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Können wir uns sehen lassen?

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Zur Bedeutung des Wundersamen im Anthropozän

Gefühlte Wunder geschehen, indem sie unsere alltägliche Erfahrung und die damit verbundenen Erwartungen mächtig durchbrechen, und zwar, wie der alltägliche Sprachgebrauch nahelegt, auf verschiedene Weisen: Das Wundervolle als Steigerungsform des Wunderbaren ist so viel reicher als unsere alltägliche Erfahrung, dass es all unsere Erwartungen übertrumpft und dadurch unsere Bewunderung heischt. Das Wunderliche dagegen bleibt so weit hinter unserer alltäglichen Erfahrung zurück und ist zugleich so eigenartig, dass es unsere Erwartungen auf eine beschämende und zugleich irritierende Weise enttäuscht. Das Wunderliche verwundert uns. Zwischen dem Wundervollen und dem Wunderlichen schwebt nicht nur alphabetisch das Wundersame. Auch das Wundersame durchbricht unsere alltägliche Erfahrung unerwartet mächtig, aber wir wissen nicht genau, wie das geschieht und was uns da geschieht; wir haben es nicht erwartet und es ist uns nicht klar, ob und wie wir es in unsere bisherigen Erwartungen einordnen können. So lädt es uns dazu ein, es und damit auch uns selbst besser kennenzulernen.

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Zwischen dem Wundervollen und dem Wunderlichen liegt oft nur ein Schritt, etwa aus dem Moonwalk heraus auf eine Balkonbrüstung, und in der Mitte dieses Schrittes ist offenbar das Wundersame situiert. Für den Zustand, den das Wundersame provoziert, müsste es daher „Wunderung“ als ein neutrales Wort zwischen „Bewunderung“ und „Verwunderung“ geben; sagen wir lieber: Sich-Wundern.

Wie andere Erfahrungskategorien, so liegen das Wundervolle, Wundersame und Wunderliche immer auch im Auge der betrachtenden Instanz. Sie unterscheiden sich nämlich anhand dieser Frage: Kann es sich sehen lassen?2 Das Wundervolle kann sich uneingeschränkt sehen lassen; wir freuen uns, wenn es sich sehen lässt; und wer sich selbst als wundervoll empfindet, mag alles daransetzen, sich möglichst ausgiebig sehen zu lassen. Das Wunderliche kann sich demgegenüber nicht sehen lassen, da sein Anblick stört; wenn sich Wunderliches nichtsdestotrotz sehen lässt, vielleicht sogar sehen lassen will, dann steigert dies seine Wunderlichkeit nur noch – Beispiele gefallener Stars, die Popularität durch bizarres Auftreten wiederzugewinnen suchen, dürften allgemein geläufig sein.

Auch hier hält sich das Wundersame in der Mitte: Es lässt sich sehen mit dem ihm und uns eigenen je ne sais quoi (S. Voigt 2012) – wir wissen nicht, was soll das bedeuten, gerade weil es am Kipppunkt zwischen dem Wundervollen und dem Wunderlichen steht, und da wir es nicht wissen, wissen wir auch nicht, ob wir hinschauen sollten oder nicht – und daher schauen wir selbstverständlich erst recht hin. Das Wundersame erweist sich so als ein erfahrbares, weltliches Mysterium, von dem es noch nicht klar ist, ob es uns faszinieren oder erzittern lassen wird (Otto 2004).

Diese Erfahrungskategorien lassen sich auch auf das Anthropozän anwenden, also auf das nach verbreiteter Überzeugung herrschende geologische Zeitalter, in dem das Erdsystem markant von menschlichen Einwirkungen geprägt ist (Heichele 2020). Diese menschlichen Einwirkungen verdanken sich nicht zuletzt dem Zuwachs unserer wissenschaftlichen und technischen Fähigkeiten, die es uns auch ermöglicht haben, das Erdsystem auf verschiedenen Ebenen auf neue Weise zu betrachten. Dabei zeigt sich die Erde vor einem kalten, dunklen, leblosen Hintergrund als die berühmte „blaue Murmel“, die auf ihrer Oberfläche ein im bekannten Universum einzigartiges chemisches Ungleichgewicht erhält, was sich als Leistung eines planetenumspannenden Superorganismus auffassen lässt, der den Namen „Gaia“ erhalten hat (Lovelock 2016). Das durch Disziplinen wie Mikrobiologie und Ökologie erschlossene Zusammenwirken unterschiedlichster Organismen und ihrer Umwelten, in und vielleicht auch über dem Gaia besteht, durchbricht die herkömmlichen Erwartungen rein mechanischer Zusammenhänge. Dies lässt sich als Ausdruck einer unverdienten und in ihrer Erfahrung erhebenden, befreienden Anmut erfahren, für die es im Englischen den Ausdruck grace gibt (Bateson 1972; ders. 1979). Hier bewegen wir uns offenbar in der Erfahrungskategorie des Wundervollen.

1 Dies beruht in leichter Kompression auf dem Wunderbegriff, der seit David Hume der neueren Debatte zugrunde liegt (Basinger/Basinger 1986). In vorliegendem Beitrag geht es nicht um den nach wie vor strittigen Punkt, ob derartige Wunder möglich sind, sondern um die ästhetische Erfahrung dessen, was als ein Wunder erscheinen kann – also von „gefühlten“ Wundern.

2 Zum „Sehen-Lassen“ als einer ästhetischen Praxis vgl. Wiesing (2013).

Eben die wissenschaftlichen und technischen Fähigkeiten, die es uns ermöglichen, das wundervolle Erdsystem auf eine neue Weise zu erfassen, benutzen wir allerdings auch dazu, es auf eine Art zu beeinflussen, die sich bei distanzierter Betrachtung als wunderlich darstellen könnte. Zwar versprach uns das neuzeitliche Fortschrittsdenken von der maximalen Ausübung jener Fähigkeiten die Herrschaft über die Natur (Böhme 1993), doch was kam, war das Anthropozän mit seinen „Golden Spikes“, exponentiell in die Höhe schnellenden Werten von menschlichen Einflüssen auf unsere Umwelt (Renn/Scherer 22015). Wie wir heute wissen, gefährden diese Einflüsse das empfindliche Ungleichgewicht auf diesem Planeten und führen zu immer extremeren Zuständen, denen zahlreiche Lebewesen, eventuell auch wir selbst, nicht mehr hinreichend angepasst sind. Wer erwartet hätte, dass eine so fähige Spezies ihre eigenen Lebensgrundlagen und diejenigen vieler anderer Wesen bewahren oder zumindest nicht in hohem Grad gefährden würde, müsste sich angesichts dessen verwundern. Wären wir es selbst, die so etwas hilflos aus der Entfernung beobachteten, so ließe es sich leicht vorstellen, dass wir uns entsetzt abwendeten oder dieser Katastrophe nur widerwillig zuschauten. Nun erleben wir all dies inmitten des Anthropozäns. Wenn uns dabei unsere eigene Wunderlichkeit nicht überwältigt, so mag dies daran liegen, dass ihre Manifestationen in ihrer Gesamtheit als „Hyperobjekte“ (Morton 2013) jenseits unserer unmittelbaren Wahrnehmungsfähigkeit liegen. Es mag auch damit zu tun haben, dass wir uns an die bizarren Nebenfolgen unseres Handelns gewöhnen und aufgrund weiterer Gewöhnungseffekte selbst diesen Umstand vergessen (MacKinnon 2013). Auch mögen wir uns inmitten einer technisch scheinbar zu unseren eigenen Zwecken überformten – und gerade dadurch destabilisierten – Umwelt vom trügerischen Gefühl menschlicher Überlegenheit hinreißen lassen (U. Voigt 2018). Sobald wir die Auswirkungen jener Umstände am eigenen Leib erfahren, merken wir allerdings, dass die Falltiefe vom Wunderlichen zum Schrecklichen nicht allzu groß ist (Dufresnse 2019). Auf Nietzsches letzte Menschen, die sich die Erde als ein behagliches und scheinbar sicheres Haus eingerichtet haben, könnten die allerletzten Menschen folgen, die miterleben müssen, wie dieses Haus im Vollbrand zusammenstürzt. Wenn vom Zaun dieses schon glimmenden Hauses nach wie vor Kriege gebrochen werden, so empfinden das die dafür verantwortlichen Häupter offenbar selbst als so wunderlich, dass sie ihrem Unterfangen lieber gleich andere Namen geben.

An dieser Stelle könnte der Einwand erfolgen: All das mag ästhetisch unangenehm sein – aber ist es nicht vorrangig, diese Vorgänge technisch unter Kontrolle zu bringen, etwa durch global angewandte Ingenieurskunst (Lovelock 2019; kritisch dazu Rathmann/Voigt 2021), gegebenenfalls abgesichert von neuen politischen wie militärischen Architekturen? Darauf lässt sich antworten: Das träfe zu, wenn Menschen einfach so funktionieren würden. Dann könnten wir ohne Rücksicht auf ihr ästhetisches Empfinden technische Lösungen suchen und implementieren. Doch funktionieren Menschen nicht „einfach so“; wenn sie handeln, dann deshalb, weil ihnen etwas und weil sie sich selbst und untereinander etwas bedeuten. Und in diese Motivation ist ästhetische Erfahrung untrennbar verstrickt, weil sie das Erleben von Bedeutsamkeit vermittelt (S. Voigt 2021).

Um das Wundervolle auf diesem Planeten vor unserer Wunderlichkeit zu retten, brauchen wir daher immer auch – das Wundersame in der Gestalt, von der diese Publikation handelt: als Erfahrungen, die wir auf neuen Wegen machen können, die uns zu einer unerwarteten, unerschöpflich reichhaltigen und zu neuen Ausdrucksweisen inspirierende Resonanz mit unserer Umwelt führen können; die uns dazu veranlassen können, diese Umwelt und auch uns selbst als darin eingebettet auf eine nachhaltige, sie und uns selbst erhaltende Weise zu behandeln. Wenn dies glückt, dann können wir uns selbst im Anthropozän vor Beobachtern, die wir auf diesen wundersamen Wegen für uns selbst sind – allerdings nicht länger auf distanzierte, sondern auf engagierte Weise – durchaus sehen lassen.

Uwe Voigt

Literaturhinweise

• Basinger, David / Basinger, Randall (1986): Philosophy and Miracles: The Contemporary Debate, Lewiston • Bateson, Gregory (1972): Steps to an Ecology of Mind, San Francisco-New York • — (1979): Mind and Nature: A Necessary Unity, New York • Böhme, Gernot (1993): Am Ende des Baconschen Zeitalters. Studien zur Wissenschaftsentwicklung, Frankfurt am Main • Dufresne, Todd (2019): The Democracy of Suffering. Life on the Edge of Catastrophe, Philosophy in the Anthropocene, Montreal

• Heichele, Thomas, Hg. (2020): Mensch – Natur – Technik. Philosophie für das Anthropozän, Münster • Lovelock, James (2016): Gaia. A New Look at Life on Earth, Oxford • — (2019): Novacene. The Coming Age of Hyperintelligence, London • McKinnon, J.B. (2013): The Once and Future World. Nature as it was, as it is, and as it could be, Toronto • Morton, Timothy (2013): Hyperobjects. Philosophy and Ecology after the End of the World, Minneapolis-London • Otto, Rudolf (2004): Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, München • Renn, Jürgen / Scherer, Bernd, Hgg. (22015): Das Anthropozän. Zum Stand der Dinge, Berlin • Voigt, Stefanie (2012): „Unsagbar, interessant und zentral – Über die Kunst, Geheimnisvolles zu umschreiben, oder: Das nescio quid“, in: dies., Cultura. Sieben kulturwissenschaftliche Aufsätze über sieben verborgene Künste, Berlin 2012, S. 19-33 • — (2021): Angewandte Ästhetik für Einsteiger. Über „Smart Humanities“ und den neuen (oder alten) Anspruch an die Führung der Industrie von morgen, Deggendorf • Voigt, Uwe (2018): „Inside the Anthropocene“, in: Analecta Hermeneutica (10), online unter: https://journals.library.mun.ca/ojs/index.php/analecta/article/view/2057 • Voigt, Uwe / Rathmann, Joachim, Hgg. (2021): Natürliche und Künstliche Intelligenz im Anthropozän, Darmstadt • Wiesing, Lambert (2013): Sehen lassen. Die Praxis des Zeigens, Frankfurt am Main

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