Paula Pfoser Bilder der Dekolonisation Repräsentationen Afrikas im frühen österreichischen TV
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Paula Pfoser BILDER DER DEKOLONISATION Repräsentationen Afrikas im frühen österreichischen TV
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Gefördertes Sonderprojekt der Österreichischen HochschülerInnenschaft; unterstützt durch die Studienvertretung bildende Kunst der Hochschüler_innenschaft der Akademie der bildenden Künste Wien; gedruckt mit Unterstützung durch die Kulturabteilung der Stadt Wien, Wissenschafts- und Forschungsförderung.
Autorin und Verlag danken allen Urheberrechtsinhaber_innen von Bildmaterial für die freundliche Genehmigung zum Abdruck, insbesondere der ORF-ENTERPRISE GmbH & Co KG (Abb. 1, 2 und 15-19 sowie Umschlagbild). Aufgrund des Alters der analysierten Beiträge konnten trotz intensiver Recherchen nicht alle Nachrichtenagenturen mit etwaigen Rechtsansprüchen auf das verwendete Bildmaterial ermittelt werden. Der Verlag ist bereit, diese nach verlagsüblichen Richtlinien abzugelten. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © Zaglossus e. U., Wien, 2016 1. Auflage 2016 Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Juma Hauser unter Verwendung eines Ausschnitts aus dem Startvorlauf eines ORF-Nachrichtenbeitrags Druck: Prime Rate Kft., Budapest Printed in Hungary ISBN 978-3-902902-42-9 Zaglossus e. U. Vereinsgasse 33/12+25, A-1020 Wien E-Mail: info@zaglossus.eu www.zaglossus.eu
Inhalt 1 Einleitung
9
2 Postkolonialismus und Österreich
21
2.1 Kontextualisierungen: Dekolonisationen afrikanischer Staaten südlich der Sahara
21
2.2 Historischer Kontext in Österreich
34
2.2.1 (Post-)Kolonialismus und Österreich
38
3 Das frühe österreichische Fernsehen
51
3.1 Fernsehen als Medium (neuer) nationaler Zugehörigkeit
51
3.2 Globale Perspektivierung und globales Gemeinschaftsbewusstsein?
56
3.3 Objektivitätsversprechen und Konsens
63
3.3.1 Fernsehen und Möglichkeiten oppositioneller Artikulationen
69
3.4 Österreichische Produktionsbedingungen der Nachrichtenberichterstattung aus Ländern Afrikas südlich der Sahara um 1960
71
3.5 Zugang zum ORF-Archiv
74
3.6 Thematisierungen afrikanischer Länder südlich der Sahara im frühen österreichischen Fernsehen
78
3.6.1 Formale Charakteristika der Nachrichtenberichterstattung
83
4 TV-Repräsentationen Afrikas südlich der Sahara analysieren
85
4.1 „Das Jahr des schwarzen Mannes“: Jahresrückblick 1960
89
4.1.1 Textuelle und visuelle Gestaltungsmittel
90
4.1.2 Vermeintliche Anerkennung als Ort der Markierung ethnischer und rassisierter Differenz
106
4.2 Kontinuitätsinszenierungen: Unabhängigkeiten afrikanischer Staaten im ORF
109
4.2.1 „With dignity and with mutual expressions of esteem and good will“: Britische Unabhängigkeitsnarrative
110
4.2.2 Textuelle und visuelle Gestaltungsmittel
114
4.2.3 Planvolle Zelebrationen der Unabhängigkeit: Koloniale Blicke auf Dekolonisation 140
4.3 „Von Jahr zu Jahr besser“: Modernisierung im ORF
146
4.3.1 Visuelle und textuelle Gestaltungsmittel
147
4.3.2 Rhetorische Appropriation der ‚Anderen‘
165
4.4 Das Eigene und die Anderen: Entwicklungshilfe in Österreich im ORF
169
4.4.1 Textuelle und visuelle Gestaltungsmittel
172
4.4.2 „Dass das hinausgeworfenes Geld ist, ist in der Regel falsch“: Publikumsorientierte Rhetoriken der Entwicklungshilfe
194
5 Fazit und Ausblick
197
Anmerkungen
205
Literaturverzeichnis
219
Beiträge und Sendungen des ORF – analysiertes Quellenmaterial
239
Abbildungsverzeichnis
243
Dank
245
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1 Einleitung „Die Dekolonisation geschieht niemals unbemerkt, denn sie betrifft das Sein, sie modifiziert das Sein grundlegend, sie verwandelt die in Unwesentlichkeit abgesunkenen Zuschauer in privilegierte Akteure, die in gleichsam grandioser Gestalt vom Lichtkegel der Geschichte erfaßt werden. Sie führt in das Sein einen eigenen, von den neuen Menschen mitgebrachten Rhythmus ein, eine neue Sprache, eine neue Menschlichkeit.“ Frantz Fanon (2007: 28) In Les Damnés de la Terre (dt. Die Verdammten dieser Erde) warnte 1961 der Kulturtheoretiker, Psychiater und antikoloniale Aktivist Frantz Fanon, die neuen afrikanischen Staaten seien durch neokoloniale Verstrickungen und die Korrumpierung der bürgerlichen Elite bedroht. Wie die oben zitierten Sätze zeigen, machte Fanon in demselben Werk aber auch deutlich, dass die Unabhängigkeit der vormals kolonisierten Länder nichts weniger bedeutete als den Aufbruch aus und die Befreiung von lang andauernder politischer, wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und psychologischer Unterdrückung: Seine emphatischen Worte spiegeln die Hoffnungen auf eine maßgebliche Veränderung wider, die die Identitäten der Dekolonisierten erfassen und zu einem neu artikulierten Sein führen würde. Zugleich – auch wenn sich Fanon in Les Damnés de la Terre vornehmlich an die (ehemals) kolonisierten Völker wendet – lassen die Zeilen die Zuversicht sichtbar werden, 9
Bilder der Dekolonisation
dass der Dekolonisation die Kraft innewohnt, weit über die Grenzen der früheren Kolonien zu wirken, indem sie eurozentristisch orientierte Wahrnehmungsweisen zu verändern oder gar auszulöschen vermag. Der Lichtkegel, den Fanon nun auf die neuen Akteur_innen1 fallen sieht, scheint die Revision tradierter Narrationen und Rezeptionsweisen des afrikanischen Kontinents möglich zu machen. Dieser Lichtkegel muss als Modifikation der Aufmerksamkeit gesehen werden, die, wenn sie die unmittelbare Umgebung überschreiten will, grundsätzlich an die mediale Vermittlung gebunden ist. Man weiß nicht, ob Fanon damals auch an das Fernsehen gedacht hat, die Emphase erinnert jedenfalls an die Hoffnungen, die der US-amerikanische Medientheoretiker Marshall McLuhan einige Jahre später in Bezug auf das neue Medium formuliert hat: nämlich, dass dem Fernsehen die Kraft innewohne, zur Vereinigung aller Völker beizutragen. So meinte McLuhan etwa im 1964 erstmals auf Englisch veröffentlichten Understanding Media: „Im elektrischen Zeitalter, das unser Zentralnervensystem technisch so sehr ausgeweitet hat, daß es uns mit der ganzen Menschheit verflicht und die ganze Menschheit vereinigt, müssen wir die Auswirkungen jeder unserer Handlungen tief miterleben. Es ist nicht mehr möglich, die erhabene und distanzierte Rolle des alphabetischen westlichen Menschen weiterzuspielen.“ (McLuhan 1992: 12)
Das vorliegende Buch handelt von der – bei Fanon und McLuhan völlig unterschiedlich adressierten – Frage nach der „decolonization of imagination“ (Nederveen Pieterse/ Parekh 1995) und wendet diese auf die österreichischen Fernseh-Repräsentationen rund um die afrikanische 10
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Dekolonisation der späten 1950er- und der 1960er-Jahre an. Es fragt nach den Vor- und Darstellungen Afrikas, dominanten Topoi und Räumen der Repräsentation von afrikanischen und kolonialen Akteur_innen, der Zeitlichkeit und möglichen Spezifika der österreichischen Per spektive (und denen des österreichischen Fernsehens) in dieser Periode des Umbruchs. Die politische Emanzipation afrikanischer Länder südlich der Sahara begann 1957 mit der Dekolonisation Ghanas; fast alle anderen Länder der Region drängten zu dieser Zeit ebenso auf umfassende Autonomie und konnten sich in den Folgejahren tatsächlich von dem so lange andauernden Kolonialsystem befreien. Vor diesem Hintergrund fiel es auch dem damals als äußerst abgeschlossen geltenden Österreich sukzessive schwerer, seine Selbstzentriertheit und Kurzsichtigkeit gegenüber dem afrikanischen Kontinent beizubehalten. Gerald Hödl spricht von der damaligen Perspektive auf afrikanische, asiatische und lateinamerikanische Länder als „Entdeckung der Dritten Welt“ (Hödl 2004: 68)2, die er etwa ab 1955 ansetzt. Der Begriff der ‚Entdeckung‘ ist in seinem Euro- bzw. Austrozentrismus zweifelsohne ambivalent, was er aber deutlich macht und worauf er anspielt, ist, dass es dazumal zu einer Neukonfiguration des österreichischen Blickregimes kam: Es entwickelte sich eine neue Wahrnehmung Afrikas „durch und für“ (Kalter 2011: 9) die österreichische Politik, die, wie ich zeigen werde, sich auch im neu gegründeten österreichischen Fernsehen bemerkbar machte. Das Medium institutionalisierte sich in der Zeitspanne und stieg – nicht zuletzt durch den Niedergang der immer weniger rezipierten Wochenschauen im Kino3 – zum zentralen sowie staatlich organisierten Transmitter audiovisueller Afrika-Darstellungen in Österreich auf; also zu einem Medium, das auch Schlüsse auf die hegemoniale österreichische Positionierung zulässt. 11
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Indem dieses Buch an diesem Wendepunkt zwischen Spätkolonialismus und nachkolonialer Phase ansetzt, lautet seine Ausgangsfrage, inwieweit es um 1960 zu Verschiebungen in den Afrika-Repräsentationen kam und inwieweit diese Repräsentationen stabil geblieben sind. Die bisher vorliegende Literatur zum österreichischen Verhältnis zum (Post-)Kolonialismus für die Zeit nach 1955 ( Johnston-Arthur 2004; Pfeffer 2012; Sauer 2014) ist äußerst verdienstvoll, sie ist jedoch noch weit davon entfernt, dass daraus systematische Schlüsse über hegemoniale österreichische Afrika-Repräsentationen gezogen werden könnten; die wenigen Texte scheinen grob nachgezeichnet – im Gegensatz zu Hödls Ausführung der „Entdeckung der Dritten Welt“ – vorrangig eine Perspektive der Kontinuitäten zu betonen: Zuletzt legte etwa Walter Sauer am 15.12.2014 im Rahmen einer Buchpräsentation an der Akademie der bildenden Künste Wien dar, dass Österreich in der Zeit der Dekolonisation eine Chance verpasst habe, andere Bilder von und Beziehungen zu Afrika zu entwickeln. Die politischen Entwicklungen haben kaum Beachtung gefunden; auf alltagskultureller Ebene sei man, wie Sauer in Expeditionen ins afrikanische Österreich bemerkt, mit Afrika vor allem über stereotype Darstellungen pittoresker Exotik, zeitvergessener Ursprünglichkeit und ‚gefährlicher‘, ‚irrationaler‘ Untiefen in Berührung gekommen (Sauer 2014: 67). Auch die Analyse Hans Petschars und Georg Schmids zur Austria Wochenschau lässt solche Tendenzen vermuten, leitet man aus den Repräsentationen der Andersheit, exemplifiziert am Beispiel Indochinas, die nicht direkt angesprochenen Afrika-Darstellungen ab: Die Autoren identifizieren in den Wochenschauen eine „nachgerade sprichwörtlich[e]“ Fremdartigkeit und einen „sich umgehend einstellende[n] Eindruck des Exotischen“ durch die „Generierung von Distanz“ und die „Entrationalisierung“ 12
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des/der ‚Anderen‘ (Petschar/Schmid 1990: 93 ff.). Vielleicht noch drastischer, angewendet auf das politische Feld, formuliert es Clemens Pfeffers Untersuchung zu den österreichischen Nationalratsdebatten: In den Wortmeldungen der Parlamentarier sei, wie Pfeffer feststellt, zwischen 1955 und 1965 vorrangig die orientalistische Vorstellung eines „kulturlos[en], natürlich[en] und geschichtlos[en] Afrika“ (Pfeffer 2012: 111) reproduziert worden. Zugleich – um hier an die Veränderungen innerhalb der beschriebenen ‚Entdeckung‘ anzuschließen – hat Stuart Hall grundlegend festgehalten, dass der, wie er es berühmt formuliert hat, „Diskurs von ‚dem Westen und dem Rest‘“ über die Zeit nicht stabil geblieben ist, sondern es zum allmählichen Verbleichen spezifischer Formen oder ihrem Auftauchen in „neuen und modernisierten Bildern“ (Hall 1989b: 161) gekommen ist. Die österreichische ‚Entdeckung‘ Afrikas im TV bedeutete in der Folge natürlich nicht die gänzliche Auflösung exotistischer Darstellungsmodi, sondern, wie ich zeigen werde, Kontinuitäten und Diskontinuitäten, Verschiebungen und zugleich sich beharrlich haltende Topoi in den Darstellungsmustern. Davon spricht auch der Begriff des Postkolonialismus selbst: Das Präfix ‚Post-‘ steht nicht einfach für das Ende kolonialer Praktiken, sondern auch für deren Fortdauern. Kien Nghi Ha zufolge etwa ist der Begriff des Postkolonialen als eine Analysekategorie zu begreifen, die nicht auf etwas Vergangenes, Abgelegtes, sondern eben auf etwas Unabgeschlossenes aufmerksam macht (Ha 2004: 95). Zur Begriffsklärung möchte ich hier noch auf einen weiteren grundlegenden Terminus der Studie aufmerksam machen: Wie es das Eingangszitat Fanons implizit vorzeichnet, ist die Dekolonisation nicht nur als staatsrechtlicher Vorgang zu verstehen – so das Begriffsverständnis im engeren 13
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Sinn –, sondern sie gab auch einem weitaus größeren, zeitlich weniger präzise zu fassenden Prozess Antrieb: jenem der Dekolonisierung. Diese hilfreiche Unterscheidung von Dekolonisation und Dekolonisierung durch Christoph Kalter und Martin Rempe erlaubt es, die Auswirkungen der Dekolonisation – der formalen politisch-juridischen Unabhängigkeitswerdung – begrifflich besser zu fassen: Als umfassendere politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Transformation schließt Dekolonisierung den Wandel der Machtverhältnisse und von dominanten Vorstellungs- und Ordnungsmustern mit ein. Im Gegensatz zur Dekolonisation betrifft sie damit nicht nur die Kolonialmächte und die (post-)kolonialen Länder, sondern findet auch in anderen, nicht direkt involvierten Gesellschaften statt (siehe dazu Kalters Erläuterung, in der er Rempe als Hinweisgeber für diese Unterscheidung nennt; Kalter 2011: 30). Das vorliegende Buch handelt von den Afrika-Repräsentationen zwischen 1957 und 1965 und beschränkt sich, geografisch gesehen, auf das subsaharische Afrika – bzw. genauer, auf die Staaten, die in diesem Zeitabschnitt ihre Unabhängigkeit erlangten und in der ORF-Berichterstattung Erwähnung fanden.4 Nicht inkludiert sind damit die Beiträge über den Algerienkrieg (1954 bis 1962) oder den ca. 1961 beginnenden antikolonialen Guerillakampf gegen die portugiesische Kolonialherrschaft in PortugiesischGuinea, Angola und Mosambik. Weiters fehlen auch jene Beiträge, die – zumindest am Rande – über die in Gesetze gegossenen, rassistischen Strukturen der Apartheidpolitik berichteten, die etwa im Kontext des Massakers in Sharpeville am 21. März 1960 an eine breitere Öffentlichkeit gelangten und international zur hegemonialen Verurteilung des südafrikanischen Regimes führten. Dass ich also bei 14
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Weitem nicht das gesamte Spektrum der Afrika-Berichterstattung abbilde, ist der Materialmenge geschuldet und der Notwendigkeit entsprechender Kontextualisierung, die schlicht meine Kapazitäten gesprengt hätte. Der zeitliche Rahmen orientiert sich an der Entwicklung des Fernsehens – mit 1957 beginnt die im historischen Archiv des ORF verwahrte, hierfür relevante Berichterstattung – und der Dekolonisation selbst: Spezielles Augenmerk liegt auf dem Jahr 1960, als gleich 17 Länder unabhängig wurden; der Endpunkt im Jahr 1965 bezieht sich auf die von Dietmar Rothermund anberaumte Kernphase der Dekolonisationsperiode zwischen 1947 und der Mitte der 1960er-Jahre (Rothermund 2006: 1), als nur mehr wenige Länder, etwa die portugiesischen Siedler_innenkolonien, weiterhin besetzt blieben. Etablierte Periodisierungsmodelle der Dekolonisation, die diesbezüglich nicht Berücksichtigung finden können, setzen den Zeitraum übrigens meist weiter an – gesprochen wird etwa von einer klassischen bzw. dritten Phase5 nach 1945 ( Jansen/Osterhammel 2013: 7). Das Buch beginnt mit historischen und theoretischen Kontextualisierungen in den folgenden beiden Kapiteln und verortet das (frühe) Fernsehen insbesondere als spezifisches Feld von Macht-Wissens-Konstellationen. Ich folge mit einer solchen Perspektive einem inzwischen eta blierten Verständnis des Fernsehens als dispositive Anordnung, demzufolge die Isolierung von Fernsehsendungen und -beiträgen nur bedingt zu einem Verständnis ihres Inhalts führt: Fernsehprogrammteile sind eben nicht von ihrer Umgebung unabhängige Produkte, sondern bewegen sich innerhalb einer bestimmten gesellschaftlichen Wirklichkeit und gestalten diese mit (Bernold 2001: 16). Auf die Notwendigkeit einer über einzelne Sendungsanalysen 15
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hinausgehenden Betrachtung haben Fernsehhistoriker_ innen und -theoretiker_innen deswegen immer wieder – u. a. in Zusammenhang mit ebenjener Auffassung des Fernsehens als Dispositiv – hingewiesen.6 Dem größeren institutionellen Kontext, in den die analysierten Beiträge eingebettet sind – Institutions-, Programm- und Technikgeschichte des Fernsehens –, soll insofern ebenso ein Stück weit Rechnung getragen werden. Hinsichtlich der Analyse des Materials, der das Kapitel 4 gewidmet ist, steht diese Studie wie auch andere repräsentationskritische Arbeiten vor dem Problem, ihren Gegenstand zu reproduzieren, d. h. auch rassistische Repräsentationen zu perpetuieren ( Jakobs/Weicker 2011: 205), um darauf aufbauend Kritik zu äußern. Das Dilemma, das sich aus der Reproduktion verletzender Aussagen vs. eine notwendige Darlegung des Untersuchungsgegenstands bzw. ein besseres Textverständnis ergibt, scheint mir hinsichtlich des Unternehmens, Repräsentationen des ORF aus den 1950ern und 1960ern zu analysieren, nicht auflösbar: Wiederholungen sind zur Erschließung der eingesetzten sprachlichen und visuellen Mittel zu einem gewissen Maß unabdinglich. Die Wirkmächtigkeit kolonialer und/ oder rassistischer Darstellungen durch ihre Reproduktion versuche ich indessen dadurch einzuschränken, dass Diskursfragmente und Positionen offengelegt, dekonstruiert und um „kontextuelle und historische Spezifizierungen“ (ebd.) ergänzt werden. Weil sich diese Studie dem Postkolonialen als Analysekategorie verschreibt, nimmt sie auf postkoloniale und/ oder repräsentationskritische Studien Bezug und ergänzt sie zugleich um film- und fernsehwissenschaftliche, literaturwissenschaftliche sowie historiografische, kulturanthropologische und soziologische Überlegungen. Die 16
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inter- und transdisziplinäre Herangehensweise ist bei ähnlich ausgerichteten Forschungsarbeiten üblich: Postkolonialität wird nicht als einheitliches, sich auf einen Kanon stützendes Theoriegebäude verstanden, sondern als eine Haltung, die zum besseren Verständnis von historisch gewachsenen, kontextspezifischen Bedeutungen von kolonialen Weltbildern und Denkmodellen beitragen kann (Reuter/Karentzos 2012: 9 f.; Lutter/Reisenleitner 2002). Während die Studie einerseits also auf postkolonialer, repräsentationskritischer Literatur aufbaut, wird diese andererseits in zwei Punkten ergänzt: Erstens beschäftige ich mich mit bisher wenig erforschten Darstellungen von Dekolonisation. Zur Geschichte und Historiografie der Dekolonisation gibt es zweifelsohne unüberschaubar viele Publikationen – das Forschungsgebiet erlebt seit den 1990er-Jahren auf internationaler Ebene7 sowie im deutschsprachigen Raum8 eine Konjunktur, die Jürgen Osterhammel auf das erstarkende Interesse an der Imperiumsforschung zum Ende der Sowjetunion zurückgeführt hat (Osterhammel 1992: 404 f., zit. n. Kalter 2011: 30). Zu den medialen Repräsentationen von Dekolonisationen bzw. einer „Ikonographie der Dekolonisation“ (Holland et al. 2010) liegen dagegen erst einzelne Studien vor bzw. sind am Entstehen: Kate Marsh beschäftigt sich in ihrer Studie Fictions of 1947 (2007) mit französischen Repräsentationen der indischen Dekolonisation. Das noch nicht beendete Dissertationsvorhaben Robert Stocks hat die Repräsentationen des Dekolonisierungskriegs aus Mosambik und Portugal zum Thema. Der Sammelband Film and the End of Empire (Grieveson/MacCabe 2001) widmet sich auf der Basis einer umfangreichen Datenbank des britischen kolonialen Films (http://colonialfilm.org.uk/) der Frage nach der Rolle, den Formen sowie den Produktions- und Distributionsbedingungen der späten kolonialen Filmproduktionen. The 17
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Iconography of Independence, ein von Robert Holland, Susan Williams und Terry Barringer herausgegebener Band, bearbeitet die Unabhängigkeitstage der britischen Kolonien, führt aber ungeachtet seines Titels weniger in die produzierten Bilder als in die historischen Details, Diskurse und Narrative rund um das ‚end of empire‘ ein. Dennoch sind hier hilfreiche Perspektiven auf die Intentionen der Kolonialmacht zu finden. Zweitens versteht sich die vorliegende Studie als ein Beitrag zum ebenfalls jungen Forschungsgegenstand der Formen und Aspekte österreichischer Partizipation am Kolonialismus bzw. der Prägung Österreichs durch den Kolonialismus. Wesentlich zu einer solchen Beschäftigung beigetragen haben Schwarze9 feministische Theoretiker_ innen und Aktivist_innen, die mit Bezug auf angloamerikanische Konzepte die Eingebundenheit und Verstrickung in rassistische Strukturen, Bedeutungs- und Wissenssysteme der deutschen bzw. österreichischen weißen Mehrheitsgesellschaft aufgezeigt haben.10 Für eine österreichische Auseinandersetzung mit kolonialen Praktiken war u. a. das Ausstellungsprojekt Verborgene Geschichte/n – remapping Mozart im Rahmen des Mozartjahrs 2006 wesentlich, das unter der kuratorischen Leitung von Ljubomir Bratić, Araba Evelyn Johnston-Arthur, Lisl Ponger, Nora Sternfeld und Luisa Ziaja anhand von künstlerisch-wissenschaftlichen Beiträgen auch der Geschichte und Repräsentationen Schwarzer Menschen in Österreich nachging (Unterweger 2016; Bratić et al. 2006). Für diese Studie liegen vier relevante Publikationen vor: Araba Evelyn Johnston-Arthurs Studie beschäftigt sich mit der Konstruktion des M* und der M*11 in mittelalterlichen volkssprachlichen Texten sowie Schwarzen Erfahrungen in Österreich (2004); Vida Bakondy und Renée Winter befassen sich in einer 18
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repräsentationskritischen, medienwissenschaftlichen Pu blikation (2007) mit dem österreichischen ‚Afrika‘-Spielfilm Omaru von 1955; Clemens Pfeffers Aufsatz (2012) beleuchtet Afrika-Repräsentationen im österreichischen Nationalrat zwischen 1955 und 1965 und Walter Sauer legt in Expeditionen ins afrikanische Österreich (2014) einen bis 1960 reichenden Abriss über das Verhältnis Österreichs zu afrikanischen Ländern vor. Zu den Repräsentationen afrikanischer Länder in den Massenmedien jener Zeit gibt es bisher nur eine Publikation: Monika Mokre geht in ihrer quantitativen Studie Die Dritte-Welt-Berichterstattung in kapitalistisch organisierter Presse (1990) der österreichischen Zeitungsberichterstattung am Ende der 1950er- und am Anfang der 1980er-Jahre nach und analysiert diese im Wandel der Zeit. Eine qualitative und/oder repräsentationskritische Analyse der medialen Repräsentationen dieser Zeit gibt es noch nicht, ebenso wenig eine Studie, die sich mit dem Fernsehen beschäftigt.
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