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Bedürfnis

nach Erreichen geordneter wirtschaftlicher Verhältnisse zurückbezahlt werden muss.)

In der Schweiz bezogen 2020 gemäss Bundesamt für Statistik 9,5 Prozent der Bevölkerung Sozialhilfe im Umfang von 8,7 Mrd. Franken1. 9,5 Prozent der Bevölkerung entsprechen 830 000 Menschen.

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Zu den wirtschaftlich Abgestürzten kommen noch die Menschen, die auf diese Situation mit dauerhaften psychischen Krankheiten reagieren und eine Invalidenrente beziehen. Während gemäss Bundesamt für Statistik die Renten wegen Geburtsgebrechen und Unfällen zurückgehen, steigen jene für psychische Krankheiten am stärksten. Von den 247 000 Personen, die 2021 eine Invalidenrente bezogen, litten 106’500 dauerhaft an psychischen Krankheiten.2

Die rein monetäre Rettung der wirtschaftlichen Opfer ist im besten Fall sozialpolitische Flickschusterei und keineswegs nachhaltig. Wenn immer mehr Menschen wirtschaftlich absteigen und die Steuereinnahmen sinken, wird die Umlagerung früher oder später unbezahlbar – wenn sie es nicht jetzt schon ist. Denn übersichtliche Statistiken fehlen; die Sozialhilfe ist in der Schweiz kantonal geregelt und in vielen Fällen den Gemeinden überlassen. Es ist anzunehmen, dass die Sozialhilfe unbezahlbare Schulden der Hilfsempfänger im Umfang von Dutzenden Milliarden vor sich herschiebt. Die Schulden verschwinden erst, wenn die Schuldner sterben, ihre Nachkommen das Erbe ausschlagen und sie definitiv als uneinbringlich aus den Büchern genommen werden müssen.

Das Problem der Menschen in prekären Verhältnissen besteht darin, dass die Gesellschaft kein selbstbestimmtes Leben ausserhalb der normalen Geldkreisläufe zulässt. Ein Leben mit wenig Geld erfordert Mut,

Kreativität, Einschränkung und oft auch das Glück, eine passende, günstige Bleibe zu ergattern. Einen kleinen Flecken zur teilweisen Selbstversorgung zu finden, mit einer einfachen Behausung und Anschluss an die Gesellschaft, ist praktisch unmöglich. Allein die Kosten von Bauland sind so hoch, dass selbst ein Tiny House im Selbstbau nur für voll integrierte Gutverdiener in Frage kommt. Ein Stück Bauland von 300 m2 – solche Restparzellen sind rar – kostet locker 200 000 Franken. Die Sehnsucht nach einem einfachen, selbstbestimmten Leben ist gross. Aber Wohnraum ist in der Schweiz rund doppelt so teuer wie im EU­Durchschnitt.3 Und es fehlen gemäss Berechnungen der Sonntags­Zeitung rund 20 000 Wohnungen in der Schweiz. In den 1970er und 80er Jahren richteten sich viele Rentnerinnen und Rentner auf Dauercampingplätzen häuslich ein, samt Chalet­artigen Vorbauten und Gartenzwergen.

Das Dauercamping wird jedoch nicht gern gesehen. «Die Gemeinden wollen keine Trailerparks für Randständige und Alkoholiker», sagt Oliver Grützner, Leiter Tourismus und Freizeit beim Touring Club Schweiz in einem Beitrag von swissinfo. «Sie verschärfen die Auflagen oder verbieten Dauercamping.»4 Aber es sind weniger Randständige, die sich kleine Behausungen wünschen, sondern vielmehr Menschen, die mit kleinerem Fussabdruck ein sinnvolleres Leben erstreben.

Das Bedürfnis nach einem Tiny House ist mit Corona und der Energiekrise «extrem gestiegen», sagt Deborah Wanner, Leiterin der Geschäftsstelle des «Vereins Kleinwohnformen Schweiz». Die grösste Knacknuss sei das Bauland. Für Kleinhäuser kommen eher Restparzellen in Frage; aber die sind selten und oft nicht wirklich attraktiv. Addiert man das Bauland zu den Kosten eines konventionell geplanten und gebauten Tiny Houses, nähert man sich rasch dem normalen Einfamilienhaus, das man eben gerade nicht will. Auch die Energievorschriften sind gemäss Deborah Wanner ein kostentreibendes Hindernis. Kleine Häuschen, für einen spar­

Das einfache Leben ist eine schwierige Angelegenheit.

William Cowper (1731 -

1800)

Phantasie ist wichtiger als Wissen. Denn Wissen ist begrenzt.

Albert Einstein

samen Lebensstil gebaut, müssen dieselben Standards erfüllen wie energiefressende grössere Häuser.

Die Szene konzentriert sich deshalb auf mobile Behausungen, für die temporäre Stellplätze genügen. Auf der «Kleinwohnformen­Karte» des Vereins sind zehn Stellplätze im Angebot, aber nur ein einziges Grundstück.

Aber es gibt – oder es gäbe – eine Lösung: Eine Siedlung für Menschen mit viel Zeit und wenig Geld. Stellen Sie sich ein Mittelding zwischen einem grosszügigen Schrebergarten und einem permanenten Campingplatz vor, mit kleinen, selbst gebauten Häusern und einem zentralen Versorgungsgebäude mit grosser Küche, Essund Versammlungsraum, Waschküche, Werkstatt, vielleicht einer Kita und anderen gemeinschaftlich nutzbaren Räumen.

Die Häuschen sind möglichst autark, sammeln das Regenwasser, ernten Sonnenstrom und haben einen kleinen Garten. Sie stehen auf Punktfundamenten und können bei Bedarf rückstandslos zurückgebaut werden. Die Siedlung wird von den Nutzern selbst betrieben, allenfalls gemeinsam mit der Standortgemeinde als Bewilligungsgeber oder einer Finanzierungsinstitution.

Das erste Problem, das solche Siedlungen überwinden müssen, sind die Kosten des Baulandes. Idealerweise errichtet die Standortgemeinde am Rand der Bauzone auf Landwirtschaftsland eine Sonderbauzone. Gerechtfertigt wäre dies durch die Rückbaubarkeit und einen hohen Selbstversorgungsgrad. In Frage kommt auch ungenutztes Bauland, für das weder eine Bauherrschaft noch ein Projekt besteht.

Geht man von einem Platzbedarf für ein Häuschen von 100 m2 inkl. Umschwung aus, erfordert eine Siedlung für 50 Häuschen und einem Anteil allgemeiner Flächen für Wege, Plätze und Zentralbau von 50 Prozent ein Grundstück von 10 000 m2 . Das kostet bei einem Preis von durchschnittlich sechs Franken pro Quadratmeter Landwirtschaftsland5 60 000 Franken und einen jährlichen Pachtzins von 5 Prozent, 3000 Franken oder 60 Franken pro Partei und Jahr – unverschämt günstig – und in der Schweiz kaum zu realisieren.

Wird die Siedlung auf Bauland erstellt, das in ländlichen Regionen bei 300 Franken pro m2 kostet, präsentiert sich die Rechnung wie folgt:

Wert des Grundstücks: 3 Mio. Franken.

Baurechtszins 5 Prozent: 150 000 Franken pro Jahr pro Partei: 3000 Franken, 250 pro Monat.

In einer attraktiveren Region kostet das Bauland einiges mehr. Im Kanton Aargau liegt der mittlere Quadratmeterpreis für Bauland bei 950 Franken. Wert des Grundstücks: 9,5 Mio. Franken zwischennutzunggaertnerei.ch

Das aktuell interessanteste Projekt der Schweiz befindet sich als Zwischennutzung für sechs Jahre auf dem Areal einer Gärtnerei in Altstätten/SG. Der Vorstand (im Bild links) hat mit dem grosszügigen Grundbesitzer und der kulanten Gemeinde gut verhandelt. 30 Projekte befinden sich auf dem autofreien Gelände von 4300 m2 (drei davon unten im Bild). 15 Leute wohnen, neun arbeiten dort und im Sommer kommen viele Altstätter ins Gartencafé. Das Projekt startete 2018, bereits wird nach einem Gelände für die Fortsetzung gesucht. Am 17. Februar bringt SRF in der Sendung «ding-dong» eine Reportage.

Baurechtszins: 475 000 Franken pro Jahr

Pro Partei: 9500 Franken, 792 pro Monat.

An dieser Stelle erkennt man die enorme Wirkung der Bodenpreise, die heute bei Einfamilienhäusern gut und gerne die Hälfte der Anlagekosten ausmachen. In den 1960er Jahren waren es noch rund 20 Prozent.

Die nächste Position sind die allgemeinen Kosten. Dazu gehört die Erschliessung für Wasser, Abwasser und Strom. Es gibt praktikable Modelle für autarke Häuschen. Aber sie erfordern einen frugalen Lebensstil und die Überbrückung von Situationen des Wassermangels, die nicht jedermanns Sache sind, selbst wenn man sich zum Ziel gesetzt hat, mit wenig auszukommen. Zudem ist die Pflanzenklärung von Abwasser rechtlich nicht geklärt. Also wird die Erschliessung für Wasser und Abwasser der Normalfall sein, was das Prinzip der Rückbaubarkeit angesichts der verlegten Rohre etwas erschwert. Insgesamt dürften die Erschliessungskosten 5000 Franken pro Häuschen und 20 000 für den Zentralbau nicht übersteigen.

Zu den allgemeinen Kosten ist auch der Zentralbau mit den Versorgungsleistungen zu schlagen. Seine Dimension hängt natürlich von den Bedürfnissen der Bewohner ab. In der einfachen Variante gehören eine grosse Küche, ein Versammlungsraum, eine Waschküche und Werkstätten dazu. In luxuriöseren Ausführungen kann man sich noch eine Kita, eine Bibliothek (ein Wohnzimmer für alle), eine Sauna, Ateliers oder einen Co­Workingspace dazudenken. Kosten in der Schweiz: zwei bis vier Mio. Franken. Mit 5 Prozent verzinst ergibt dies pro Partei 2000 bis 4000 Franken jährlich oder 166 bis 332 monatlich.

Ebenfalls zu den allgemeinen Kosten gehören die Betreuung und

Ist das sinnvoll? Diese vorfabrizierte Tiny House-Siedlung in den Niederlanden greift das Bedürfnis nach kleinen Wohnformen auf, verspielt aber das kreative Potenzial. Hier bleibt man nicht, man findet höchstens temporären Unterschlupf. (Bild: shutterstock)

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