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Auf der Suche nach dem tieferen Anker

Ein Reisebericht durch Ökodörfer, Gemeinschaften, Kommunen

Von Christa Dregger

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Der Mensch ist ein Gemeinschaftswesen. Allein war er den Herausforderungen nicht gewachsen. Doch im Laufe der Geschichte erodierten die ursprünglichen Stämme, Sippen und Grossfamilien zum digitalisierten Singlehaushalt: dem modernen Untertan im Kapitalismus. Gegenbewegungen gab es immer wieder: Klöster, Kolchosen, Kibbutzim – und in den letzten Jahrzehnten Kommunen, Ökodörfer, Friedensdörfer, Co-Housing und Mehrgenerationenhäuser.

Gemeinschaft – also Beziehung, Vertrauen, und gegenseitige Hilfe – würde uns auch heute helfen, Herausforderungen besser zu begegnen. Nachhaltige Siedlungen, sicherer Freiraum für Kinder, menschliche Vielfalt: Zusammen geht vieles besser. «Neue Dörfer» und Gemeinschaften haben weltweit Erstaunliches bewirkt. Und doch scheitern sie oft, meist an inneren Konflikten. Wo steht die Gemeinschaftsbewegung – was haben wir gelernt – was müssen wir noch lernen?

Unsere Autorin besuchte oder lebte in über 100 Gemeinschaften und Ökodörfern in vier Kontinenten. Ein paar Schlüsselsituationen ihrer Reise.

August 2022: Sonntag, Mitternacht in einem kleinen Dorf in Unterfranken: Das Klosterportal öffnet sich, eine Frau mit Rollkoffer kommt heraus. Sie rumpelt damit über den Acker, hält an einem von Gebüsch umgebenen Feuerlöschteich, rollt einen Schlafsack aus und sinkt sofort in tiefen Schlaf. Morgen früh wird sie ins nächste Dorf wandern, in der Bäckerei einen Kaffee trinken, in den ersten Bus steigen und so einen Lebensabschnitt beenden. Diese Frau bin ich – vor wenigen Monaten beim Auszug aus meiner letzten Gemeinschaft. Was ist passiert?

Ich bin auf einer Reise. Eine Reise von inzwischen 40 Jahren. Viele –in den letzten Jahren sogar signifikant mehr – sind mit mir auf dieser Reise: Es ist die Suche nach Gemeinschaft. Oh nein, wir haben nicht nur gesucht. Wir haben auch gefunden, und nicht nur das. Wir haben Unglaubliches geschaffen, uns aufeinander eingelassen, den Main­ stream verlassen und Akupunkturpunkte jener anderen Welt aufgebaut, von denen Aktivisten immer behaupteten, es gäbe sie.

Wir sind gemeinsam über uns hinausgewachsen, haben Friedensprozesse begleitet, Regionen wiederbelebt, Konflikte beispielhaft gelöst, Generationen verbunden, autarke Versorgung in Energie, Lebensmitteln, Wasser verwirklicht, Lehm­Stroh­ und Null­Energie­Häuser gebaut, freie Schulen gegründet, uns international vernetzt.

Wir wurden von Bürgermeistern umworben, von Sektenpfarrern verleumdet, von Fernsehteams interviewt, von Nachbarn misstrauisch beäugt – und ganz allmählich akzeptiert. Wir haben viel investiert: Lebenszeit, Wissen, Enthusiasmus und Geld.

Alles, was gelungen ist, hatte mit Vertrauen zu tun. Alles, was wir verloren haben, auch. Viele, die miteinander begeistert starten, fragen sich später: Wie können sich die Menschen, mit denen wir einmal alles gewagt haben, so verändern? Wie können sie sich als so hirnverbrannt, machtgierig und egoistisch erweisen?

Antwort: Sie waren es schon immer. Jeder echte Gemeinschaftsprozess bringt früher oder später alle Licht­ und Schattenseiten der Beteiligten zum Vorschein. Meistens zuerst die Licht­, dann die Schattenseiten. Wenn eine Gemeinschaft dann zusammen bleibt und einen tieferen Anker findet, hat sie die Chance, etwas wirklich Neues zu gebären. Das ist das, was mich interessiert: der tiefere Anker.

Manchmal muss man aber auch einen Schlussstrich ziehen. Meine letzte Gemeinschaft («Go&Change» zwischen Würzburg und Schweinfurt) habe ich sehr plötzlich verlassen. Ich sah keine andere Möglichkeit mehr, meine seelische Gesundheit zu erhalten. Ich habe dort intensives Zusammensein erlebt, grosse Nähe unter Menschen, enorme Aufbruchskraft, Liebe. Doch mehr noch habe ich erlebt, wohin es führt, wenn man kollektiv Verantwortung abgibt: zu Gruppendruck, gegenseitiger Verurteilung, Guru­Verehrung und Selbstaufop­

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