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«Niemand kann uns canceln»

Aber:

Jedes Programm der Kabarettisten Sibylle und Michael Birkenmeier wird erlitten.

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Satire und Kabarett leben von der Übertreibung.

Sie verlängern eine scheinbar normale Situation der Gegenwart in eine absurde Zukunft und legen damit ihren Kern offen. Jetzt ist die Gegenwart schon so absurd, dass man sie fast nicht übertreiben kann?

Wie geht Ihr damit um?

Michael Birkenmeier: Die Übertreibung ist ja nur ein Mittel des Kabaretts. Im Moment liegt der Kern überall bloss. Die Herrschenden stehen sozusagen mit heruntergelassenen Hosen im Schaufenster. Alles Verborgene ist sichtbar. Das Ungeheuerliche ist Alltag, soll aber nicht als das, was es ist, gesehen werden.

Diese Neuauflage von des «Kaisers neue Kleider» ist so abgründig komisch wie abgrundtief tragisch. Mit beiden Aspekten arbeiten wir im Kabarett. Das eine geht nicht ohne das andere.

Andererseits: Jetzt, wo das Schräge total überhand nimmt, ist es uns ein Bedürfnis, immer wieder da und dort einen graden, klaren Gedanken hinzusetzen. Das sehen wir als eine eminent wichtige Aufgabe im Kabarett.

Sibylle Birkenmeier: Jedes Programm hat seine eigene Bewegungsart, durch die es gelingt, aus einer gemeinsamen Gegenwart heraus Kabarett zu machen. Die Frage heisst immer: Was inspiriert uns? Was ärgert, drückt, wirkt offensichtlich scheinheilig und unverschämt, unfrei machend, ist eine Zumutung in unseren Lebensbedingungen? Kurz, wo drückt der Schuh?

Nun kann man kabarettistisch herrummeckern – das mögen die meisten. Man kann auch schrecklich schimpfen – auch das mögen viele. Man kann sich moralisch aufplustern und von der Bühne herunter belehren, meistens aus gut gemeinter Fantasielosigkeit. Oder gar nix wollen und nur Unsinn verzapfen. Solches Kabarett oder Comedy gibt’s immer und überall. Das ist jetzt gefragt.

Wir tun alles, um nicht in diese Fallen zu tappen. Was uns mehr interessiert, ist, die schrecklichen Dinge in unserer Welt profund zu verstehen. Das fordert uns und dauert. Es ist eine bewegte emotionale Reise. Messerscharfe Gespräche folgen. Wir beide sind jeweils aus ganz anderem Stoff gemacht, obwohl aus einer Familie stammend. Streit ist in dieser Orientierungsarbeit nie ausgeschlossen. Und plötzlich tut sich zwischen uns ein gemeinsames Land auf, in dem wir beide ganz frei unterwegs sein können. Wir öffnen einander dann die Augen, schenken uns Gedanken, auf die wir selber nie gekommen wären. Erst jetzt ist der Boden da für die Kunst der Versprachlichung. Jetzt ziehen wir uns ganz körperlich das Stück an. Jetzt stellt sich eine Art «Erleiden» ein. Wir erleiden immer in jedem neuen Programm die schmerzhaften Seiten, die mit den jeweiligen Inhalten und Rollen verbunden sind, an uns selber. Dieser Preis ist jedes Mal zu bezahlen. Das ist der Boden, auf dem wir immer neu zu den Inhalten kommen, die unsere Programme ausmachen.

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