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Landschaflicher Seinszustand der Sprache

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Lese-Anregungen

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Landschaftlicher Seinszustand der Sprache

Eine Erzählung zur Entstehung der Klangschrift

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So wird es wohl einmal gewesen sein: Es erschien eine Fee und sprach: »Eine Frau wird kommen, die in ungehörten Klängen spricht und singt. Schon als Mädchen wird sie viel über die Natur nachdenken, Geschichten darüber erfinden, mit beiden Händen schreiben wollen, den Geschöpfen der Natur gemalte Bilder vorspielen und viele Fragen stellen und Antworten finden.«

Inmitten musikalischer Projekte und Aufführungen mit auch deutschsprachiger Lyrik-Vertonung, klassisch angehauchten Jazzimprovisationen und freier Liedformen tauchte für mich solch feenhaftes Umblättern unerwartet unvermittelt auf. Als Stimmkünstlerin wurde es mir im progressiven und doch gewohnten Musikraum bald zu eng und ich begann in einer Sprache zu singen, zu klingen und zu erzählen, die unerkannt erschien, mir aber von irgendwoher sehr vertraut war. Eine faszinierende Klangwelt mit interpretatorischen Qualitäten tat sich auf, die bis heute Strukturen und Räume schafft – gleichermaßen Musik, Geste und Bild. Ein bewegender Gesang, die Musik kann reden und manch Zuhörer*in hat den Eindruck, sie sogar sehen zu können. In musikalischen, klanglichen und phonetischen Improvisationen werden beide Ufer des Geschehens Leben begegnet Leben augenblicklich wahrgenommen und in klangliche Ereignisse übersetzt.

Dazu die malerische Umsetzung. In Verbindung mit Natur- und Tierbeobachtungen entstand die freie Klangschrift samt Sprach- und Bewegungsstudien und -formen. Als Sängerin, die auch Malerei studierte, musizierte ich mit dem Pinsel, entwickelte freie Kompositionen, leitete Klangbilder aus Vogelflügen ab, zeichnete Wortlandschaften und neumenhaft anmutende Klangschriften, die auch als Regieanweisungen für Suchende gelesen werden können. Ich erkundete neue Wege des Ausdrucks und wechselte wie beim Gesang Perspektiven. Mein Blick ging über das lineare Denken hinaus. Eine alphabetisierte Klangschrift entstand, mit Lese- und Schreibweise von rechts nach links. Die Schrift erhielt auf diese Weise Raum und der ursprüngliche, landschaftliche Seinszustand der Sprache kam zum Ausdruck. Die Körperhaftigkeit der Sprache wurde sichtbar.

Die Klangschrift ist bis heute ein Work-in-Progress – ein sanftes, langsames Voranschreiten und Betrachten eines Entwicklungsprozesses der Einfachheit, des Entstehens und Gewahrens. Wie den Gesang setzte ich Klangschrift in freiem Ausdruck vielfältig um: als bildnerisches Mittel bei szenischen Ausdrucksformen und Installationen, als Notation für Sprachformen, Bewegungsbilder und Gesang, als musikalische Instrumentenübersetzung, als Geräusche und choreographisch als großformatige Bewegungs-Bodenbilder auf der Bühne.

Dies alles galt und gilt es zu entdecken und für gemeinsames kreatives Entwickeln fruchtbar werden zu lassen. MIt der Wirkstatt und dem Begegnungsraum Der Goldene SchRitt* werden improvisatorische, naturverbundene Ausdrucks- und Sichtweisen mit interdisziplinärer Kunst und Naturpädagogik kombiniert. Die Wirkstatt ist Treffpunkt, Forschungs- und Entwicklungsort bildnerischer, sprachlicher, musikalischer und experimenteller Ausdrucksweisen. Hier entstehen langfristig angelegte Netzwerke, Konzepte und Projekte wie ein multiperspektivischer Chor, naturpädagogische Exkursionen und Betrachtungsweisen der Stille.

Dieser Andersweg ist für mich eine Rückbindung an unsere Heimat Erde, die in einer vergessenen und unerhörten Sprache zu uns spricht. Dieser Sprache schenke ich in Ehrfurcht vor der Schöpfung mein Gehör und meine Stimme. In der Begegnung mit der Natur, der Kunst, dem Menschen und dem Wunder wagen sich viele Möglichkeiten heraus. Lasst uns gemeinsam die Klänge und Wege der Weltgeschöpfe hüten und pflegen.

Barbara Kastura

* Als Goldener Schnitt (lateinisch: secio aurea, proportio divina) wird das Teilungsverhältnis einer Strecke oder anderen Größen bezeichnet, bei dem das Verhältnis des Ganzen zu seinem größeren Teil (auch Major genannt) dem Verhältnis des größerem zum kleineren Teil (dem Minor) gleich ist. Der Goldene SchRitt ist eine kasturaesk´sche Wortschöpfung, die in Abgrenzung zur rational-mathematischen und auch ästhetischen Formulierung von Proportionen eine intuitive und leiblich-performative Arbeitsweise der Künstlerin andeutet – nämlich die Prozesse und Sprachen der Natur wahrzunehmen und durch Sprache, Klang, Bild und Bewegung zu würdigen. Das Bewegen aus der Stille und Briefe an meine Heimat.

Die Gewahrsamsknospe öffnet sich

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