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«Wir werden das Angebot ablehnen»
Wie wir eine Offerte erhielten, die wir nicht ablehnen durften, wie ein 50-jähriger Kaugummi schmeckt und wie ich aus schöngeistigen Höhen in der Wirklichkeit landete. «Als ich mich in die Welt verliebte. – Chronik einer Leidenschaft» #38 von Nicolas Lindt.
Der Höhenflug unseres literarischen Strassenmagazins «Manuskript» setzte sich fort. Nur ein Jahr nach der ersten Nummer verkauften wir bereits 1000 Stück und erhöhten den Preis für die Einzelnummer auf einen Franken. Unsere so erfrischend dilettantisch gemachte, mit Bostichklammern zusammengehaltene Zeitschrift stand im Begriff, einen ernstzunehmenden Platz in der jungen Schweizer Literaturszene einzunehmen. Und dann kam das Angebot.
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Am 17. Januar 1971 schrieb ich – siebzehn Jahre alt –ins Tagebuch: «Der Diogenes Verlag machte uns die Offerte, das Manuskript in seinem Verlag herauszugeben.» Der DiogenesVerlag, das noch junge Verlagshaus, das aber damals schon grosse Namen wie Alfred Andersch, Patricia Highsmith, Loriot sowie Tomi Ungerer zu seinen Autoren zählte, wollte tatsächlich unser Heft übernehmen. Wer hätte da Nein sagen können?
Wir sagten Nein. «Da unsere Unabhängigkeit unter einer solchen Übernahme zu stark leiden würde», notierte ich, «werden wir das Angebot wahrscheinlich ablehnen.» Hätten wir Ja gesagt – wie hätte sich mein Lebensweg dann entwickelt? Hätte ich die Schule geschmissen? Hätte ich unser Blättchen mit Elias zusammen zu einer literarischen Hochglanzpostille perfektioniert? Oder hätte der DiogenesVerlag über kurz oder lang erwachsene Redaktoren an unsere Stelle gesetzt?
Jedenfalls liess uns der grosse Verlagsname unbeeindruckt. Unser literarisches Kind, das uns half, die letzte zermürbende Runde der Schulzeit zu überstehen, wollten wir nicht aus den Händen geben.
Immer neue Ideen und Experimente fanden Eingang ins Heft. Die Nummer 9 beispielsweise enthielt nicht nur erstmals eine Fotocollage, sondern auch – einen Kaugummi. Um die Lektüre schmackhafter zu gestalten, fragten wir mit Erfolg bei der Migros an, ob sie uns 1000 Kaugummis stiften würde, und in einer nächtlichen Fleissarbeit klebten wir dann, «presented freely by Migros», in jedes einzelne Exemplar einen echten amerikanischen Peppermint Chewing Gum.
Neugierig, ob ein Kaugummi ein halbes Jahrhundert später noch essbar ist, habe ich ihn heute aus der Packung gezogen. Nichts hat sich geändert. Er sieht noch genau so farblos und flach aus, wie Kaugummis eben aussehen. Ich brach ein Stück davon ab, schob es in den Mund und begann zu kauen. Das Kaugummistück zerbröckelte in kleine Teile, doch je mehr ich sie kaute, desto mehr formten sie sich zu jener gummigen Masse, die den Sinn eines Kaugummis ausmacht. Sogar das Aro
In jedem Heft neue Einfälle: «manuskript»
Nummer 9 mit Kaugummi.