtsbilder/ [Stand: 20.11.2012]. 41 Die Vermittlungsarbeit wurde konzeptionell und in der Umsetzung schwerpunktmäßig von Renate Höllwart, Elke Smodics-Kuscher und mir getragen. Renate Höllwart und Dirk Rupnow leiteten das Projekt. 42 Der Standort des heutigen Brigittenauer Gymnasiums hat selbst einen historischen Bezug zu Nazismus und Holocaust. Ein Gebäudeteil – eine ehemalige Volksschule – war 1938 zu einem Gestapo-Gefängnis umfunktioniert worden. Die Häftlinge waren in den Klassenräumen interniert – viele von ihnen wurden von dort nach Dachau deportiert. Seit den späten 1980er-Jahren thematisieren Lehrer_innen und Schüler_innen die Geschichte des Ortes in einer Gedenkstätte in den Kellerräumen der Schule. Vgl. http://www.borg20.at/index.html/index.php/smgedenk [Stand: 20.11.2012].
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entstanden, die bei mehreren Veranstaltungen unter dem Titel „Gespräche zu Geschichtsvermittlung“ gemeinsam mit den Jugendlichen in der Gedenkstätte Karajangasse präsentiert wurden.
Ziele und Herangehensweise In dieser Studie wird ein theoretisches Instrumentarium für die Geschichtsvermittlungspraxis zum Holocaust, dem Nazismus und dem Zweiten Weltkrieg an Jugendliche in der postnazistischen Migrationsgesellschaft entwickelt. Dies geschieht nach einer Begriffsklärung in zwei Schritten: Der erste Teil dient einer thematischen Verortung in Theorie und Praxis. Zunächst scheint es wichtig, die für das Thema relevante – und bisher weitgehend unverbundene – Theorieproduktion aus unterschiedlichen Feldern zusammenzuführen. Dafür wird in einem ersten Schritt die Idee der Contact Zone, die die postkolonialen Theoretiker_innen Mary Louise Pratt und James Clifford formuliert haben, vorgestellt und für das Thema produktiv gemacht. Vor dem Hintergrund des Konzepts der Contact Zone wird in der Folge ein synthetisierender Überblick über wichtige Begriffe in der für die Vermittlung wesentlichen Literatur aus den Bereichen der Geschichtsdidaktik und der Holocaust Education sowie der reflexiven Bildungswissenschaft, der kritischen Migrationspädagogik und der Vermittlungstheorie gegeben. Dieser dient als Grundlage für die Erarbeitung eines Vokabulars der Geschichtsvermittlung, das im zweiten Teil der Studie angewendet wird: Begriffe, die in der aktuellen Geschichtsvermittlung Konjunktur haben, werden auf ihre Entstehungskontexte, Konnotationen und Wirksamkeiten hin befragt und im Hinblick auf kritische Potenziale und Handlungsoptionen genauer gefasst bzw. neu besetzt. Der zweite Teil beginnt mit einer Reflexion der Erfahrungen aus der Praxis. Das Projekt „Und was hat das mit mir zu tun?“ im Brigittenauer Gymnasium in Wien wird in seinen Ansätzen und Herangehensweisen vorgestellt. Die konkreten Erfahrungen mit 25
Konzepten und Abläufen in der Vermittlungspraxis werden beschrieben und im Hinblick auf ihre Fragen und Aufgaben – in ihren Erfolgen sowie in ihrem Scheitern – reflektiert. Dabei wird Geschichtsvermittlung als kritische, aktiv-reflexive, offene und positionierte Praxis vorgestellt und vorgeschlagen. Auf dieser Basis werden dann Schlüsse für eine aktuelle, transnationale Geschichtsvermittlungspraxis in der postnazistischen Migrationsgesellschaft gezogen. Diese stehen gleichermaßen im Kontext des Stands der Debatten in den unterschiedlichen wissenschaftlich-pädagogischen Bereichen, die hier zusammengeführt werden, wie der Erfahrungen und Dringlichkeiten in der Praxis. Dabei geht es um Herausforderungen der Geschichtsvermittlung in ihren beiden unterschiedlichen wichtigsten Handlungsräumen: in der Schule und in Gedenkstätten. Jede Geschichtsvermittlung hat zwei zusammenhängende und dennoch unterschiedliche Aufgaben: Sie hat darüber zu verhandeln, was geschehen ist, und darüber, was es für die Gegenwart bedeutet. Vor dem Hintergrund einer gleichermaßen geteilten und umkämpften Geschichte, die stets aus dem Heute zu verstehen ist, werden Ansätze der Aktualisierung diskutiert. Dabei wird es darum gehen, eine Geschichtsvermittlung der Verstrickungen zu denken und dabei Räume für unerwartete Bezüge und „gegenläufige Gedächtnisse“43 zu öffnen. In diesem Zusammenhang wird sich auch die Frage stellen, wie – d. h. mit welchen Mitteln, unter welchen Bedingungen und vor allem vor dem Hintergrund welchen Horizontes – Räume nicht nur geöffnet, sondern auch geschlossen werden müssen. Hier wird es auch um den Umgang mit revisionistischen, antisemitischen und rechtsextremen Artikulierungen gehen. Was sind die Grenzen der Offenheit, wenn Bildung und Gemeinschaft poststrukturalistisch gedacht werden sollen? Mit der Frage nach der Schließung von Räumen erhält auch die politisch-theoretische Ebene der Beschäftigung mit der Contact Zone und der radikalen Demokratie – welche die 43 Diner: Gegenläufige Gedächtnisse.
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theoretische Grundlage für die vorliegende Auseinandersetzung mit Geschichtsvermittlung bildet – eine weitere Dimension. Denn Prozesse sind nicht unbedingt demokratischer, wenn Ausschlüsse nicht vollzogen bzw. nicht thematisiert werden. Aber um demokratische Räume solchermaßen denken zu können, müssen diese erst geöffnet werden. Und ohne eine Vollendung dieses Projekts bewerkstelligen zu wollen, soll dies im Folgenden geschehen.
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